20 Minuten Musik...



T
ief in den Süden und Osten Tschechiens führt mich meine Radlei im Sommer 2017. Den Norden Böhmens kenne ich von meinen Tages- und Wochenendtouren, den Westen mit Böhmerwald und Biosphärenreservat Šumava vom Moldau-Radweg. Diesmal will ich in den Südosten Tschechiens vordringen, um von dort das Slowakische Paradies im Nationalpark Niedere Tatra anzuvisieren... Auch das kenne ich bereits - im letzten Mauersommer, 1989, war ich einmal dort. Das Ukulele-Reisebüro ist also über die landschaftlichen Reize dieser Länder bereits im Bilde und hat sich bisweilen schon mit der Mentalität des Ostens vertraut gemacht - man könnte sagen, dass mich nach drei Jahrzehnten in eher entgegengesetzten Richtungen auch einige ostalgische Motive leiten...



Wie der Radler sich bettet
so schläft der Ukulele-Lehrer

Es gibt allerdings wesentlichere Gründe für die Wahl meines Reiseziels: Nach einem sehr nassen Sommer in Irland (2015) und einem recht kühlen in Island (2016) möchte ich einfach mal in trockeneren und wärmeren Gefilden pedalieren. Das Ukulele-Reisebüro weiß desweiteren, dass die Unterkunfts- und Verköstigungskosten im einstigen Ostblock teils deutlich günstiger sind - nur zu gut erinnere ich mich, wie sich meine Reisebudget im skandinavischen Island bereits auf halber Strecke zu erschöpfen begann - und das in Unterkünften, die den Charm eines Asylbewerberlagers hatten... Was ich aber noch unterschätze: Auch in der von Massenzuwanderung verschonten Tschechischen Republik sind Unterkünfte in der Hauptsaison sehr gefragt - Tschechen, Polen, Ungarn, Slowaken und ein deutscher Ukulele-Lehrer konkurrieren hier um Quartiere aller Art.

Besonders zum tschechischen Ferienbeginn wird es eng - und an den Wochenenden sowieso. Fällt dann noch ein Doppelfeiertag mitten in die Woche, auf Mittwoch und Donnerstag, ist alles zu spät - am 5. Juli ist Nationalfeiertag zu Ehren der byzantinischen Missionare Kyrill und Method und der 6. Juli ist dem Nationalheiligen Jan Hus gewidmet. Normalsterblichen Tschechen bedeuten diese historischen Figuren so viel wie deutschen Hauptschulabsolventen Hänsel und Gretel und Martin Luther. Wenn man aber als Wandersmann just in dieser Woche ohne Reservierung mitten durch Böhmen zirkuliert, bekommt man den eigentlichen Wert dieser Feiertage zu spüren. Sämtliche Unterkünfte Tschechiens sind besetzt, selbst als Einzelradler mit Minizelt kann man auf dem überfüllten Zeltplatz von Bykov zurückgewiesen werden. Tief in den Schluchten des böhmischen Thaya-Tales gefangen wird es dann richtig abenteuerlich... Aber am besten ist wohl, ich erzähle die Geschichte eins nach dem anderen - und fange gleich mit dem Anfang an.




Man sieht so viel beim Eisenbahn fahren

Meine Reise beginnt mit der Bahn. Dreimal muss ich umsteigen, um mit Regionalzügen nach Prag zu kommen: von Dresden nach Bad Schandau, von Bad Schandau nach Děčín, von Děčín nach Ústí nad Labem, von Ústí nach Praha Masarykovo. Das Umsteigen in kurzer Zeit ist immer das Hektischste am ganzen Bahnfahren, aber ich habe auf meiner letzten Bahnreise schmerzhaft gelernt - und beschlossen, künftig auch bei nur vierminütigen Umstiegszeiten mit Bahnsteigwechsel die Ruhe zu bewahren, gelassen zu bleiben - es gibt schließlich immer noch einen nächsten Zug. Und beim Warten im Bahnhof kann man ohnehin die besten soziologische Studien betreiben - oder lesen oder einfach nachdenken.

Man kannauch über das Gebiss einer alten Frau staunen, das sie gerade neben den Aschebecher gelegt hat. Oder darüber sinnieren, was die Gepäckstücke der Mitreisenden beinhalten. Die kleinen Kleiderschränke auf Rollen, die einige Damen hinter sich herziehen, lassen Rückschlüsse darüber zu, welchen Wert die Besitzerin auf eine größtmögliche Flexibilität ihrer Reisegarderobe legt. Der kleine Hartschalenkoffer eines Mannes mit dunkler Sonnenbrille könnte Bündel von Dollarscheinen enthalten - oder eine selbstgebastelte Bombe mit Fernzünder - who knows?

Was mein eigenes Gepäck betrifft, so muss ich als Radler andere Prioritäten setzen. Zelt und Schlafsack sind nötig, wo ich keine bessere Bleibe finde. Ansonsten beschränke ich mich diesmal aufs wirklich Nötigste. So schwer es mir auch fällt, bei dieser Reise lasse ich sogar die Ukulele zuhause! Doch ich bin kaum außer Landes, erwarte in Děčín auf dem Bahnsteig den Zug nach Ústí nad Labem, da bemerke ich bei einer jungen Tschechin ein verdächtiges Gepäckstück! Es ist nicht mehr mein Stil, mich jedem schönen Rücken zu nähern, aber wenn daran eine kurvenreich geformte Umhängetasche baumelt, muss ich der Sache auf den Grund gehen...

 
Volltreffer! Ich bin noch in der Anreisephase meines Aktivurlaubes - und arbeite schon wieder! Sie kann ziemlich cool Raggie schrammeln - da könnte ich eine Lektion bei ihr nehmen. Was könnte ich ihr auf die Schnelle beibringen? Ah, ja! Ich zeige ihr meinen Wumm-Tschacka-Wumm-Tschacka-Beat - damit lässt sich mit etwas Übung eine Polka zupfen. Und das war dann auch schon die kürzeste U-Stunde aller Zeiten, denn in Ústí muss ich wieder umsteigen - nach Prag.



Silber für die Wellen
die der Wind nie ruhen lässt




Der Blick von der Karlsbrücke hat natürlich auch nach dem x-ten Prag-Bummel noch seine Reize. Man entdeckt immer wieder Neues und hat sofort jenen Ohrwurm des tschechischen Schlagertroubadors Pavel Novak im Ohr, der seit 1973 unvergänglich ist: Tausend Farben für mein Prag und diesen sonnigen Tag. Ungeachtet einiger alle Augen auf sich ziehenden Attraktionen der Goldenen Stadt bewundern etliche Passanten auch mein schickes schwarzes Reise-Faltrad - im obigen Foto rechts unten!




Aber wie halt ich die Brücken
und die hundert Türme fest?

 



 
Zu den weiteren Attraktionen der Karlsbrücke gehören die abgegriffenen Reliefs unter der Statue des Heiligen Nepomuk. Das ungeschriebene Gesetz derartiger Reliefs ist, dass einem vermeintlich die heimlichsten Wünsche erfüllt werden, sobald man sie mit seinen Händen reibt. Besonders aufs leichtgläubige Weibervolk scheint diese Vorstellung eine unwiderstehliche Faszination auszuüben. Selbst völlig ahnungslosen Kleinstkindern wird der heilige Mummenschanz schon beigebracht.

Und so wird es wohl auch in tausend Jahren noch immer Exemplare des Homo sapiens sapiens geben, die jeden Mumpitz mit- und nachmachen, nur weil es schon die Muddi und die Omma gemacht haben.

Die goldenen Dächer Prags wurden viel besungen, die goldenen Haare der Pragerinnen seltener. Aber sie lassen sich gut fotografieren, wenn man bereit ist, sich auf schattige Fleckchen und Gegenlicht einzulassen. Und weil die Models viel zu sehr mit ihren elektrischen Wischkästchen beschäftigt sind, muss der gelernte Voyeur sie noch nicht mal um Drehgenehmigung bitten.
 


 
Auch in der goldenen Stadt gilt:
Ohne Moos nichts los...



An touristischen Knotenpunkten wie der Karlsbrücke gibt es auch viele Bettler - ob die Demutspose das Mitleid und die Großzügigkeit der Passanten steigert? Wahrscheinlich funktioniert es, denn ich sehe die Masche immer öfter.

Das mittels gefärbter Tauben erwerbbare Nebeneinkommen hingegen ist mir noch neu. Nicht nur Kinder und Frauen lassen sich damit beeindrucken, auch mancher stolze Jüngling spendiert für ein Foto mit bunten Vögeln gern etwas - man ist ja schließlich nicht jeden Tag in Prag - oder Pisa oder Paris...
 

 

Take me to Paris lautet die Forderung auf einem schwarzen Pulli: Nimm mich mit nach Paris! - In die Stadt der Liebe! Was bekomme ich als Gegenleistung? Wie wäre es fürs Erste mit einem Lächeln? Dafür würde ich an diesem Hot Dog-Stand vielleicht ein heißes Würstchen kaufen. Ob aber der reiche Prinz, auf den die junge Verkäuferin wartet, jemals hier entlangspaziert kommt? Davon träumen darf sie natürlich - Tag für Tag.


Die kleine Band, die auf der Uferpromenade zu spielen beginnt, gefällt mir. Erstens: Nicht zu laut. Zweitens: kein Schlagwerk! Drittens: die Sänger können singen - was will man mehr? - Höre ich da zwischen der Dobro und dem Saxophon etwa das Geschrammel einer Ukulele? Tatsächlich! Na, dann ist es kein Wunder, dass ich ganz Ohr bin.
 



Stoffliches

 
Rašínovo nábřeží - die vor 10 Jahren eingeweihte Moldau-Promenade am Prager Neustadtufer ist an einem Freitagabend der Treffpunkt der Goldenen Stadt. Touristen erfreuen sich der Bierstände und Restaurantschiffe, die einheimische Jugend leert mitgebrachte Bierdosen und Weinflaschen - und pfeift sich eine Kippe nach der anderen rein.

Und? Die "liberale" Drogenpolitik Tschechiens macht's möglich: Allenthalben liegt der würzige Duft glimmender Joints in der Luft - Kiffen ist heute so cool wie vor 50 Jahren. Fünf Gramm Haschisch gelten seit 2010 als "Eigenbedarf", fünf Cannabis-Pflanzen im Blumenkasten auf dem Balkon sind nicht mehr denunzierbar - weil legal. Sogar Teufelszeug wie LSD, Ecstasy, Crystal Meth und Heroin ist in Kleinstmengen legalisiert. Wozu? Angeblich um "die Szene zu entkriminalisieren"... Die Landesgrenzen sind unkontrolliert, das freut die Drogenmafia und die Konsumenten gleichermaßen. Bekiffte Jugendliche rebellieren nicht, das freut die Politiker. Und wer weiß schon, ob sich der Justizminister oder der Oberbürgermeister nicht auch gern mal ein Prischen Koks ins Näschen ziehen? Wer glaubt, die "Entkriminalisierung der Szene" sei ein Geschenk des Liberalismus, der glaubt auch an den Weihnachtsmann - Prag ist inzwischen die Drogenhauptstadt Europas.*

Immer wieder ziehen einige Marihuanamoleküle an meiner Nase vorüber - irgendwie macht mir der würzige Duft verbrannten Grases etwas Appetit! Meine Zunge möchte gern den Geschmack von Peace, Love & Marihuana kosten. Aber nein, Alexander, du bist ein tapferer Pedalritter! Du begnügst dich damit, deinen wohlverdienten Radlerdurst mit frisch vom Fass gezapftem Pilsner Urquell zu löschen. Zwei Bierchen in Ehren kann niemand verwehren - und drei ersetzen eine Mahlzeit in festem Aggregatzustand. Du widerstehst allen Versuchungen. Du überlässt es den Weicheierm, sich zu bedröhnen und sich das Hässliche schön zu kiffen. Denn du bist ein Philosoph und suchst die wahre Schönheit statt der Illusion. Du machst dich nicht mit dem willensschwachen Menschenrest gemein!


Göttliches

Im Stahlbogen der Bahnbrücke wirbt GOTT für MY LIFE - also für sein Leben. Hat Gott derartige Eigenreklame nötig? Die Erleuchtung, dass hier nicht irgendein selbstverliebter Gott um Kundschaft wirbt, sondern der oberste Schnulzengott Tschechiens, kommt mir erst später. Natürlich ist GOTT der eine und einzig wahre Karel Gott!
 

Auf einem Ausstellungsschiff ein Stück vor der Brücke wird eine Retrospektive über die oberste tschechische Schlagergottheit gezeigt. Dem Ausstellungsname "MY LIFE" zufolge eine Selbstglorifizierung des Sängers - und die zeige auch "die Änderungen in den gesellschaftlich-kulturellen Konstellationen auf, mit denen er sich über ein halbes Jahrhundert lang auseinandersetzen musste"...* Mir kommen die Tränen: Während jeder sterbliche Tscheche bis Ende 1989 wie Gott in Frankreich leben konnte, musste sich Karel Gott ab 1990 neu erfinden und mit Änderungen in den gesellschaftlich-kulturellen Konstellationen auseinandersetzen... Egal, es gibt noch genug Weiberseelen, in denen die Schnulzen Karel Gotts ihren ewigen Platz haben. Und welcher treue Gott-Fan möchte nicht auch einmal die erste Pfeife oder den Führerschein seines Idols in einer Vitrine bewundern können!

Ja, sie lassen alle mal was liegen, die Großen dieser Welt... Und das sind die Devotionalien, die man in Museen ausstellt. Erst vor wenigen Wochen habe ich gelesen, dass Gott sich im Nationalpark Böhmische Schweiz, gewissermaßen in meinem Tagestour-Revier, am waldigen Rande des Dörfchens Doubice, einen beschaulichen Alterswohnsitz bauen ließ. Doch der bedauernswerte Schnulzenstar musste ihn wieder verkaufen lassen, weil Reisebusse das idyllisch gelegene Domizil schon anfuhren, noch bevor sein Besitzer dort je einen Schritt über die frisch gezimmerte Türschwelle machte. Jetzt ist Gott bestimmt ganz traurig und muss bis zu seinem letzten Tag in einer der anonymen Plattenbausiedlungen des Prager Betongürtels wohnen...



What shall we do with the drunken sailor?




Für die Übernachtung in Prag konnte ich von zuhause aus eine Kabine im Botel Racek buchen. Von den drei in Prag dauergeparkten Hotelschiffen ist die Racek das preislich günstigste - und es bietet einen Vorteil, den ruhebedürftige Ukulele-Lehrer gar nicht hoch genug schätzen können: Es liegt einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, was Hoffnung auf nächtliche Ruhe verspricht... Falls nachts um halb drei nicht gerade ein stockbetrunkener Mitpassagier an die Türen seiner Saufkumpane hämmert, die nach reichlich Pivo und Slivovitz längst im Koma liegen, ist dieser Kahn eine gute Alternative zu den schweineteueren Hotels der Prager City.

Ich habe den fiesen Kerl am Abend schon an Deck bemerkt: ein alter Sack aus den USA, der es für angemessen hielt, eine junge tschechische Kellnerin mit dem Spruch "You are my favorite..." zu umzirpsen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er beim anschließenden Begrabschen nicht gleich einen Satz heiße Ohren kassiert hat. Oder ist die hübsche Kellnerin womöglich vom anzüglichen Gewerbe? Egal. Mir geht der besoffene Yankee jedenfalls auf die Nerven. Wenn er jetzt nicht endlich aufhört herumzulärmen, stehe ich auf, ziehe mir mein Boxershorts an, öffne meine Kajüttentür, knurre kurz wie ein zum ultimativen Kehlkopfbiss abgerichteter Bullterrier - und haue diesem Arschloch meine von ungezählten Akkordgriffen gestählte Ukulelisten-Faust in die Fresse!



Auf nach JWD
-  janz weit draußen

Dank des tschechischen Saufkumpans, der dem texanischen Cowboy die Tür öffnete, bevor der deutsche Pedalritter soweit war, konnte ich dann doch meinen unerschütterlichen pazifistischen Prinzipien frönen: Peace, Love & Ukulele - obgleich ich letztere diesmal nicht dabei habe. Ich verdanke der nächtlichen Ruhestörung im hellhörigen Hotelschiff eine unausgeschlafene Entscheidung - eine Fehlentscheidung: Statt am Morgen in der Prager City erstmal einen Buch- oder Fahrradladen nach Kartenmaterial für meine Tour aufzusuchen, folge ich dem Hinweis aus dem Internet, der Fernradweg Greenway von Prag nach Wien beginne im Zentralpark des Stadtbezirkes 13. Der liegt im Westen Prags, weit ab von den gefegten Bordsteinkannten des Tourismus.

Ich radle also in die City, um auf der nächsten Brücke die Moldau ans Ostufer zu passieren, kurbele und schiebe heftige Anstiege hinauf - und finde mich alsdann im Betongürtel der böhmischen Millionenmetropole, wo sich ein Plattenbau an den anderen reiht. Ich versuche, mich durchzufragen. Aber die Jugendlichen, die hier herumlungern, verstehen weder englisch noch deutsch. Mein Tschechisch ist leider auch aufs Elementarste beschränkt. Mir ist nichts lieber, als baldigst die Wegweiser des Greenway zu finden und den Plattenbaugürtel der Hauptstadt hinter mir zu lassen.



Alle Wege führen nach Prag
-  selbst die Auswege


Endlich ein Radwegweiser mit dem Greenway-Symbol. Das Schild weist in die Richtung, aus der ich komme. Um einen kleinen, künstlich angelegten See der Parkanlage verzweigen sich die Wege unentwegt, nicht überall steht ein Wegweiser. Ich verfahre mich, finde aber ein größeres Einkaufszentrum, kaufe eine Eineinhalb-Literflasche Mineralwasser: Magnesium Perlova - ich hoffe, die Bezeichnung hält, was ich erwarte. Magnesium ist für strapazierte Radlerwaden immer gut und perlende Kohlensäure gibt der Zunge die Chance, die Flüssigkeitsaufnahme auch dann noch zu spüren, wenn das Wasser von der Sonne auf Körpertemperatur aufgeheizt ist.

Das wichtigste für den Moment ist allerdings der gut sortierte Buchladen, den ich im Shopping Center finde. Der Verkäufer muss auf meine Frage nach Kartenmaterial zum Greenway Prag - Wien nicht lange suchen. Zu meinem mittleren Entsetzen bemerke ich beim ersten Blättern in der dünnen Faltmappe allerdings, dass ich gleich zu Beginn meiner aktiven Reisephase in die falsche, weil entgegengesetzte Richtung pedaliert bin. Die mühsamen Anstiege hätte ich mir schenken können - das war sehr unprofessionell für einen Radwanderungsprofi. Alexander, nach einem Dutzend Radtouren durch halb Europa hätte das nicht passieren dürfen! Und ich hasse besoffene Yankees, die mir nachts halb drei den Schlaf rauben, um so mehr!

Auf einer stark befahrenen, mehrspurigen Straße nähere ich wieder dem Stadtzentrum. Um nicht von Lastern gestreift zu werden, weiche ich auf den Fußweg aus, doch der wurde dem Anschein nach zuletzt von russischen Panzern planiert und dient heute nur noch als Müllkippe. Über eine Brücke quere ich die Gleise einer Bahnstrecke und dann über die Bahnbrücke die Fluten der Moldau. Am Neustädter Ufer muss ich mein Rad samt Gepäck die enge Stahltreppe hinunterschleppen. Dort befinde ich mich quasi am Ausgangspunkt meiner bisherigen Radrunde. Zwei Stunden hat mich die unausgeschlafene Entscheidung gekostet... Sehr geehrter Mister Trump, Sie sind der Boss! Könnten Sie bitte mal eine Ausreisesperre für bescheuerte Landsleute verfügen, die nachts in Prag nichts Besseres zu tun haben, als erholungsbedürftigen Ukulele-Lehrern den Schlaf zu rauben? Thank you very much!

Nach einer anstrengenden Odyssee durch die südöstlichen Vorstädte Prags, hoffe ich in der nächsten größeren Klitsche, in Kamenice, etwa auf halben Weg nach Benešov, eine Herberge zu finden. Aber ich finde nichts. Die Betreiberin einer Imbis- und Trankstelle winkt ab und empfiehlt mir, mein Glück in Ládví zu versuchen - vermutlich ist sie noch die fünf Kilometer bergauf geradelt, die es bis dorthin sind. Doch das dortige Hotelchen ist ein Wellness-Club. Der auf mich leicht geringschätzig wirkende Blick des Portiers lässt mich vermuten, dass hier noch nie ein Radler nach einem Zimmer gefragt hat. Irgendwie kommen in mir auch Zweifel auf, ob Wellness-Hotels in so trostlos abgelegenen Winkeln überhaupt dem herkömlichen Unterkunftsgewerbe zuzurechnen sind...

Ich folge daraufhin nicht der Empfehlung des Portiers, es im 20 Kilometer entfernten Benešov zu versuchen, sondern rolle wieder talwärts und zurück zum beschilderten Greenway. Nach angenehm flachen und bewaldeten 12 Kilometern erreiche ich in der achten Stunde Týnec nad Sázavou (Teinitz an der Sasau). Auch dort ist kein Zimmer mehr zu bekommen. Weder im Hostel noch im nobel aussehenden Hotel. Sonst sei das Haus immer leer, sagt eine der elegant gekleideten Frauen vor der Eingangstür, aber heute ist hier eine Hochzeitsfeier und alles ausgebucht. Ob das wirklich stimmt, kann ich nicht prüfen, denn die Tür ist verschlossen.

In einer Gasse entdecke ich einen Biergarten und versuche, die mit Gästen am Tisch sitzende Kellnerin nach Alternativen zu fragen. Ein paar Worte Englisch versteht sie, aber antworten kann sie nicht. So steht sie auf und zeigt mir mit Händen und Füßen, dass es am Fluss ein Kemp gibt. Camping ist nicht mehr meine erste Wahl, aber okay, für solche Notfälle habe ich ja das Zelt mitgeschleppt. Sie begleitete mich ein Stück, deutet auf das Brückengeländer, dem ich bis zum Ende folgen soll, um dort rechts abzubiegen. Und genau das tue ich dann auch. Was ich vorfinde, ist ein großes Wassersportzentrum - Kajaks und Schlauchboote meterhoch gestapelt. Der zugehörige Zeltplatz ist gut gefüllt - es ist Samstagabend, erster Juli, in Tschechien haben die Sommerferien begonnen.

 
Erfreulich ist, dass es wirklich ein Zeltplatz ist, auf dem nur Zelte stehen - keine Autos, keine Wohnmobile! Mitten auf der Wiese ein Baumarkt-Pavillon als Rezeption. Ich sitze noch auf dem Sattel, als ich die Eintrittsgebühr zahle - 60 Kronen. Any obligations? Nein, einfach einen Platz aussuchen und gut. Später verwandelt sich die Recepce zum Grill- und Getränkestand.

Der vordere Teile eines ausgedienten Nahverkehrsbusses dient als weitere Ausschankstelle, davor vier Tische und einige Bänke, kontaktfreudige Tschechen. Der hintere Teil des Busses dient als WC-Trakt. Die meisten Camper hocken bereits an den kleinen Feuerstellen, die auf dem ganzen Platz verteilt sind. Auch in der Nähe meines Zeltes wird nun gezündelt - das finde ich nicht so gut. Aber der junge Mann, der das Lagerfeuer zu entfachen versucht, versteht mich nicht. Seine in der Nähe hockenden Kumpels und Kumpelinnen verstehen mich zwar, halten meine Bedenken aber sicher für spießig: Okay, we take care - Wir passen schon auf...

Das war dann hoffentlich der finale Fehlgriff dieses Tages, der mit einem nervenden Cowboy aus Texas und einer ungewollten Stadtrundfahrt durch die Suburbs von Prag begann. In drei Metern Abstand zu meinem Zelt findet nun also noch das bier-, wein- und schnapsselige Lagerfeuer junger Tschechen statt. Wenigstens verstehe ich das verbale Pubertieren nicht, das trunkene Jünglinge üblicherweise von sich geben, wenn sie um trunkene Blondinen buhlen. Zehn Meter weiter vernehme ich allerdings noch die Herdenkommunikation Gelaber eines Rudels junger Sachsen, das sich dort um zwei Kästen Bier ausgebreitetet hat. I am not amused.


Wind, komm bring den Regen her!


Hat der liebe Gott mein heimliches Flehen um etwas Ruhe erhört? Es hört sich fast so an, denn es beginnt zu regnen! Das plötzliche Nass löscht die Feuer, die Feierlust, das Gelaber der Camper und Tramper. Bald wird es ruhig - und man hört nur noch das Rascheln der Schlafsäcke, bisweilen ein ungestilltes Baby, zeitweilig ein Dutzend um die Wette bellende Hunde, dann das Surren von Reißverschlüssen, das Schnarchen und Furzen, das Seufzen und Stöhnen... Ich versuche etwas Max Stirner zu lesen, um in tiefsinnigeren Gedanken zu ermüden. Eben hatte ich die Lesebrille noch zur Hand - ah, da ist sie ja! Aber wo ist jetz das superhelle Leselämpchen, das hier erstmals zum Einsatz kommen könnte? Das hatte ich doch auch gerade noch in der Hand. Und was war das eben für ein knirschendes Geräusch? Oh, ich sitze gerade auf meiner neuen Sonnenbrille - einer der Bügel ist unter dem Gewicht meines Hinterns abgebrochen.

Am Morgen hört der Regen auf, als wäre nichts gewesen, doch ich muss das Zelt nass einpacken. Bis Neveklov gibt es einige anstrengende Steigungen. An der Einmündung auf eine Hauptstraße zeigt der Greenway-Wegweiser nach links, aber der eigentlich mit diesem verlaufende regionale Radweg Nr. 11 in die andere Richtung. Was nun? Ich frage einen jungen Mann, der in diesem Landeswinkel selten Gelegenheit haben wird, sein Schulenglisch in der Praxis anwenden zu können. Allerdings ist der nette Kerl Autofahrer, von irgendwelchen Fernradwegen hält er nicht viel. Er schickt mich über die Landstraße Richtung Sedlčany, eine mäßig stark befahrene, aber für mich dennoch zu verdieselte Piste. Nach einigen Kilometern biege ich links ab, um über die Dörfchen Strážovice und Hořetice wieder zur Greenway-Strecke zu kommen. In einem der Dörfchen frage ich einen jungen Mann, der an einer Bushaltestelle stumm vor einer Motorsäge hockt, ob ich an diere T-Kreuzung an der richtigen Abzweigung bin. Anhand meiner Karte versteht er, was und wohin ich will, kann aber offenbar nicht reden - ich muss seine Gesten interpretieren.

Im Dörfchen Hodětice treffe ich wieder auf den Greenway, die Straße ist allerdings wegen Brückenbau gesperrt. Eine hölzerne Behelfsbrücke ermöglicht Fußgängern und Radlern die Passage. Die Sperrung des Durchgangsverkehrs hat den Vorteil, dass der folgende Anstieg frei von jeglichen Motorabgasen ist. Im Dorf Kosovo Hora bietet sich die Gelegenheit zum Brunch, auf der Speisenkarte eines kleinen Restaurantes am Marktplatz identifiziere ich Pizza und andere vertraute Wörter. Dazu gehört natürlich auch Pivo - endlich wieder was Kaltes, das nicht nach Wasser schmeckt! Beim Warten auf die Pizza kommt mir die Idee, mittels Bookin.com nach einem Quartier in Tábor zu suchen. Ich werde fündig und buche das einzige verfügbare Angebot - nach den letzten beiden Nächten wohlverdient.

Im Doppeldorf Sedlec-Prčice wird ebenfalls eine Brücke repariert, allerdings sind hier auch die Arbeiter im vollen Einsatz - und das obgleich heute Sonntag ist! Im Schlosspark von Prčice spielt eine Blaskapelle auf - ich höre sie noch von den Höhen des nächsten Dorfes, Přestavlky, das an die drei Kilometer entfernt ist. Hinter Borotín u Tábora werden die Ruinen einer mittelalterlichen Burg sichtbar, doch es ist schon spät und deshalb lasse ich die steinerne Historie mal links liegen.


Geschichtsträchtiges Tábor


Halb acht erreiche ich Tábor. Mein Quartier, Penzion Modrá Růže, liegt in einer der engsten Gassen der Altstadt - mein Zimmer ist riesig: drei Betten, eine Couch und ein Tisch machen es quasi zum Appartement. Hier habe ich genug Platz, mein nasses Zelt zum Trocknen auszubreiten. Dann dusche ich mir den Staub und Schweiß der 75-Kilometer-Etappe vom Leib.
 

Ich drehe eine Runde über den Marktplatz der einstigen Hussitenhochburg* Tábor, die auch zum Namenspaten der sogenannten Táboristen wurden, einer aus dem Hussitentum hervorgegangenen militanten Bewegung christlicher Fundamentalisten, die eine Eigentum und Frauen verachtende Schreckensherrschaft verbreiteten.

Historie

      Für den im 19. Jahrhundert aufkommenden tschechischen Nationalismus* wurde Tábor ebenfalls zum Zentrum - der später zum stahlharten Stalinisten mutierte tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš hatte seine Aussiedlungspläne für die etwa 3,5 Millionen Deutschen, die in der erst 20 Jahre zuvor gegründeten Tschechoslowakei lebten, bereits ausgearbeitet, als das mit Chamberlains Billigung gesegnete Münchner Abkommen Hitler die kampflose Besetzung der Sudetengebiete ermöglichte. Nach Ende der Nazi-Herrschaft hetzte Beneš seine tschechischen Landsleute gnadenlos auf die Sudetendeutschen, nicht nur gegen Nazi-Mitläufer, sondern auch gegen unschuldige Menschen und deren Familien - ein finsteres Geschichtskapitel, dessen gesellschaftliche Aufarbeitung in Tschechien bis heute nicht stattfand. Im Gegenteil, erst seit einigen Jahren ist das nur wenige Kilometer südlich von Tábor befindliche Grabmahl des radikalen Nationalisten zur nationalen Gedenkstätte ausgebaut worden, in exponierter Lage an der Prager Burg gibt es neuerdings ein Beneš-Denkmal, und in Usti nad Labem ist ausgerechnet jene Brücke in Beneš-Brücke umbenannt worden, von der Hunderte Leichen ermorderter Menschen in die Elbe gekippt wurden, nur weil sie den Maklel hatten, zu Lebszeiten Bürger des Deutschen Reichs geworden zu sein. Nicht in den Wirren der Nachkriegszeit lebt dieser Personenkult um einen menschenverachtenden Politiker auf, sondern in den Wirren des jungen 21. Jahrhunderts!

Nach meinem Bummel durch die geschichtsträchtige Altstadt wende ich mich wieder den stillen Gassen zu, wo meine Pension liegt. Gleich nebenan befindet sich ein nobel wirkendes Lokal, gerade sind zwei junge Männer hineingegangen, die miteinander französisch sprachen. Ich folge ihnen, sie nehmen an der Bar platz, ich an einem der Tische, von wo ich die stilvolle Einrichtung und den Stuck an der Decke bestaune. Auch der Barkeeper spricht französisch. Mit mir spricht er deutsch. Tschechisch und Englisch kann er sicher auch, aber es kommen keine weiteren Gäste, mit denen er reden könnte. Ich frage ihn nach seinen Sprachkenntnissen - er gesteht bescheiden, sie seien nur aufs gastronomisch nötige Vokabular beschränkt.

Ich zücke mein noch unbeschriebenes Reisetagebüchlein und versuche, die Ereignisse der ersten drei Reisetage zu rekapitulieren, meine ganz persönlichen Eindrücke und Erlebnisse zu notieren. Nach zwei Pilsner Urquell habe ich sechs Seiten im Miniaturformat A6 gefüllt - und freue mich auf eine störungsfreie Nacht in einem ruhigen Winkel der Altstadt. Ich muss nur zweimal um die Ecke, schon bin ich zurück in der Pension. Ich schalte den Fernseher an, aber die eingestellten Programme der tschechischen Sender sind genauso primitiv wie die deutschen: Quiz, Krimis, Popmusik von einst und heute - das Studium der mit allen Rafinessen produzierten Kosmetikreklame ist noch das Spannendste. Schnell werden meine Augenlieder schwer und meine Gedanken beginnen vor sich hin zu dösen - mein müdes Haupt hat zwei Mützen voll Schlaf nachzuholen.



Dem Getöse der Vorstädte entfliehen


Noch beim Frühstück regnet es - ich lasse mir daher Zeit und beschließe, heute eine kürzere Etappe zu radeln. Kaum bin ich im Stadtzhentrum, schüttet eine Wolke ihre nasse Fracht aufs staubige Straßenpflaster. Ich suche unter einer Arkade Schutz, packe mein Cape aus, doch zum Glück hört der Regen schnell wieder auf. Ich folge der Hauptstraße südwärts - nicht unbedingt die klügste Entscheidung, wie ich bald feststellen muss. Denn die Straße ist eine stark befahrene Nord-Süd-Achse. Nachdem ich die mit Tábor zusammengewachsenen Orte Sezimovo Ústí und Planá nad Lužnicí hinter mich gebracht habe, kann ich auf den kreuzenden Greenway einschwenken, der mich hoffentlich bald wieder über ruhigere Landstraßen führt. Doch bevor ich der Idylle böhmischer Dörfer erfreuen kann, muss ich noch eine bereits von Weitem hörbare Autobahn queren - LKW-Kolonnen, Reisebusse und ein niemals abbrechender PKW-Strom beherrschen die D3.

Bei Košice begegne ich dem ersten Radwanderer seit Beginn meiner Reise, ein Mann in meinem Alter, der meine dezente Grußgeste ebenso zurückhaltend erwidert. Auf den Dorfstraßen spielen Kinder - die lang ersehnten Sommerferien haben endlich begonnen. Zwischen den Synapsen meiner Hirnwindungen funkt es nostalgisch - Erinnerungen an sorglose Kindertage flackern in mein Bewusstsein herauf: Räuber und Gendarm nannte sich eines unserer Versteckspiele, Klingelrutschen eine der harmlosen Mutproben, mit denen wir Stadtkinder uns damals die Zeit vertrieben - ahnungslos über das gigantische Säbelrasseln der militärischen Großmächte, deren Befehlshaber damals den Daumen an jenen roten Knöpfen hatten, welche die Erde in ein atomares Inferno stürzen konnte.



In böhmischen Dörfen schlafende Hunde wecken


Die Idylle trügt immer. Während ich im Surren des Leerlaufs Kindheitserinnerungen nachhänge, wecke ich unbeabsichtigt schlafende Hunde, die mir mit fletschendem Maul und grässlichem Bellen bedeuten wollen, dass hier ihr Revier sei und jeder Eindringling gefährlich lebe. In böhmischen Dörfern keine schlafenden Hunde zu wecken, ist quasi unmöglich, es sei denn, man hätte eine Tarnkappe, die unsichtbar, geräusch- und geruchslos macht. Bei der einzigen Ausnahme, die ich erlebe, handelt es sich um einen Köter, der wie ein volltrunkener Bauer seinen Rausch gerade da ausschläft, wo er zuletzt umgefallen ist. Von gackernden Hühnern umgeben scheint ihn nichts aus der Ruhe zu bringen. Allerdings lege ich es nicht darauf an, das Gegenteil bewiesen zu bekommen, und trete in die Pedalen, um schnell wieder auf die Countryroads zu entfliehen.

 
Doch ich begegne auch den niedlichen Exemplaren der Gattung, welche der gnadenlosen Selektion der Evolution durch züchterisch tätige Vertreter der Plüschtierkultur entzogen wurden. Eines dieser entglittenen Zuchtexperimente bewacht mein Fahrrad und verusucht es allen Ernstes, als ich mich wieder in den Sattel schwingen will, als sein Eigentum zu deklarieren. Unverschämt!


Ein anderes Resultat aus den Laboren verschwuchtelter Hundezüchter scheint sich für die nicht-veganen Bestandteile der Böhmischen Knoblauchsuppe zu interessieren, die ich als mittagliche Hauptmahlzeit an einer Radler-Trankstelle verzehre. Doch ich lasse mich vom Versuch des Vierbeiners, mittels eines treudoofen Blickkontaktes mein Herz zu erweichen, nicht beeindrucken - und bleibe hart wie Kruppstahl.
 

Und schließlich, aber nicht zuletzt, erinnere ich mich an einen freudig mit dem Schwänzchen wedelnden Rassedackel, der sich an der Rezeption des nobelsten Hotels meiner Reise in meine stramme Radlerwade verliebte, die er umgehend mit seinen Vorderläufen umklammerte und mit seinem Unterleib zu massieren begann. Pfui! Hat das schwanzgesteuerte Vieh noch nichts von der kalifornischen Fraueninitiative "NO means NO!" gehört?

Während ich die hinter ihrem Rezeptionstresen sitzende Dackelhalterin anlächele, versucht mein rechtes Bein das wollüstige Testosterongewusel von meiner strammen Radlerwade abzuschütteln - was nur temporär gelingt. Was will man machen? Wo die Liebe hinfällt... Da wird ein kategorisches Nein auch unter Vierbeinern zum kategorischen Ja umgedeutet. Der Hund, des Menschen treuester Freund, ist Abbild seines Herrchens oder Frauchens - zu jeder Schande bereit, ob als Wach-, Jagd- oder Kampfhund. Und als Kuscheltier und Bettgeselle so wie so.


Auf dem Dorfplatz von Dírná gibt es einen gut besuchten Biergarten, doch ich ignoriere die Versuchung beinhart und trete in die Pedalen. Ich schaue einfach nicht hin und tue so, als ob das durchsichtige Gefäß mit dem schäumenden Inhalt gar nicht existiert. Ich stelle mir einfach vor, das kühle Blonde in dem Glas sei genauso fade und pisswarm wie das Wasser in den Plastikflaschen, die ich zur Bezwingung der schweißtreibenden Anstiege rationiere. Nein, ich denke überhaupt nicht an die Labung meines nach Erfrischung lechzenden Gaumes, nein, nicht im Traume...



Durst ist schlimmer als Heimweh


Ein kleiner Exkurs in die Welt der tschechichen Trinkfreuden ist vielleicht doch nötig, denn Bier ist in Tschechien mehr als in jedem anderen Land der Welt kulturstiftend - die Tschechen sind Weltmeister im Pro-Kopf-Verbrauch des schäumenden Gerstengetränkes. Kein Wunder, sie haben das Gebräu ja quasi erfunden, in seiner klarsten Form zumindest doch perfektioniert.
 

Alle Welt braut heute nach Pilsner Brauart. Was ich vor meinen intensiveren Feldstudien in tschechischen Trinksitten nicht zu träumen gewagt hätte: Ein Bierchen in Ehren ist auch am frühen Morgen nicht zu verwehren. Sei es an einer Dorfstraße beim gemeinsamen Werkeln in einer Garageneinfahrt oder auf den Treppenstufen einer ländlichen Einkaufshalle, ab 9 Uhr ein Fläschlein Pivo griffbereit zu haben oder zwei, gilt noch lange nicht als Trunksucht. Doch was ist eine schnöde Flasche Bier gegen ein frisch vom kühlen Fass gezapftes Pilsner! Sich am Abend beim Junggesellenabschied eines Kumpels dem rituellen Hinter-die-Binde-kippen von zwei, drei Litern Pivo zu entziehen, wäre im heutigen Tschechien quasi Vaterlandsverrat.

 
Die soziale Marktwirtschaft Tschechiens kennt allerdings noch Steigerungsformen - auch wo nur mit geringer Nachfrage zu rechnen ist, soll es am Angebot nicht mangeln. Mitten im Irgendwo entdecke ich eine Selbstbedienungszapfstelle! Einer der beiden Zapfhähne lässt nach Münzeinwurf Staropramen in den Plastikbecher schäumen, der andere alkohofreies Birelli. Und entgegen allen Vorbehalten schmeckt auch letzteres wie richtiges Pivo.

Und falls die Trankstelle mal nicht direkt am Wege liegt, sondern 50 Meter von der Hauptstraße entfernt, ist der spezielle Wegweiser direkt am Verkehrsschild angebracht. Die örtlichen Ordnungshüter drücken sicher ein Auge zu - selbst die Polizei empfiehlt doch, bei langen Strecken öfters mal eine Pause einzulegen...
 

 
Wie wär's mikt einem frisch vom mobilen Bauch- bzw. Rucksackladen gezapften Pivo? Am touristischen Epizentrum der Prager Karlsbrücke macht ein junger Verkäufer auf sein Gebräu aufmerksam und einige Passanten lassen sich etwas in den Plastikbecher zapfen, was wie ein obergäriges Gebräu aussieht. Kann man ja mal probieren... Igit, ist das süßlich! Das ist doch kein Bier! Was für ein Saftladen ist das denn?

Anstelle dem Greenway, der nach Červená Lhota und zu einem gleichnamigen Schlösschen abschwenkt, zu folgen, kürze ich über Samosolvy nach Pluhův Žďár ab, wo ich wieder auf den ausgeschilderten Fernradweg treffe. Die Fahrt  durch ein Wäldchen spendet kühlende Luft - nach einigem Auf und Ab tut das besonders gut. Dann rolle ich an Feldern vorbei und staune nicht schlecht, als ich kurz vor dem Ortseingang des nächsten Dörfchens eine kleinen Steinkreis erblicke.



Ein Steinzeitkalender, den niemand kennt?



Direkt am Ortseingang des Dörfchens Studnice überrascht mich das böhmische Mini-Stonehenge, ein Kreis von etwa 10 bis 15 Meter Durchmesser, in dem ich zwölf unterschiedlich geformte Steinplatten von bis zu zwei Metern Höhe zähle. Keine Infotafel erläutert die Formation, auch Google findet weder Bild noch Text. Über die sonstige Geschichte des Dörfchens gibt es einen Wikipedia-Artikel. Doch der dokumentiert lediglich die Vertreibung der einstigen, sudetendeutschen Bewohner nach Österreich. Von einem Steinkreis ist auch im tschechisch-sprachigen Web nichts zu finden. Hat sich hier jemand einen archäologischen Schabernack geleistet?



Man könnte auch Heinrichsburg sagen





Halb fünf erreiche ich das altehrwürdige Städtchen Jindřichův Hradec - der Ortsname dürfte ungeübten deutschen Zungen einige Schwierigkeiten bereiten. Eine Anfang des 13. Jahrhundert errichtete Burg namens Novum Castrum erhielt alsbald die Gesellschaft einer Siedlung, die entsprechend Novum Domus genannt wurde - zu deutsch: Neues Haus, ab 1265 als Newenhaus belegt. Nach einer wechselvollen Geschichte* (Niederlassung der Deutschordensritter, Hussitenkriege, Vertreibung der Sudetendeutschen) wurde die in der Renaissance zur zweitgrößten Stadt Böhmens aufgeblühte Stadt nach Ende des 2. Weltkrieges mit dem Namen des mittelalterlichen Eingentümers Jindřichův in Verbindung gebracht und auf diesen umbenannt. Der heutige Name der Stadt ließe sich demnach gut mit Heinrichsburg übersetzen, die übliche deutsche Bezeichnung blieb allerdings Neuhaus.


 
Die zentralen Makrtplätze der im Mittelalter gegründeten Städte dienen leider allerorten als Parkplatz für die Blechlawinen der automobilen Gesellschaft. Nur in einigen Gassen bleibt man vom Verkehr verschont.




Ein kleiner Abstecher nach Kanada




Die heutige Etappe führt mich durch eine Landschaft, die sich durch wald- und steigungsreiche Strecken auszeichnet. Im Süden grenzt das Naturschutzgebiet an Österreich und im Osten führt mich mein Weg nach Mähren. Wald und Berge sind die Namensgeber für Böhmisch Kanada (Česká Kanada). Ein kurzer Regen kühlt die Temperaturen vorübergend ab - die Wege werden unwegsam.

Historie

      An einem Teich, der plötzlich in einer Lichtung des Waldes auftaucht, hält mich erneut das tragische Spiel der Geschichte an. Bis um 1950 existierte an dem idyllischen Flecken ein Walddörfchen, das an den um 1359 von deutschen Johanniter-Mönchen angelegten Teich entstand. Die während des 30-jährigen Krieges anstelle einer Holzmühle errichtete neue Mühle verlieh dem Dörfchen Neumühl seinen Namen (nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Dorf bei Přítluky, das ein ähnliches Schicksal traf), ebenso dem Teich und den ihn speisenden Bach. Deutsche und Tschechen lebten über Jahrhunderte friedlich nebeinander - oder stritten sich vielleicht mal um Dinge, über die sich Nachbarn auch heute streiten. Das aufkommende Zeitalter des Nationalismus bereitete den Anfang vom Ende der multi- oder doch bikulturellen Eintracht vor - in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die geopoltischen Karten mehrfach neugemischt - mit tragischen Folgen für die damaligen Bewohner der hiesigen Waldidylle.

Der sich dem Dorf anfügende nördlichste Zipfel Österreichs lag im Bereich des Tschechoslowakischen Walls*, eines Bunker- und Festungssystems, das Mitte der 1930er unter Staatspräsident Edvard Bene
š ausgebaut wurde. Nahe der Grenzkaserne Peršlák* errichteten tschechische Nationalisten einen Stein der Republik (kámien republiky) in der Form der ursprünglichen Fläche der Tschechoslowakei, welche noch die (nach Kriegsende unter Beneš an Stalin verschacherte) Karpatenukraine* enthielt. Kurz vor dem (durchs Münchner Abkommen legitimierten) Einmarsch der Deutschen Wehrmacht ins Sudetenland wurde der Stein der Republik mit einer tschechischen Inschrift versehen, die übersetzt bedeutet: Uns gehört sie, unsere bleibt sie, 1938. Die Soldaten der neuen Machthaber verspotten den Anspruch mit den lapidaren Worten: Bis wir kamen, 1938. Am Ende des Krieges, als in die südlich des Sees gelegen Kaserne wieder tschechische  Zöllner und Grenzer einziehen, kommt der nicht minder militant geprägte Wahlspruch Pravda vítězí hinzu: Die Wahrheit siegt...

Die Wahrheit ist bekanntlich immer das erste Opfer aller Kriege - und sie bleibt auch deren letztes Opfer... Eine Infotafel lässt den deutschen Leser wissen: Die Bewohner von Neumühl wurden während "der sog. wilden Vertreibung am 28. Mai 1945 ausgesiedelt." - Mit der Errichtung des "sog." Eisernen Vorhangs mussten in den 1950ern auch die nachgezogenen tschechischen Zivilisten aus der Sperrzone ins Inland umgesiedelt werden. Das Dörfchen teilte dann das Schicksal so vieler entvölkerter Orte entlang der Stacheldrahtgrenzen des Kalten Krieges, verfällt in der Mangelwirtschaft des Kommunismus und wird in den 50ern schließlich dem Erdboden gleich gemacht. Damit ist für den Verfasser der Infotafel die Geschichte abgeschlossen. Mit einem Hang zu poetischer Verklärung verkündet der letzte Satz, es sei "nur eine Leere in der Landschaft und im Gedächtnis der Menschen geblieben."



Ganz so abgeschlossen ist die Geschichte dann doch nicht. Ein Verein bemüht sich um Spenden und will wenigstens die an tschechischen Gewässerwegen obligatorische Nepomuk-Statue neu errichten. Auch die Leere in der Landschaft ist längst zu neuer Geschäftigkeit erwacht: Miithilfe der geschäftstüchtigen Familie Hauser ist aus der verfallenen einstigen Kaserne ein nobles Hotel-Restaurant entstanden, gepflegte Rasen am Teich bieten den Gästen des Hauses Liegestühle und Sonnenschirme feil. Und die wieder errichtete Brücke ins österreichische Rottal, das inoffiziell Tal der Liebe genannt werde, belebt quasi die Völkerfreundschaft. Die Erinnerung an ein malerisch gelegenes Gasthaus, das auch zur späten Stunde bei den Gästen sehr beliebt gewesen sein soll, weil es attraktive Wirtinnen mit großem Herz betrieben, wird ins vorige Jahrhundert datiert - das hat was Nostalgisches...





Ein wahrer Pedalritter wie ich lässt sich niemals vom rechten Weg abbringen, na wenigstens nicht gleich vom großen Herz attraktiver Wirtinnen. Hätte das gepriesene Tal der Liebe vor allem schöne Töne zu bieten, könnte ich leicht schwach werden. Doch ich bleibe stark und das ist auch nötig, denn mein Weg führt schnurgerade den Berg hinauf - ostwärts, in Richtung  Nová Bystřice. Weitere steile Aufs und Abs liegen auf meiner Strecke, so die Burgruine Landstejn, wo ich meinen Flüssigkeitsbedarf prüfe und in einem gemütlichen Biergarten vorsorglich nachfülle.



Wenn Bunker reden könnten




Schäfchenwolken unter blauem Himmel, dichte Wäldchen hinterm goldschimmernden Getreidefeld - auch hier trügt die Idylle. Mitten im Feld
behauptet sich ein Bäumchen, das seine Wurzeln unter einem großen Findling schützen kann. Doch der Findling ist ein alter Bunker, einer von Zigtausenden, die hier Mitte der 30er Jahre errichtet wurden, um die Eroberungsgelüste benachbarter Staaten abwehren zu können - nicht nur Nazi-Deutschland stellte ein Bedrohung für die junge Tschechoslowakische Republik dar, auch Polen und und Ugarn erhoben Ansprüche auf die von polnischen und ungarischen Minderheiten bewohnte Periperie des strategisch ungünstig langgestreckten Territoriums der Tschechoslowakei.*

Mal stehen die Bunker mitten im Getreide, mal im Maisfeld - und manchmal, mit den Farben der tschechischen Nationalflagge lackiert, in absurder Nachbarschaft zu einer Miniatur-Maria, die auf einer für ihre Größe überdimensionierten Säule platziert ist. Staunen darf man immer - verstehen muss man das alles nicht.
 

 
Könnten Bunker reden, würden sie wahrscheinlich zuerst von der großen Langeweile der einst darin ausharrenden Scharfschützen erzählen, aber wohl auch von panischer Angst, wenn es ernst wurde. Was meine diesbezügliche Wissbegier betrifft, ist sie nicht mehr ausgeprägt genug, um das Bedürfnis zu entfachen, ins Innere eines Bunkers aus dem Jahre 1938 zu kriechen.

Mitten im Wald, zwischen Klášter II und der Burg Landštejn, könnte ich bei einer "Führung" durchs Muzeum opevneni (Festungsmuseum) mehr erfahren. Das "Museum" sind die vier Wände der vier Quadratmeter im Innern des Bunkers. Nein! Kein Mensch bekommt mich freiwillig durch eine Eingangsluke, die erfordert, dass ich mich um die Hälfte meiner Körpergröße zu bücken habe, damit ich in einem betonierten Erdloch den Erläuterungen eines "Museumsführers" lauschen kann. Meine klaustrophobische Toleranzschwelle ist bereits bei vergleichbaren Gelegenheiten getestet wurden. Die Anstrengungen des Tages werden mit einem Abend im vielleicht beschaulichsten Städtchen Südböhmens belohnt.



Pssst! Viel zu schön...




Gegen halb sechs erreiche ich das umwerfend schöne Städtchen Slavonice (Zlabings), das mich mit seinen restaurierten Renaissance-Fassaden ebenso beeindruckt wie mit der abendlichen Ruhe, die der historische Martkplatz und die von ihm abzweigenden Gassen verströmen. Zwar parken auch hier vereinzelte Blechkarossen, doch ingesamt ist die beschauliche Atmosphäre so schön, dass man den Namens dieses Kleinods nur im engsten Freundeskreis erwähnen sollte...

Aber was soll's? Zlabings liegt nicht nur am Greenway-Radweg, sondern ist längst auch in touristischen Prospekten beworben. Vom nächsten Ort in Österreich ist man in 10 Minuten mit dem Radel hier - knapp vier Kilometer. Die Gatronomen sind auf die Beuscher jenseuts der Grenze eingestellt.
 

 
Ein ärmlich gekleideter alter Mann steht zwischen den Holzflügeln der Tür seines Hauses und beobachtet von dort das beschauliche Hin und Her der Jugend. In seinen alten Knochen dürfte der Wandel der gesellschaftlichen Konstellationen noch um einiges tiefer stecken als in denen des privilegierten Troubadurs Karel Gott. Aber der Mann wirkt, als habe er mit allem Leid und Kummer seines ärmlichen Lebens seinen Frieden gemacht.

Von meinem Platz an einem der begehrten Straßentische des Restaurant Besídka beäuge ich abwechselnd den alten Mann und die jungen Leute, denen die Straße zu gehören scheint. Als ich die beiden Tschechen, die am einzigen nicht reservierten Tisch sitzen, fragte, ob ich mich zu ihnen setzen dürfte, antwortet einer der beiden: Warum nicht? Wir wechseln auch später noch einige Sätze auf Deutsch. Unter anderem frage ich nach dem anstehenden Doppelfeiertag, der die Wirtin meiner billigen Herberge davon abhält, mir morgen früh ein Frühstück zu servieren.

 
Bei den Feiertagen geht es zum einen um Kyrill und Method, zwei antike Missionare, die das Christentum unter die slawischen Völker brachten, und zum anderen um den Märtyrer der tschechischen Reformation, Jan Hus, dessen Todestag sich jährt... Diese Nationalfeiertage addieren sich mittels Brückentag und Wochenende zu einem Kurzurlaub, dessen Auswirkungen ich noch zu spüren bekommen werde...

 

Historie

      Bei aller heutigen Beschaulichkeit und sonnigen Abendidylle: Mein Stöbern in der wechselvollen Geschichte von Slavonice bringt auch hier manche Leiche im Keller zum Vorschein. Der Name des Städtchens bürgt für eine ur-slawische Besiedlung, doch zum Ende des 19. Jahrhunderts ist das Städtchen so gut wie ausschließlich von Deutschösterreichern der k.u.k. Monarchie bewohnt. Mit dem Untergang des Vielvölkerreiches Österreich-Ungarn geriet das 2000-Seelen-Städtchen immer tiefer in den folgenschweren Strudel politischer Machtinteressen: Ende 1918 besetzten "militante Tschechen" das Städtchen, das um 1910 zu 99 Prozent von Österreichdeutschen bewohnt war, und schlagen es unter den kriegsmüden Augen der Siegermächte des 1. Weltkrieges der neugegründeten Tschechoslowakei zu. Im 1919 geschlossenen Vertrag von Saint-Germain geben die Weltkriegsalliierten ihren Segen zu dieser tschechischen Annexion - über die Konsequenzen für die ansässige Bevölkerung verschwenden die Obrigkeiten der Siegermächte keine Gedanken.

Unter dem Deckel internationaler Verträge brodeln die resultierenden Konflikte, bis es infolge des Münchner Abkommens zum Anschluss des Städtchens an Hitlers Drittes Reich kommt. Die deutschsprachige Bevölkerung kann diesen "diplomatisch" erzwungenen Anschluss nur als Befreiung von tschechischer Vormundschaft bejubeln - dass die Bevölkerung dadurch vom tschechischen Regen in die deutsche Traufe kam, ist eine Art Ironie der Geschichte.

Zum Ende der Nazi-Herrschaft kam Slavonice wieder zur Tschechoslowakei - und damit die Willkür der Geschichte ihren weiteren Lauf. Die "Aussiedlung" von über drei Millionen Deutschen (wie auch Hunderttausender Ungarn aus der Slowakei) stand bereits seit Hitlers Drohgebärden auf der Agenda des damaligen tschechischen Präsidenten Edvard Beneš, dessen radikal-nationalistischen Interessen sich von denen anderer Staatsmänner jener Zeit kaum unterschieden. Auch den Slowaken, deren Sprache Beneš auf einen tschechischen Dialekt reduzierte, begegnete er nicht auf Augenhöhe. Die damals zur Tschechoslowakei gehörende Karpatenukraine überließ er dem Sowjetreich Stalins.

Die sogenannten Beneš-Dekrete legitimierten die Konfiszierung jeglichen Eigentums der vertriebenen Sudetendeutschen, die Enteignung der katholischen Kirchen folgte in einem Zug.
* Die Greueltaten der durch die Dekrete zu Rache aufgehetzten Tschechen wurden per Gesetz nachträglich von Strafverfolgung ausgenommen. Die Beschlagnahme des Eigentums betreffenden Dekrete sind bis heute gültig!

Beneš' fatales Bündnis mit dem Sowjetreich Stalins bescherte der Tschechoslowakei nur drei Jahre nach Kriegsende die nächsten Diktatur. Kaum war Beneš gestorben, übernahmen 1948 die tschechischen Kommunisten die Macht und lieferten das Land vollends der Paranoia des Stalinismus aus. Wegen der Lage im isolierten Grenzgebiet zwischen den Nachkriegsblöcken dümpelte Slavonice bis zum Ende des Eisernen Vorhangs vor sich hin.



Mit dem seit den 90er Jahren wiederbelebten Tourismus hat Slavonice sich zu einem Kleinod historischer Stadtarchitektur gemausert, das der Reisende heute bestaunen und wertschätzen kann. Die Häuser verschiedenster Epochen haben sich auf engstem Raum ineinander verschachtelt. Wer venzianische Fassaden und Arkaden der Renaissance - ohne das aus allen Fugen geratene Touristengewühl Venedigs - bestaunen möchte, bitteschön, hier ist die Gelegenheit! Noch haben die zwischen Prag und Wien pendelnden Kolonnen von Reisebussen das vielleicht beschaulichste Städtchen Südböhmens nicht bemerkt! Ich weiß schon jetzt, dass ich hier nicht das letzte Mal war!



Suche und du wirst doch nicht finden


Anstelle eines Frühstücks gibt es am Morgen drei Kugeln Sorbet an dem Eisbuffett links des Hotels Arkade: citron, rybíz, jahody... Die fruchtigen Sorten - Zitrone, Johannisbeere, Erdbeere - hatte ich bereits am Abend probiert und ich muss gestehen: Allein dafür würde sich ein weiterer Besuch dieses Städtchens lohnen. - Wegen des Feiertages gelang es mir nicht, in der Region, die ich heute Abend erreicht haben werde, ein Zimmer zu reservieren. Ich muss vor Ort mein Glück versuchen, nötigenfalls auf den Zeltplatz ausweichen, den ich auf der Greenway-Karte am Nordufer des Thaya-Stausees entdecke...

Nach einigem Auf und Ab in den waldigen Höhen, die das Tal der Thaya (Diji) krönen, erreiche ich am frühen Nachmittag Schloss Frain (Vrano), den fürstlichen Ausbau einer vor tausend Jahren errichteten Burgfestung. Die Jahrhunderte mit ihren verschiedenen Schlossherren hinterließen die unterschiedlichsten Erweiterungen im Baustil ihrer jeweiligen Zeit.
 

 
Während die Festung ursprünglich als mittelalterliche Trutzburg errichtet wurde, ist sie heute ein Magnet für Tagesausflügler und muss Herden von Selfie-Knipsern als Kulisse dienen. Der Blick von der Burgbrücke fällt in das zum Tourikaff ausgebaute Dorf zu ihren Füßen. Auf der Infotafel entdecke ich sogar drei Zeltsymbole - vielleicht gibt es mehrere kleinere Plätze statt einens großen? Doch ich versuche zunächst in den zahlreichen Pensionen und Hotels ein Zimmer zu finden. Nach einer Stunde des Suchens und Anklopfens gebe ich auf - alles schon verkauft! Ich werde mich wohl mit einem der Campingplätze anfreunden müssen. Doch dazu müsste ich die Staumauer queren können - und die ist komplett gesperrt, auch für Radler und Fußgänger!


Kein Hinweisschild auf der ganzen Strecke hierher! Der nächste Campingplatz sei in Bytov, erklärt mir die Rezeptionöse der kleinen Herberge mit dem seltsamen Namen Baby Hotel und zeigt mir den Campingplatz auf meiner Karte. Ziemlich weit von hier, etwa 15 Kilometer übern Berg und dann wieder ins Thaya-Tal - außerdem weit ab von meiner vorgesehenen Route. Die nette Frau unterbricht mein Bedenken, denn ihr fällt gerade ein: Es gibt eine Fähre... Laut des Fahrplans, den sie mir aushändigt, fährt sie zu jeder vollen Stunde, direkt vom Strand aus, falls ich sie richtig verstanden habe...

Ich beeile mich, die Fähre um 4 zu bekommen, doch die Straße ist schon vor dem Ufer des Stausees gesperrt. Ein lückenloser Maschendrahtzaun und ein Wachposten machen klar, dass hier definitiv kein Durchkommen ist. Eine junge Frau, die ich vor einigen Minuten nach der Anlegestelle der Fähre gefragt hatte, holt mich hier ein und staunt nun genauso wie ich und andere Passanten über die lückenlose Absperrung. Zurück zur vorherigen Abzweigung - und von dort einen schier endlos erscheinenden Berg hinauf. Ich will mich bei einem mir entgegenkommenden Fußgänger vergewissern, ob ich auch wirklich auf der richtigen Straße bin. Der Mann winkt allerdings bei meiner Kontaktaufnahme ab und macht einen Bogen. Ich zeige ihm meine Karte, doch der Mann muss schon schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht haben. Schließlich fasst er doch Vertrauen zu mir, riskiert einen Blick in meine Karte und bestätigt meine Frage mit entsprechenden Gesten. Um seine Ruhe zu haben oder weil es einfach die einzige Straße ist, die von hier nach Bytov führt.

Immer wieder kommen mir Radler entgegen, doch die sind im Geschwindigkeitsrausch der Talfahrt. Endlich erreiche ich ein Dörfichen mit einer Trankstelle. Der eher schlichte Biergarten ist offenbar das Ausflugsziel der Radfahrer aus beiden Richtungen, aus Vranow (Frain), woher ich komme, wie aus Bytov, wohin ich will - beziehungsweise muss, weil ich ja nur am anderen Ufer der Thaya (Diji) auf eine Straße kommen kann, die mich nördlich des Stausees wieder auf den Greenway führt. Bei einem der Radler erkundige ich mich erneut nach der richtigen Abzweigung, denn die Schilder in der Orstmitte von Lančov sind alles außér eindeutig. So sehr mich ein erfrischendes Pivo reizen würde, ich zögere mit dem Entschluss. Die Zapfhahnbeauftragte nimmt mir die Entscheidung ab. Nein, nicht zu gugunsten ihres Umsatzes, denn sie lässt sich seit über einer Minute nicht am Zapfhahn sehen.

Ich glaubte schon der Gipfel des Anstieges sei erreicht, doch nach einem Rechts- und einem Linksschwenk geht weiter hinauf. Wie kann das sein? Meiner Karte nach bin ich kurz vor dem Flusstal und habe noch immer mit Anstiegen zu tun? Die Karte zeigt keinerlei Serpentine, auf der es dann steil abwärts gehen könnte, sondern eine wie mit dem Lineal gezogene Strecke! Dann gelange ich an die Burgruine Cornštejn, die ein Treffpunkt sportlicher Zeltplatzgäste zu sein scheint. Der Rundblick ist durch Bäume und Gestrüpp verstellt, aber der Blick tief hinunter zur Thaya lässt ahnen, wie steil es ab hier abwärts geht.

In einem spitzen Winkel biege ich rechts auf die Hauptstraße, quere den Fluss über eine Brücke, nach der ich links dem Schildern zum Campingplatz Bytov folge. Schon die Menge der Fahrzeuge und Fußgänger, denen ich hier begegne, lässt mich befürchten, dass der Campingplatz riesig und gut gefüllt sein muss. Über einem hölzernen Verschlag am Straßenrand steht ein großes Schild mit der Aufschrift Rezepce, also halte ich an, um hier einzuchecken. Doch die Rezeption ist erst hundert Meter weiter, sagt mir der Barkeeper mit einem Blick, der nicht gerade Verständnis für meine Frage vermuten lässt. Nun ja, ich finde es nicht sehr originell, einen derartigen Tresen am Beginn eines großen Campingplatzareals Rezeption zu nennen, aber wahrscheinlich kommen hier sonst nur Eingeweihte her. Ich sehe jedenfalls keine ausländischen KFZ-Zeichen und höre unter den Anwesenden einzig und allein die tschechische Sprache.

Der Hammer des Abends ist allerdings etwas völlig Unerwartetes. An der richtigen Rezepce sagt mir der junge Rezeptionör: We are full! Ich erwidere, ich sei doch ganz allein und brauchte für mein Zelt und mein Radl keine vier Quadratmeter. Sorry, tut uns leid! antwortet der junge Schnösel. - Ich habe 80 Kilometer Berge und Täler in meinen Knochen, bin am Ende meiner Kräfte - wo soll ich zu dieser Stunde noch hin? Es tue ihm leid, wiederholt er, aber ich könne ja mal einen Blick auf den Platz werfen - und sollte ich noch irgnendwo ein Plätzchen finden, könnte ich es nutzen. Na bitte, das ist doch mal ein Wort!

 
Es sieht wirklich sehr voll aus! Ich kann nicht verstehen, wie Leute, die solche Zustände bereits kennen, überhaupt noch Verlangen nach dem "Abenteuer" Campingurlaub haben können. Was mich betrifft, habe ich heute keine Alternativen, keine Optionen, keine Wahl - ich muss etwas finden und sei es noch so eingezwängt oder abseitig.

Vier Quadratmeter für ein winziges Polyester-Königreich, in dem ich heute Nacht meine müden Knochen langstrecken kann. Ich schweife in jeden Winkel des Platzes, aber nirgends finde ich akzeptable vier Quadratmeter Fläche. Dann bemerke ich zwischen einigen Autos quasi eine letzte Parklücke und zögere keinen Augenblick, mein Zelt dort auzubauen. Die Nachbarcamper steigen über meine Spannleinen, ihre Köter beschnuppern mein Zelt. Ich weise die Autobesitzer auf meine knapp neben ihren eingelenkten Reifen eingesteckten Heringe hin. Okay, no problem! Die hiesigen Camper sind Enge gewohnt und reagieren gelassen auf ihren neuen Zeltnachbarn. Ich selbst bin weniger gelassen, aber erstmal froh, dass ich überhaupt einen Platz gefunden habe.

Dann mache ich mich auf den Weg zur Rezeption, will mich für das kulante Angebot bedanken und bezahlen. Doch der junge Mann, der eben noch so gnädig war, erklärt mir nun, er habe nochmal mit dem Boss telefoniert und der habe Nein gesagt: No exceptions! Wegen der Hygienevorschriften! Was ist mit meiner Hygiene? Ich weiß, dass jede weitere Diskussion ab jetzt nur Ärger machen würde und fange daher auch gar nicht erst damit an, lasse mir den plötzlichen Anstieg meines Adrenalinspiegels nicht anmerken und sage nur: Okay - alles klar...

Ich kehre auf der Stelle um und denke vorläufig mitnichten daran, jetzt alles wieder abzubauen, bloß weil dieser feige kleine Student, der hier den ersten Ferienjob seines Lebens macht, seinem Boss in den Hinter kriecht wie ein erbärmlicher Mitläufer aus Zeiten der Diktaturen. Mein dampfender Körper verlangt nach einer Dusche und meine Zunge ächzt nach einem erfrischenden Pivo! Zuerst werde ich das erste Bedürfnis befriedigen, dann das zweite - und danach sehen wir weiter. Während mich die bange Frage beschäftigt, welche Konsequenzen  mein nunmehr illegaler Aufenthalt zufolge haben könnte, bemerke ich, dass ich mein Radl unangeschlossen neben der Rezepce stehen ließ - nicht gut, dort nochmal gesehen zu werden...

Also nochmal zurück, das Radl holen. An  meinem Zelt klappe ich es zusammen und verstaue es unter dem winzigen Vordach meines Ein-Mann-Zeltes. Ringsum sehe ich nur steile Berghänge, eine Möglichkeit zum Wildkampieren habe ich auch am frei zugänglichen Ufer des Stausees nirgends wahrgenommen. Ober nachts der Wasserstand steigt, sei es durch eine Pumpspeicheranlage oder durch Regen, wäre eine andere Frage, die vorher geklärt sein müsste. Am Himmel brauen sich schwarze Wolken zusammen, spätestens in einer halben Stunde wird es hier gewittern und ordentlich regnen. Nein, ich verlasse den Platz auf keinen Fall! Besser ich suche mir etwas zum Unterstellen, am besten zum Untersitzen.

Bereits vorhin hatte ein kleines Weingärtchen unter dem Vordach eines Hauses gleich in der Nähe meines Zeltes bemerkt, noch ist dort kein Gast zu sehen, aber das Tor steht offen - und für solche Oasen hat ein durstiger Radler einen siebten Sinn. Für den Durst erstmal ein Bier, dann widme ich mich dem offerierten Schwerpunkt eines Weingartens und schmecke erstmals mit eigener Zunge, dass Tschechien nicht nur ein Land des Bieres ist. Ich befinde mich nun bereits Süden Mährens, einer Region, die offenschmecklich beste Bedingungen für den Anbau weißer Rebsorten bietet, jedenfalls probiere ich verschiedene Weißweine, weil ich vor allem das Kühle mag.

Auch die Erfrischung vom Himmel lässt nicht auf sich warten. Zum Glück habe ich den kleinsten Faltregenschirm der Welt in der Cargotasche meiner Shorts griffbereit, als ich beim Rückwg vom riesigen Sanitärtrakt in den Guss komme. Der Wirt sitzt mit am Tisch und surft an seinem Laptop durchs Web. Nach meinem dritten Achtel Valtice Chardonnay spendiert er mir einen Bienenstich, einen Fingerhut voll Hochprozentiges. Dobri, sage ich: gut! Ano, antwortert er: Ja, ich weiß. Und noch etwas tschechisch lerne ich bei dieser Gelegeheit. Das oft zu hörende Jaja bedeutet tatsächlich nichts anderes als: Jaja.

Inzwischen halte ich den alten Mann für vertrauenswürdig und weihe ihn in meine knifflige Situation ein - in den Grund, weshalb ich heute vielleicht sein letzter Gast bleiben könnte. Dank einer jungen Tschechin, die Englisch versteht, kann ich ihm meine alternativlose Lage vermitteln: Ich verrate ihm auch, weshalb ich meinen Blick besser in mein Notizbuch versenke, sobald eine der gelegentlich aufkreuzenden Security-Streifen in der Nähe ist. Ein Weilchen später steht der nächste Schnapps vor mir, diesmal der traditionelle tschechische Slivovice.

Der Regen lässt nach - und nimmt wieder zu. Es ist dunkel - und bleibt dunkel, denn es geht auf 11. Die Security hat ihre eventuelle Suche nach mir, so hoffe ich, aufgegeben. In dieser Hoffnung beschließe ich, doch nicht der letzte Gast zu bleiben. Ich schleiche mich zu meinem Zelt, bei dessen eiligen Aufbau ich die Inneneinrichtung vernachlässigt hatte. Nun muss ich die Matratze in der Enge des nassen Zeltes aufblasen. Das Abstreifen der regenklammen Kleidung im Sitzen fordert immer einen Tribut - mal ist es die Sonnenbrille, jetzt ist es die Lesebrille, die unter mir knirscht. Die Stirnlampe hat zuhause das ganze Jahr, als ich sie nicht brauchte, funktioniert. Und jetzt gibt sie auf! Nein, es sind nicht die Batterien, ich habe zuhause alles getestet, und Ersatzbatterien hätte ich sowieso dabei.

Ich ziehe mich wieder an, krieche wieder aus dem Zelt, gehe wieder zum Weingarten, versuche im schummrigen Licht der Taverne nach der Ursache des Stirnlampemversagens zu suchen - mit meiner Ersatzlesebrille! Es scheint ein Wackelkontakt am Schalter zu sein. Es ist immer wieder dieser teure Schrott aus China, der nach einer Weile nicht mehr funktioniert! Ich hatte extra deutlich mehr Geld ausgegeben, um etwas Verlässliches zu haben, und dann geht es einfach kaputt - genau wie die dünne Stabtaschenlampe, die schon nach einem halben Jahr durchbrannte. Schrott aus dem Reich der Mitte - Maos Rache, die Globalisierung, macht es möglich.


Nie wieder Zeltplatz

Das war die letzte Nacht meines Lebens, die ich auf einem Zeltplatz verbracht habe - oder was man noch immer so nennt... Denn eigentlich sind Campingpplätze vor allem Fahrzeugabstellplätze. Und für ein Fahrzeug, sei es der PKW mit dem Dachgepäckträger oder das platzverschlingende Wohnmobil, kann  der Zeltplatzbetreiber mehr Gebühren verlangen als fürs kleine Zelt! Und das dürfte der wahre Grund sein, weshalb die Campingplätze inzwischen richtigen Campern verwehrt werden, also Leuten, die mit Rad oder auf Schusters Rappen wandern. Verkehrte Welt. In Sachen Raffgier haben die Wendehälse und neuen Herrschaften des Ostens schnell gelernt. Traditionelle Gastfreundschaft wird es noch geben, nur muss man dazu persönliche Konakte haben oder aufbauen...

Mit den Vögeln werde ich munter, drehe mich nochmals um, doch dann ist da wieder das Schnarchen und - schlimmer: das permanente Zuschlagen der Autotüren, weil sich irgendwelche Frühaufsteher ihre Zahnbürsten oder sonstwas aus den Autos holen. Noch einmal auf die andere Seite drehen ist sinnlos. Nun kann es mir auch egal sein, jetzt lasse ich meinen Reisverschluss surren, ich steige aus. Das Zelt muss ich wieder nass einpacken und dann möglichst unbemerkt vom Platz kommen, denn die tschechische Polizei hatte noch die den Ruf, besonders kulant zu sein - ich habe es in den 80ern selbst erlebt. Zum Glück ist die Rezeption noch nicht besetzt und die Ausfahrt frei - also, nichts wie fort von hier!

Obgleich Zelten nun generell von meiner Agenda gestrichen ist, so schleppe ich die gut vier Kilo Zelt und Schlafsack nun mal mit. Also beäuge ich ab nun die Umgebung aufmerksamer nach wild kampierbaren Verstecken - nur für den Notfall! Mein Ziel bleibt ein festes Quartier, ein Dach über dem Kopf, das mich vor Regen und Gewitter schützt und den stumpfsinnigen Lärm der Welt wenigstens etwas auf Distanz halten kann. Und ich "freue" mich schon im Tal der Thaya auf den unvermeidlichen Anstieg, der mir ab der nächsten Kreuzung bevorsteht.


Ahoi, ahoi, ahoi!

Warum tummelnn sich die Tschechen eigentlich an jedem noch so kleinen Gewässer? Liegt es daran, dass Tschechien keine Küste hat und die Sehnsucht aller Landratten nach einem weiten Horizont um so größer ist? Das maritime Ahoi, mit dem sich die Tschenchen grüßen, wirkt auf binnenländischen Wegen und Pfaden absurd. Einverstanden, auch die Binnenschifffahrt braucht Kapitäne, aber wenn sich gar der Wirt der letzte Dorfkneipe den Titel Kapitáne verleiht, darf das zu denken geben. Und Herbergen haben so nautische Namen wie Hotel Nautilus. Die naheliegende Erklärung ist und bleibt eine pschoanalytische: Je ferner das Objekt der Begierde desto größer das Verlangen danach - mit dem Verlangen wächst die Phantasie, häufen sich die Nachahmungen, die Übertreibungen.

Matrosenkleidung wie blau-weiß gestreifte Pullis und Kapitänshüte ist Grundausstattung beim Junggesellenabschied - die maritime Folklore ist in Tschechien allgegenwärtig, treibt in Tschechien, Darum will auch ich heute nicht noch einmal an unsicheren Gestaden stranden, sondern beizeiten einen sicheren Hafen anlaufen... Zunächst wäre ich allerdings über ein Frühstück glücklich - die morgendliche Mahlzeit ist auf Radreisen die wichtigste des Tages.

Nach der ersten Schinderei hinauf ins Dörfchen Bytov, Namenspate des Campingplatzes im Tal, stehe ich am Vorgarten einen kleinen Hotels. Ein am Tisch sitzender Kellner bemerkt meinen fragenden Blick, steht auf und nimmt meine Bestellung auf. Mein gestriges Abendbrot blieb aufgrund der speziellen Situation flüssig, deshalb habe ich jetzt etwas an fester Nahrung nachzuholen. Minuten später stopfe mir reichlich Kohlenhydrate und Eiweis in den Magen, ersteres in Form der landestypischen Hörnchen, zweiteres in Gestalt von Omlett - auch das scheint landestypisch zu sein. Eine Scheibe Melone gehört meistens auch dazu.

Um halb neun steht die Sonne am Himmel und eine sanfte Brise erinnert mich daran, mein Zelt vom Wind trocknen zu lassen. Ich hänge das teure Polyestergewebe über den nächsten Gartenzaun. Doch der Wind wird gleich wieder faul. Zu warten, bis das Zelt richtig trocken ist, wird mir dann doch zu lang. Ich packe alles wieder ein, wie es ist. Im Dörfchen Zalesi treffe ich, wie es mir der alte Wirt gestern am Laptop gezeigt hat, auf eine Fernverkehrsstraße mit der Nummer 408. Die ist zwar etwas stärker befahren, aber sie führt mich ostwärts und in die Nähe des Kartenausschnitts, den ich auf meiner Greenway-Faltkarte sehen kann.
Ich biege rechts nach Lesná ab, wo sich linkerhand ein Biergarten findet.

Vor dem Eingang parken etliche Motorräder, eher luxuriöse als Stino-Modelle, teils auf nostalgisch getrimmt, Harley Davidson und Co. Den Grund für die Häufung erkenne ich erst im Inneren der Gastwirtschaft, die ein kleines Musum für Zweirad-Oldtimer ist, vor allem die tschechische Marke Jawa ist präsent. Es riecht nach Öl und Parfüm - auch einige junge Frauen fahren auf heiße Maschinen ab.

 

Ich werde sofort an meine eigene Motorrad-Begeisterung aus Jugendjahren erinnert. Der waren im Honecker-Gehege enge Grenzen gesetzt, aber zu einer gebrauchten 250er MZ Trophy hatte ich es dann dennoch gebracht - das war die mit dem buckligen Tank, dem sogenannten Büffeltank, der dem flotten Ofen etwas Schnittiges gab. Ersatzteilmangel und Pannen waren die ständigen Begleiter - und mitten in Rumänien wurde ein Sturz infolge eines geplatzten Reifens das vorläufige Ende meiner Ostblock-Erkundungsfahrten. Die hier und heute gelegentlichen mit Plastikblumen dekorierten Kreuze am Straßenrand erinnern mich daran, dass auch ich einst meinen Tribut an die Unfallstatistik zu zahlen hatte.


Sag mir, wo die Blumen sind

Als Radler alter Schule, ohne Helm und ohne Gurt, ohne Innen- oder Außenbordmotor, zieht die Landschaft nur langsam an mir vorrüber - ich rase nicht, ich radle! Und deshalb nehme ich jede der Grabstätten am Wegesrand wahr - sie mahnen an die besondere Vergänglichkeit eines mobilen Lebens. Ich halte jedes Mal an und studiere die Daten des Unfallopfers. Ich möchte wissen, wann, in welchem Alter und auf welche Weise die Betrauerten ihr Leben verloren. Sämtlichen Inschriften ist zu entnehmen, dass es sich um junge Männer um die 20 hielt - gewiss das leichtsinnigste Alter einer männlichen Biographie, aber es muss nicht unbedingt der eigene Leichtsinn gewesen sein, der ein junges Leben beendet oder sehr verändert. Bei mir hatte es auch schon mit 17 geknallt: Mein Moped, ein S 50, kam einem linksabbiegenden Wartburg in die Quere - zum Glück blieb es bei den Folgen diverser Beinfrakturen.

 
Ein einzelnes Grabmal oder Grabeskreuz am Straßenrand erklärt den Grund seiner Existenz üblicherweise von selbst. Der auf dem Grabstein über dem Namen des Verunglückten eingravierte Visierhelm lässt wenig Fragen offen. Am Heiligabend des Umbruchsjahres 1989 geboren, endete das Leben des 20-jährigen Zbynek im Sommer 2010 an einem der beiden Bäume, zwischen denen seither sein Grabstein steht.

Auf einem anderen Grabstein am Straßenrand fehlt der symbolische Hinweis auf die Todesursache. Nur das Todesdatum des 17-jährigen Jiri aus Jetrichovice, der 1.1. 1998, öffnet der Spekulation Türen und Tore. Dass die in euphorisch gefeierten Silvesternächten konsumierten Alkoholmengen in diesem Jünglingsalter sehr maßlos sein können, ist bekannt, im konkreten Fall dennoch nur eine Vermutung. Die Jugendjahre sind übermütig - wer sie schadlos überlebt hat, muss ein Asket gewesen sein oder ein. Nachdenken lässt mich auch die Gedenktafel an einer Brücke, die mich während der Heimfahrt bei Kostelec nad Labem ans rechte Elbufer führen wird.

 
Historie

     
Das Todesdatum der sechs namentlich genannten Tschechen ist der 7.5. 1945, ein Tag vor Kriegsende also. Wer das Leben der fünf Männer im Alter von 21 bis 40 und eines 63-jährigen auf welche Weise auf dem Gewissen hat, lässt die Überschrift offen: Zde padli za svobodu vlasti - für die Freiheit ihrer Heimat gefallen... Ehrt ihr Gedächtnis, bedeuten die tschechischen Worte am Ende der Liste. Der vermutlich zum Jahrestag niedergelegte Kranz aus Fichtenzweigen ist Mitte Juli mehr als verdorrt, nur die Plastikblüten widerstehen der Trockenheit.

 


Grün, grün, grün
sind alle meine Bäume




In den frühen Nachmittagsstunden bin ich wieder auf dem Greenway, der seinem Namen in den Wäldern des Nationalpark Podyjí voll und ganz gerecht wird.

Von einem Gipfel, beim Weingut Vinice Šabos, eröffnet sich ein herrlicher Rundblick in die Schuchten des Thaya-Tales. Der Fluss, der ein längeres Stück die Grenze zwischen Tschechien und Österreich bildet, kann hier wild strömen - mancher Kajak- oder Kanadier-Fahrer dürfte von der Passage träumen. An einer Hütte wird Wein ausgeschenkt, direkt vom Winzer also. Die meisten Radler und Wanderer machen davon Gebrauch.
 

 
Ich verkneife mir die verdiente Gipfelprämie wie auch das Schlangestehen, studiere stattdessen die Infotafel, die mich über die hier real umherkriechenden Schlangen aufklärt. Die Reptilien wissen das warme Kleinklima des Weinberges zu schätzen - für mich ein Grund mehr, rechtzeitig nach einem Nachtquartier zu suchen, wo ich vor kreuchendem und fleuchendem Getier sicher bin. Eidechsen huschen unentwegt über den holprigen und steilen Weg, der ins Tal führt.



Auf der schaukelnden Hängebrücke über die Thaya steigt das Radlervolk auch ohne Aufforderung vom Sattel. Wer hier den Brettern und Seilen nicht traut, hat ein Problem - es gibt nur diese Querung. Und die muss über Mangel an Passanten nicht klagen - sowohl das Tal als auch der Weinberg sind gut besuchte Ausflugsziele. Wenige Kilometer vor Šatov bemerke ich eine Reklamtafel, die für eine Penzion & Bar namens Almendra wirbt. Ich greife sofort zum Handy, doch die Stimme am anderen Ende der Verbindung versteht mich nicht. Auch ich verstehe wegen der vorbeiziehenden Motorvehikel kaum mein eigenes Wort. Ich versuche es mit Händen und Füßen, nur leider hilft das am Telefon nur gefühlt. Dann meldet sich ein Mann auf englisch, der mir nach kurzer Rücksprache mit der Wirtin zusichert, dass heute, und zwar nur heute Nacht, ein Zimmer frei sei. Allerdings sei man erst etwa in einer Stunde im Hause. No problem, I can wait.

Die Unterkunft erreiche ich ein Viertelstündchen später, aber ich klopfe gar nicht erst am großen Tor, sondern besuche den Biergarten an der Straßenkreuzung. Ich will mich gerade an einen leeren Tisch setzen, da spricht mich vom Nebentisch eine junge Frau an. Englisch oder Deutsch, biete ich ihr an. Sie kann beides, bevorzugt aber die Aktivierung ihrer Deutsch-Kenntnisse - na um so besser. Das unweit der Grenze zu Österreich befindliche Weindorf Šatov hat gewiss schon den einen oder anderen ausländischen Reisenden gesehen - und so ist es für die junge Frau nicht die erste Gelegenheit zur Konversation. Neben den üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin fragt sie mich nach meinem allgemeinen Eindruck von Land und Leuten. Ich erwähne deshalb mein etwas ernüchterndes Erlebnis von gestern Abend.

Ja, so sind wir Tschechen, ziemlich unfreundlich! Also ICH nicht, fügt sie ein, aber die meisten anderen. Mein Freund ist Italiener und wenn ich in Italien bin, erlebe ich immer Freundlichkeit. - Ein so offenes Bekenntnis zur Unfreundlichkeit der eigenen Landsleute gibt mir zu denken. Aber empfinde ich selbst einen Teil meiner sächsischen Landsleute und einige Zugewanderte nicht auch als Heuchler, die an einem Tag nett wie eine Stewardess lächeln und am nächsten Tag zu Giftzwergen mutiert sind? Sei es wie es ist, man darf von Einzelerlebnissen und Einzelpersonen nie aufs Ganze schließen - nicht in der heimischen Nachbarschaft noch in der Fremde. Sie fragt mich nach meinem Alter, ich lasse sie raten. Ich weiß nicht, antwortet sie, 45? Danke, dagegen hätte prinzipiell ich nichts einzuwenden.

Ihr Bierglas ist geleert und es wäre jetzt vielleicht an mir gewesen, die charmante Blondine auf ein kühles Blondes einzuladen. Doch sie ist nicht allein - ihre Begleiterin kann zwar auch Deutsch, aber nicht so flüssig, um sich am Gespräch zu beteiligen - vielleicht ist sie auch nur schüchterner. Da wäre es meinerseits taktlos, glaube ich, sie quasi als Anhängsel zu behandeln. Als sich die beiden verabschieden und den Biergarten verlassen, blicke ich ihnen nach. Die Gesprächige hat sich etwas auf die Rückseiten ihrer Schenkel tätowieren lassen - soweit ich das aus der Ferne erkennen kann, sind es zwei überdimensionierte Schmetterlinge. Als Italiener würde ich jetzt hinterherlaufen und und sagen: Warten Sie mal! Sind das Schmetterlinge? Oh, wirklich, wie schön! Haben Sie noch mehr solche reizenden Verzierungen?

Aber ich bin eben kein Italiener... Wahrscheinlich war ich mal einer in einem früheren Leben - und damals selbst reichlich tätowiert. Jetzt bin ich eben nur ein artiger deutscher Radler, der im Moment gefühlte 45 Jahre jung ist, aber trotzdem nicht verdrängen kann, dass er seine besten Jahre irgendwie schon hinter sich hat. Wehmütig greife ich zu meinem Bierglas, das weder halbleer noch halbvoll ist - mein Radlerdurst mag gestillt sein, meine Lebenslust noch lange nicht. Doch das Leben rinnt dahin wie der Inhalt eines Bierglases: die erste Hälfte ist erfrischend - mal mehr, mal weniger prickelnd, doch der Rest sublimiert so vor sich hin... Im günstigsten Falle!





Ausgleichende Gerechtigkeit?
Vielleicht gibt es sie doch

Das Stündchen, von dem der Mann am Telefon sprach, dürfte vorrüber sein. Ich versuche es mal und klopfe ans Tor. Eine Lady im Bikini öffnet mir, dirigiert mich an abgestellten Rädern vorbei in den sonnigen Hof, wo weitere Gäste bereits beim Vorbereiten des gemeinsamen Abendessens sind. Sie spricht deutsch, stellt mich allen anderen vor und ich versuche mir die acht Namen zu merken. Immerhin zwei behalte ich in der Kürze der Vorstellung: Eva (Ewwa) und Milena - jetzt muss ich nur noch herausfinden, wer von den fünf Frauen auf welchen der beiden Namen hört. Doch zuerst widme ich mich einem Vollwaschgang des Pedalritters, dann einer Handwäsche seiner Rüstung - und schließlich der Trocknung des Polyesterpalastes, der letzte Nacht mein erbärmliches Quartier war.

Die Frau im Bikini hat sich inzwischen was übergezogen - und aus ihrer besonderen Fürsorglichkeit folgere ich, dass sie die Wirtin ist - unser Boss ist eine Frau. Und zu meiner Überraschung spricht sie ziemlich gut deutsch. Wir machen heute Grill, sagt sie einladend, das Rost wird schon gesäubert. Auch die anderen Leute, durchweg in den reifen bis ausgereiften Jahrgängen, sind von zuvorkommender Freundlichkeit. Jetzt fehlt nur noch jemand, der einen alten Hippie-Ohrwurm zur Klampfe singt, dann wäre das Flowerpower-Ambiente komplett. Letzeres könnte natürlich mein Beitrag zum lockeren Kommunengefühl sein, aber ich will nicht schon wieder "arbeiten" - schon gar nicht mich in die Verlegenheit der Komplimente bringen, die dann folgen.

Es gibt sowieso keine Klampfe, das Radio dudelt leise. Ich will einfach nur die besondere Gastfreundschaft genießen, ohne viel zu reden. Ich möchte dieses hoch erfreuliche Kontrastprogramm im Vergleich zur Situation von gestern Abend auskosten. Es gibt sie also doch, die ausgleichende Gerechtigkeit! Hier geht es dem Ukulele-Lehrer so gut, wie der tapfere Pedalritter es ihm redlich verdient hat. Ich fühle mich einfach wohl und immer wohler.

 
Zu meinem Wohlbehagen trägt vor allem Milena, die Pensionswirtin in Satov, bei. Sie sorgt insbesondere dafür, dass mein Teller und mein Weinglas nie leer werden. Das nächste Glas strecke ich mit etwas Sprudelwasser und Eiswürfeln, denn der Abend ist noch jung. Sollte ich auf den ersten 400 Kilometern meiner Radelei ein paar Kilo abgespeckt haben, hier habe ich sie wieder zurück.

Dann drückt mir Milena einen mit Alufolie abgedeckten Teller in die Hand, einen zweiten trägt sie selbst und dirigiert mich die Dorfstraße hinauf die sogenannte Kellerstraße, erklärt mir Milena, weil sich hier ein Weinkeller an den anderen reiht. Die Winzer stellen nach getaner Winzerei am Wochenende ein paar Tische und Bänke auf die Straße - auf trinkfreudige Urlauber, die sich an den Tischen versammeln und den Abend beim Klang der Gläser ausklingen lassen, müssen sie nicht lange warten.



Die Abendsonne wirft ihr letztes warmes Licht auf und unter den Sonnenschirm. Über dem Schirm steigt der Mond empor, er braucht nur noch zwei oder drei Tage, bis er so rund und schön leuchtet, wie der Dichter ihn besingt. Da möchte man am liebsten zu einem ganzen Víkendové pobyty bleiben - zum Weekend-Aufenthalt. Doch morgen ist Freitag und da ist garantiert auch die letzte Ubytovani besetzt, denn das Moravský sklípek v Šatově, so steht es auf dem Transparent über der Straße, scheint überregional beliebt zu sein. Eines der Pärchen in Milenas Pension ist wie jedes Jahr aus Prag angereist, um die Tage der Mährischen Weinkeller in Šatov* und Umgebung zu genießen.

Die beiden Portionen Dinner, die wir zu einer der Besenwirtschaften bringen, sind für ein mit Milena befreundetes Winzerpaar bestimmt, das in all der vielen Schankarbeit nicht zum Kochen kommt. Natürlich ordern die Gäste ihren Nachschub auch jetzt - und so kommen die beiden auch kaum zum Essen. Dennoch bekomme ich ein kleine Extraführung in den Weinkeller. Kann man von drei Fässern Wein leben? frage ich mich. Vielleicht gibt es noch versteckte Kellernischen - oder andere Nebeneinkünfte. Aus der Kühle des tiefen Kellers zurück ins Oberirdische zu steigen, macht Durst. Mir wird eingefüllt.
 

Falls es mir bis hier noch nicht ganz klar geworden sein sollte, dass das südliche Mähren ein begnadetes Anbaugebiet - besonders für weiße Weine - ist, ab heute weiß ich es. Und staune, noch nie einen tschechischen Wein im sonst so reichhaltigen deutschen Handel erblickt zu haben. Entweder ist das hiesige Gebiet zu begrenzt, als dass es auch für den Export produzieren könnte, oder der deutsche Markt ist einfach übersättigt und ignoriert daher diese köstlichen Tropfen von Mährischen Weinbergen. Überhaupt wird diese Gegend des Landes von deutschen Urlaubern kaum wahrgenommen, jedenfalls habe ich bisher keine getroffen. Und um ehrlich zu sein - ich vermisse sie in diesem Moment auch nicht.

Als wir wieder zurück in Milenas Pension sind, bekomme ich einen Kuss - unters Ohr, also direkt an den Hals. Was für ein Kontrastprogramm! Am frühen Morgen musste ich fluchtartig einen Zeltplatz verlassen. Entsprechend verlassen fühlte ich mich - und begann sogar meine Reisepläne beziehungsweise Reisemittel in Frage zu stellen. Heute Abend bin ich ein begehrter Mann - na, sieh mal einer an! Eine junge Tschechin bestätigt die Unfreundlichkeit vieler ihrer Landsleute: So sind wir Tschechen... Denn sie sei eine Ausnahme. Und nur wenige Minuten später treffe ich weitere Ausnahmen, erlebe ich das volle Proramm an tschechischer Gastfreundschaft + Küsschen.

Jetzt muss ich mal langsam die Frauenbekanntschaften meiner bisherigen Fahrt durchzählen... Also, drei davon sind bemerkenswert - nicht schlecht für gerade mal eine Woche on the road. So kurz einige Begegnungen waren, sie hatten Herzlichkeit, wo ich sich schon mit Höflichkeit begügt hätte. Wie sieht es bei den Männern aus? Meine Zeltnachbarn blieben höflich, obgleich ich meine Zelt auf den Platz gestellt hatte, in den sie lieber ihr Auto gestellt hätten. Und der Betreiber des kleinen Weingartens spendierte mir zwei Schnäpschen, als er von meiner Situation erfuhr - er hätte mich auch an die Security-Pfeifen verpfeifen können! Tschechen denken sich: Okay, der Typ ist in Ordnung! Und spendieren einen Bienenstich. Tschechinnen denken sich: Was für ein Mann! Und spendieren ein Küsschen. Es mag sein, dass Tschechen gegen Fremde insgesamt weniger kontaktfreudig sind - als Tschechinnen.
Aber alles in allem ist meine erste Zwischenbilanz über die tschechische Freundlichkeit positiv - trotz oder wegen der gemischten Eindrücke des Vorabends.

Noch ein letztes Glas Wein mit Milena, dann ziehe ich mich in mein Zimmer zurück - ich habe etwas Schlaf nachzuholen. Ich sitze auf dem Bett, lege mich hin, denke noch einen Moment darüber nach, wie die normalsterblichen Tschechen es mit dem staatlich verordneten Nationalheiligen Jan Hus halten, dem der heutige Feiertag gewidmet ist... Noch bevor ich auch nur ansatzweise zu einer formulierbaren These komme, versinke ich im Schlaf der ausgleichenden Gerechtigkeit.


Schlamm, Matsch, Pampe, Schmodder


Am Morgen liest mir Milena wieder alle Wünsche von den Augen, tafelt mir ein Frühstück auf den Tisch im Hof. Ihre Tochter, erfahre ich nebenbei, hat die Liebe nach Deutschland verschlagen - und bei etlichen Besuchen in München hat auch Milena gut deutsch gelernt. Nimm noch eine Flasche Wasser mit, sagt sie mir zum Abschied - und drückt mir ihre Visitenkarte in die Hand. Soll ich Reklame für sie machen? Vielleicht auch das. Ich glaube, sie möchte vor allem, dass ich auf der Heimfahrt selbst noch mal vorbeischaue. Der Gedanke ist nicht abwegig, denn auf irgendeinem Weg muss ich ja zurück nach Hause radeln - warum nicht auf dem selben?

Am Ortsausgang von Šatov ist die Straße gepflastert, das Radeln wird sehr holprig. Ich bekomme einige Regentropfen ab, blicke mich um und bemerke die große schwere Regenfront hinter mir. Und nur Sekunden später beginnt es aus vollen Kannen zu schütten - ich schaffe es nicht, mein Regencape auszupacken, steuere stattdessen auf die Glastür eines kleinen Betriebes zu. Sofort springt die junge Pförtnerin auf und öffnet mir die Tür. Sogar einen Stuhl bringt sie mir!
Wahrlich, die Frauen von Šatov machen dreifach gut, was der Boss des Zeltplatzes von Bytov mit seiner Kaltschnäuzigkeit über die angeblichen Hygienebestimmungen beschädigt hat: mein Vertrauen in die tschechische Gastfreundschaft ist gerettet.

Nach 15 Minuten lässt der Regen nach und ich mache mich wieder auf den Weg. In Chvalovice quere ich die stark befahrene E59, welche die nördliche Großstadt Znojmo mit Österreich verbindet. Ein paar Wegesschlenker weiter, im Dörfchen Hnízdo, vermisse ich Wegweiser, verpasse die entscheidende Kreuzung, an der ich hätte links abbiegen müssen. Ich frage einen alten Mann, der am Zaun steht. Ja-ja, paschtscho, antwortet er sinngemäß - und bestätigt damit meine momentane Richtung. Doch die Straße wird immer löchriger und endet an einem Feldweg. Dort frage ich einen jungen Mann, der gerade sein Schubkarre aufs Feld kippt. Erst will er mich zurück zur Straße schicken, findet dann aber, dass die Straße eigentlich ein riesiger Umweg sei und ich deshalb besser den Feldweg nehmen sollte, der schnurgeradeaus nach Jaroslavice führe. Ich melde Bedenken an, indem ich auf die Beschaffenheit des Feldweges zeige. Nein-nein, kein Problem, das sei nur hier so schlammig und wird dann besser.

Der Feldweg ist reinste Idylle, er führt an Feldern und Wäldern entlang, die heute außer mir noch kein Wanderer betrat. Noch nie sah ich Meister Langohr so lange zögern, bevor er mit zwei Haken zur Flucht ansetzt und sich im Gestrüpp versteckt. Ein am Weg grasendes Reh bleibt ebenso unerschrocken und lässt sich erst aus der Ruhe bringen, als ich anhalte, ein Foto zu schießen. Kluges Tier! Als Reh kann man sich nie sicher sein, ob es so ein Zweibeiner wie ich beim Schießen von Fotos lässt. Bei aller tierischen Gelassenheit, eine gesunde Portion Misstrauen hat die Evolution diesen Geschöpfen des Waldes gelassen. Die Jäger der Steinzeit mussten ihnen an Klugheit ebenbürtig sein, um sich eine unvegane Malzeit verschaffen zu können - so ganz ohne Zielfernrohr und Feuerwaffen...

Der Weg scheint wirklich selten genutzt zu werden, und wenn dann nur von Traktoren. Höchst wahrscheinlich ist auch der Mann, der mir diese Abkürzung dringend empfahl, hier niemals anders als mit einem Traktor entlang gefahren - mit dem Rad jedenfalls ganz bestimmt noch nicht... Der mit Dung vermischte Schlamm auf dem Feldweg hat inzwischen das Profil meiner Reifen gefüllt und saut nun auch den Rest des Rades und meines Gepäcks ein. Selbst an meine Waden klebt der Matsch. Erst hoffe ich, die Pampe im Fahrtwind trocknen und sich auf der folgenden Schotterstrecke von selbst zerkrümeln. Doch ich muss das Gegenteil rsümieren: Nun haftet auch noch der Schotter im bis dahin griffigen Reifenprofil. Mit einem Stöckchen versuche ich den Schmodder zu entfernen, doch das ist Sisyphusarbeit - ich gebe es auf und wünsche mir für den Abend ein Quartier, wo ich der Sache mit dem Wasserschlauch zu Leibe rücken kann.

In Jaroslavice bekommt mein Rad endlich wieder Asphalt unter die Reifen. An der Trankstelle im Zentrum des Dorfes fahre ich zunächst asketisch vorbei, doch dann erblicke ich nahende Regenwolken und entscheide mich zur Umkehr in das überdachte Geviert des Hofrestaurants. Am Tresen klebt gut sichtbar das Passwort für die Wifi-Verbindung. Das muss ich mal ausprobieren. Funktioniert. Die Wetterapp zeigt örtliche Schauer an, lässt aber hoffen, dass es dabei bleibt. Während ich mir artig ein Nealko Birelli einpfeife, entdecke sich an der Hauswand eine Schlauchtrommel. Doch das Wasser ist abgestellt. Ich frage die Kellnerin, ob sich da was machen ließe. Die fragt die Cheffin und am Ende ist der Hahn in der Garage für mich aufgedreht. Ich bekomme den ganzen Schmodder abgespült, der sich nun im Hof verteilt. Umgehend kommt die Kellnerin und kehrt ihn in die Schleuse. Ich bedanke mich noch dreimal bei allen Beteiligten, trinke das Pivo aus, zahle - und fahre weiter.

Kurz vor Hevlin mündet der Greenway in eine Landstraße. Es gibt zwei Optionen: links oder rechts. Radweg 5 führt ins österreichische Laa an der Thaya und ist hier gleichzeitig der europäische Fernradweg 13, der auch auf den Namen Iron Curton Trail hört, weil er dem einstigen Grenzverlauf des Eisenen Vorhangs folgt. In der Gegenrichtung folge ich dem Greenway ostwärts, könnte aber auch ins 68 Kilometer entfernte Brünn radeln. Wo es sich - wie hier - lohnt, gleich für sieben Schilder einen Mast in die Erde zu rammen, lässt die Radwegbeschilderung in Tschechien nichts zu wünschen übrig. Ich bleibe auf dem Greenway, biege links auf die Landstraße ab und verlasse sie gleich an der nächsten Ecke mit einem Rechtsschwenk.
 



Den Tag nie vor dem Abend loben


Meine heutige Etappe führt überwiegend durch flaches Gelände, dazu hilft mir ein beständiger Rückenwind, was das Radeln trotz zunehmender Hitze nicht ganz so schweißtreibend macht. Dennoch kann ich 20 Kilometer nach dem erfrischenden Birelli und der Dusche für mein Radl nicht widerstehen, als ich in der Mitte von Irgendwo an eine mobile Trankstelle komme. Dieses Irgendwo könnte auch die Kreuzung zweier Pilgerwege sein, denn nur wenige Minuten nach meinem Eintreffen wird die stille Oase von einer Karawane aus etwa 50 Wanderern belagert. Wie gut, dass ich da schon mein kühles Gerstengetränk und ein schattiges Plätzchen am einzigen Sitzgruppenensemble des Ausschanks gefunden habe.



Über die beachtenswerte, generartionsübergreifende Wanderlust der Tschechen kann ich nur staunen - allerdings weniger über den allgemein verbreiteten Kollektivismus als über die Mitnahme von Sack und Pack. In Ländern mit länger gepflegter Dienstleistungstradition haben längst die Reiseveranstalter den Transfer des Gepäcks übernommen - hier wird noch anständig selbst geschleppt, als ginge es auf eine Mont Everest-Expedition ohne Sherpas.

Wenn ich bisweilen den grasierenden Herdentrieb der menschlichen Spezies verspotte, werde ich damit nicht den Individualisten gerecht, die es trotzdem oder gerade deshalb in jedem Winkel der Welt gibt. Mein besonderer Respekt gehört einem alten Mann - ich schätzte ihn auf Mitte 70, den ich mitten im Wald begegnete und von dessen riesigen Rucksack ich nur folgern konnte, dass er notfalls dort auch nächtigen kann - oder sogar will. Ja, es gibt ihn noch: den alten Indianer, den einsamen Wolf, den Einzelgänger, den Rudelvermeider, den Schwarmintelligenzverweigerer - die Hörenden, Sehenden, Denkenden, die stillen Weltenbummler, die Waldgänger.

Wer zu den Glücklichen gehört, die sich auch zu zweit einige Tage gut verstehen, verdient meinen Respekt ebenso. Im Abschnitt nach Mikulov bin ich nicht der einzige Radwanderer. Zwei junge Tschechinnen aus der Gegenrichtung grüßen mich freundlich, ich schaue ihnen - vor allem aber den lieblichen Wölkchen am Nachmittagshimmel - ein Weilchen nach. Ich hänge meinen Gedanken nach, schwelge in der sommerlichen Landidylle und werde prompt von einer Regenwolke eingeholt. Die zögert keinen Moment, ihre nasse Fracht über mir zu entlade. Doch zum Glück kann ich in der Nähe einen extra für solche Anlässe errichteten Unterstand nutzen. Die Abkühlung hält nur ein kurzes Weilchen - und nun gibt es auch Gegenwind und noch eine Steigung. Das Tachothermometer zeigt bald wieder 35 Grad.



Bevor ich die schöne Altstadt von Mikulov (Nikolsburg) aufsuche, halte ich Ausschau nach Pensionen und Hotels - es ist Freitagabend, das Städtchen ist ein begehrtes Wochenend-Domizil. Und wenn ich hier und heute auf irgendetwas nicht zu hoffen brauche, dann ist es ein Überschuss an Unterkünften. Gleich beim ersten Quartier, das ich bemerke, halte ich an. Der Preis des kleinen Hotels mit dem noch zierlicheren Namen Bonsai ist etwas über meinem Budget, aber nach einer quasi kostenfreien Zeltplatznacht und einem günstigen Quartier am Vorabend, zögere ich nicht und checke kurzerhand ein. Das Zimmer sei das letzte freie gewesen, sagt die Rezepteuse, eine freundliche junge Frau mit einer gigantischen Oberweite - und ich dachte, ich hätte auf meine alten Tage schon alle Wunder der Welt gesehen.



Vom Straßenrestaurant neben dem Touristinfo im historischen Zentrum, wo ich mir einen Griechischen Salat bestelle, habe ich einen Blick auf das abendliche Treiben des Marktplatzes. Auch wenn das Wort zu meinen am meisten ausgeleierten Vokabeln gehört, ich kann es einfach nicht treffender sagen: sehr beschaulich. Die Leute kaufen sich ein Gläschen Wein an den beiden Ständen zweier lokaler Winzer, gehen damit zu einer der Bänke an den alten Springbrunnen und genießen die Ruhe des Abends. Um die Ecke quetscht ein junger Straßenmusiker seine Quetschkommode und seine Partnerin singt dazu. Kinder spielen auf dem Brunnenrand, Wasser plätschert in Wasser. Die Sonne schickt ihre letzten Strahlen auf die Türme der Dietrichstein-Kirche.*

Unter einer Arkade der gegenüberliegenden Fassaden baut ein langhaariger Mann Tontechnik auf - ich befürchte Schlimmes und zahle schon mal, um rechtzeitig entkommen zu können. Doch die Musikerin, die bei Sonnenuntergang ein paar tschechische Volksweisen singt, ist Solistin - und sie wird mit der Tontechnik nur sehr denzent verstärkt. So ist das gut. Warum geht das in Deutschland kaum noch auf diese Weise? Warum muss in Germany immer alles so laut und aufgeblasen sein? So unromantisch, so völlig geistlos! Dabei haben wir Hölderlins und Schlegels doch die ganze Weltflucht überhaupt erst erfunden und all die romantischen Anfänge, den einen Zauber innewohnt... Wenn das hier noch so ist und so bleibt, stelle ich mich auch gern noch nach einem Glas Wein an - und lausche weiter der schönen mährischen Tonkunst. Und damit wäre der herrliche Tag mit seinen zwei kurzen Regengüssen nicht zu früh gelobt, denn es ist bereits dunkel.


Doch es kommt noch besser! Auf dem Rückweg zum Hotel höre ich in einem Hof Geigen und Zimbel, Bass und Klarinette! Kaum habe ich die Klangkörper geortet, bin ich auch schon mittem im Geschehen und zücke mein Handy, das ich den Muskern ungeniert vor die Instrumente halte - die sind ihrerseits ungeniert genug, die Kunst meiner gewagten Kameraführung* zu unterstützen. Was humor- und einfallslose Bands in ihrer Eigenreklame gern vervorheben, trifft hier wirklich zu: Man spürt ihnen den Spaß an der Sache an. Der erste Geiger ist eine Rampensau - routiniert führt er die Band als Kapellmeister an, die Geigerin folgt ihm ebenso routiniert und zwinkert nebenher zu mir - beziehungsweise in meine Handylinse. Was ich noch nicht weiß: Der Kapellmeister hat gerade ein Potpouri volkstümlicher Weisen angestimmt - und das dauert fast 20 Minuten. Manche Gäste singen den Refrain der Lieder mit, alle haben Spaß - und mein Handy zieht die Nummer durch.

Ich liebe diese Musik! Ganz ohne Mikrofon und Technik kommt sie aus. Und sie hat so viel Gemeinsamkeit mit der ungarischen Folklore, die ich in Kintertagen am Balaton kennenlernte - die instrumentale Besetzung ist quasi identisch. Nur die Gesänge sind tschechisch, für mich also unverständlich. Aber wovon handeln volkstümliche Lieder überall auf der Erde?

Richtig, von vergeblicher Liebesmüh! Ich sehe in die Augen der Geigerin und spüre an ihrem schelmischen Zwinkern, dass sie ihre eigene Liebesmüh am liebsten mit einem wahren Pedalritter wie mir vergessen würde - denn die Jungs aus der Band sind ihr einfach noch zu unerfahren. Die Musiker - alle im üblichen Vorzugsalter zwischen 20 und 30 - werden von den Frauen im Saal angeschmachtet - und was machen diese Bubis in der Pause als erstes? Sie starren in ihre Handys, erwarten Neuigkeiten von Twitter und Co.
 

 
Bei der fotografischen Dokmentation der neuesten Innovationen im Bereich der Verlängerungsstöcke zur allseits beliebten kollektiven Selbstfotografiererei stoße ich nicht bei jedem von schönen Frauen umkreisten Gast auf Begeisterung. Das muss man akzeptieren. Ich trage dem Umstand durch größtmögliche Verkleinerung und sonstige Verpixelung unbeteiligter Akteure Rechnung - es kommt ja erst- und letztlich nur auf die Länge der Teleskopstange an, die das Handy positioniert.

Der Tag klingt also sehr musikalisch aus - mehr ist aus einem Radeltag kaum herauszuholen. Was ich zu diesem berauschenden Zeitpunkt noch nicht weiß: Das Handy hat den musikalischen Beitrag im Hochkantformat aufgenommen - wahrscheinlich weil ich das Handy beim Einschalten der Aufnahme noch einen Moment hochkant hielt. So schräg mag sich das niemand ansehen und anhören. Im Internet finde ich einen Trick beschrieben, wie sich das Problem lösen lässt, wie man die Aufnahme um 90 Grad kippen und somit doch noch in die Horizontale bekommt. Es klappt - jetzt kann ich den Tag nochmals loben!



Tag der Entscheidung


Heute muss ich eine wesentliche Entscheidung treffen. Außer der von einer Internetseite gedruckten Kopie eines groben Streckenverlaufs zur Fahrt ins Slowakische Paradies habe ich keinerlei Kartenmaterial für die Slowakei- in Mikulov konnte ich keinen Buchladen oder dergleichen finden, das Touristinfo ist auch nur auf seinen eigenen Standort fixiert. Es ist Samstag, mittags schließen die Geschäfte. Die Rezepteuse im Hotel meinte, ich könnte an einer Tankstelle nach Kartenmaterial fragen. Doch die Tankstellen befinden sich nicht am Radweg - die Fernverkehrsstraße 40, die nach Valtice (Feldsberg) und Břeclav (Lundenburg) im Osten Südmährens führt, ist stark befahren. Um eine Tankstelle zu finden, werde ich mich nicht den Abgasen und Gefahren des motorisierten Wahnsinns aussetzen. Ich bleibe im Grünen - auf dem Greenway.



Der Radweg ist zunächst von Sonnenblumenfeldern gesäumt, dann führt er entlang der Grenze zu Österreich, die bis Ende '89 zum Eisernen Vorhang zwischen Ost- und Westeuropa gehörte. Heute erinnern nur einige Infotafeln am Wegesrand an die dramatischen Jahrzehnte der kommunistischen Tyrannei. Im Abstand von etwa einem Kilometer sind sie aufgestellt - ich halte an jedem! Denn die tragischen Schicksale der Menschen, die diesem furchtbaren Sytem unter höchster Gefahr für ihr Leben zu entkommen suchten, fesseln mich wie eh und je. Warum? Ich hatte es auch versucht, vermeintlich weniger riskant. Zum Glück ohne erwischt zu werden! Aber dennoch erfolglos.

Heute pedaliere ich hier ohne jedes Risko entlang - und kann nur noch meinen Respekt für die tapferen Leute formulieren, die hier ihr Leben ließen, weil sie nichts geringeres anstrebten, als ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, als der menschenverachtenden Bevormundung eines diktatorischen Systems entkommen zu wollen. Einige haben es geschafft. Andere sind beim Fluchtversuch ums Leben gekommen oder mussten jahrelang in den Gefängnissen leiden. Die meisten Radler radeln vorbei, es sind lokale Rennradler - sicher haben sie die Geschichten schon gelesen. Andererseits ist mir klar geworden, dass die Mehrheit der Menschen sich herzlich wenig für die Leiden derjenigen interessieren, die den Weg in die allgemeine Freiheit mit der ihrigen, ganz persönlichen Freiheit bezahlten.

Historie

      Eine der Infotafeln des als Iron Curtain Trail bezeichneten Radwegabschnittes, zählt die polnischen Todesopfer der 50er und 60er Jahre auf, als es auch für Polen nur die Flucht über die grüne Grenze gab - für die meisten endete sie mit dem Tod durch Stromschlag am Elektrozaun. Der leider in keinem Geschichtsbuch auftauchende Teil der Wahrheit ist, dass die Leute, die diesen Horror zu verantworten haben, größtenteils ungeschoren davon gekommen sind und wieder gut bezahlte Posten fanden oder hohe Renten beziehen...

Da sind Fluchtgeschichten von Hoffnung und Enttäuschung, wie es eine Tafel übertitelt - wobei der Begriff Enttäuschung sicher nicht die Gefühle beschreiben kann, die man hat, wenn man von bewaffneten Soldaten aus einem Versteck gezerrt und abgeführt wird. Die Verstecke in Fahrzeugen wurden meist durch Spürhunde gefunden. Selbst unter den Kohlen eines Lokomotivtrailers gab es kein Entkomme - erschütternd ist jeder einzelne der fehlgeschlagenen Fluchtversuche. Aber es gab auch erfolgreiche Fluchtversuche.

1984 baute sich ein Technikstudent heimlich einen kleinen Flieger, den er mit einem Trabant-Motor ausrüstete - er schaffte es damit, nicht nur die Grenze zu überfliegen, sondern flog sogar bis Wien!  Vier andere junge Männer gruben sich 1985 unter der Grenzanlage hindurch einen Tunnel nach Österreich - kaum zu glauben, dass sie es geschafft haben. Aber sie schafften es! Einer von ihnen lebt heute in New York. 1986 hangelten sich zwei junge Männer an den Drähten einer grenzüberschreitenden Hochspannungsleitung nach Österreich - sie vertrauten auf ihr Wissen, dass der höchste der Drähte ohne Spannung war. 1988 überflog ein junger Mann mit einem selbstgebastelten Flieger die Grenze, im Rucksack hatte er sogar noch seinen dreijährigen Sohn. Seiner Frau gelang zu gleicher Zeit die Flucht über Jugoslawien, so dass die junge Familie - Ende gut, alles gut - das geminsame Ziel ihres riskanten Abenteuers erreichte.


Mit meinen nachdenklichen Aufenthalten an den Infotafeln zieht sich der Weg in die Länge. Es ist Mittag und es wird immer wärmer. Den Gedanken, noch irgendwo radlertaugliches Kartenmaterial für die Slowakei zu bekommen, gebe ich auf. Nach meiner Erfahrung auf dem überfüllten Zeltplatz von Bykov an der Thaya wird mir ein Ausflug ins Ungewisse zu brenzlig - und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn in den Nachrichten las ich von Waldbränden in Südosteuropa - konkret zwar von Kroatien, aber die hiesen Wälder sind, von kurzen Schauern abgesehen, ebenfalls trocken. Möchte ich in einem unbewohnten Tal stecken, wenn in einem der großen slowakischen Wälder ein Brand ausbricht? Ganz gewiss nicht! Mit einem motorisierten Fahrzeug könnte man im qualmenden Gelände vielleicht noch entkommen. Doch mit der Sieben-Gang-Nabe meines Faltrades wäre ich hoffnungslos verloren. Nein, das Risiko möchte ich nicht eingehen.




In der Wendeschleife


Noch zögere ich, wie ich weiterfahre. Doch kurz vor dem Ortseingang von Valtice wird mir die Entscheidung beinahe abgenommen - rechts zweigt eine Straße ins österreichische Poysdorf ab - warum also nicht mal wieder ein Paar Sätze in einer Sprache wechseln, die ich besser verstehe als Tschechisch. Am einst bewachten Grenzübergang gibt es jetzt nur ein Museum, das die Schrecken des historischen Grenzregimes zeigt. An der Kasse sitzt niemand - ich habe wahrlich nicht die Absicht, an einer Führung teilzunehmen, schon gar nicht, wenn sie ein junger Schnösel auf tschechisch hält. Aber ich würde gern ein für mich außergewöhnlich seltenes Bedürfnis befriedigen: eine eiskalte Flasche Coca Cola trinken! Ich folge der der Stimme und finde die Führung - der junge Mann, der sie führt, unterbricht ganz locker, begleitet mich zur Kasse, um mir die Flasche zu verkaufen. Die auf ihn wartende Gruppe nimmt's gelassen.

Als ich das zuckersüße Kohlensäure-Coffein-Gemisch draußen auf der Eingangstreppe in mich kippe, trifft neben weiteren Radlern eine Gruppe Schulkinder ein, höchstens erste Klasse, es könnte sogar eine Kindergartengruppe sein. Und die Gruppe wartet tatsächlich auf die nächste Führung. Die sechsjährigen Jungs werden sich vielleicht für die ausgestellten Waffen interessieren. Aber welchen Erkenntniswert hat für gleichaltrige Mädchen eine Führung durch ein derartiges Grenzmuseum? Klar sollten sie über die Lebensumstände, die Oma und Opa zu dulden hatten, aufgeklärt werden, aber können sie in dem verspielten Alter wirklich verstehen, was es bedeutet, in einem diktatorischen Staat gefangen gewesen zu sein? Können sie kapieren, dass ihre lieben Großeltern vielleicht auch Mitläufer oder gar Spitzel und Bonzen des Systems waren?

Als ich zur Schule ging, haben uns die Lehrer durchs KZ Buchenwald geschleift - immerhin waren wir da wenigstens schon in der Oberstufe. Warum wird so kleinen Kindern heute, frage ich mich, ein derartiges Gruselkapitel vorgeführt? Zur Abschreckung? Damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie nicht artig sind? Was soll das! Die Kinder können mit sechs oder sieben Jahren niemals verstehen, was das bedeutet - sie können es höchsten fürchten. Aber damit wird nur die nächste Generation von Mitläufern und Mittätern herangezüchtet. Der regierende Teil der Menschheit lernt einfach nichts aus der (eigenen) Geschichte - und deshalb wird sie sich in dieser oder jener grausigen Form wiederholen. Schade eigentlich.

Ich rolle talwärts, erkundige mich, obgleich noch früher Nachmittag ist, bereits im langgestreckten Dorf Herrnbaumgarten nach Unterküften. Tut mir leid, ein ander Mal gern, lautet die Antwort in einer Pension mit einem schönen Hof, der den werbenden Begriffen Ruhe und Entspannung gewiss gerecht wird. Das Gleiche im kleinen städtchen Poysdorf. Im Hotel Eisenhut ist alles ausgebucht, aber die Kellnerin ist die Chefin und weiß von Alternativen, die ich versuchen könnte. In der Brunnenstraße bemerke ich ein altes Hotel, das sieht etwas herungtergekommen aus. Soweit ich mich erinnere, heißt es Poysdorfer Hof. Ich öffne das Tor und befinde mich im Durchgang zum Hof. An einer Tür lese ich handgeschriebene Verhaltensregeln, wie sie in einer Jugendherberge oder in Backpacker-Hostels üblich sind - wann es wo Frühstück gibt und dergleichen. Vor allem höre ich allerdings sehr laute arabische Popmusik, schon auf der straße hörte ich sie.

Ich gehe in die Richtung, wo der Lärm herkommt, kann aber niemand finden. Es sieht sehr unaufgeräumt aus, Gerümpel liegt in den Gängen herum - und mir wird langsam klar, dass das hier höchstens mal ein Hotel war, dass es sich nun wohl um ein Asylbewerberheim handeln wird. Dennoch finde ich es erstaunlich, dass es keinerlei Rezeption gibt, keine Security, dass alle Türen und Tore offen sind. Der Besitzer hat es, soweit man den Infos im Internet trauen kann, an die Gemeinde vermietet, die ihrer Aufnahmepflicht nachzukommen hat. Die Bürger werden nicht gefragt und fühlen sich überrumpelt. Sie machen ihrer Unmut darüber entsprechend pöpelhaft in den sozialen Netzwerken Luft - die aber die einzige öffentlich zugängliche Informationsquelle sind. Die Internetseite des einstigen Hotels bittet lediglich um Verständnis - mit drei Ausrufezeichen: Momentan können keine Reservierungen vorgenommen werden! Wir bitten um Ihr Verständnis!!!*

Zeitgeschichte

      Die kleine Stadt Poysdorf dürfte in der europäischen Nachkriegsgeschichte schon viele Flüchtlinge gesehen haben: vertriebene Sudetendeutsche, dann aus dem kommunistischen Ostblock geflohene Tschechen, Slowaken, Polen. In den 90ern die Kriegsflüchtlinge der Jugoslawienkriege. Jetzt die von Wien zugeteilten Syrien-Flüchtlinge und Migranten, die auf Merkels Trittbrett über den Balkan kamen - und kommen.

Die deutschen wie die österreichischen Obrigkeiten versuchen, die illegal über die Balkan-Route geschleusten Migranten in jeden Winkel ihrer Staatsgebiete zu verteilen - es gibt Verteilungsquoten. Die Entscheidungsträger aus Wien, Berlin und Brüpssel leben in ihren gut gesicherten Burgen und kommen medienwirksam mal für eine Stunde zu einem Vorzeige-Asylbewerberheim, wo die viel gepriesene Toleranz keinen Alltagstest besteht, weil in viel zu kurzer Zeit viel zu verschiedene Welten aufeinander treffen.

Die Visegrád-Länder* weigern sich der einseitig beschlossenen Quotenregelung der EU zu folgen, sie haben mit historisch gewachsenen ethnischen Minderheiten ihre eigenen Integrationsaufgaben zu bewältigen und sind völlig zurecht bestrebt, die in den Jahrzehnten nach dem Eisernen Vorhang gewachsene soziale Stabilität in ihren Ländern zu sichern. In Österreich wie in Deutschland fehlt es infolge der chaotischen Migrationsprozesse an Unterkünften - für Migranten wie für Urlauber. Hotelbesitzer machen einen gutes Geschäft mit den Pauschalzahlungen der Kommunen.

Es ist deprimierend, zusehen zu müssen, wie regierende Politiker jenseits aller Realität und teils jenseits internationaler Abkommen Willkommenskultur verordnen und entwurzelte Menschen verteilen als seien sie Sklaven. Hier ist gut zu sehen und zu hören, wie die Obrigkeiten nicht nicht nur keine Lösungen schaffen, sondern weitere Probleme provozieren - ziemlich explosive sogar. Viele der jungen Männer - die meisten dürften diesen Weg nur auf Druck ihrer Familien gegangen sein - werden früher oder später bitter enttäuscht sein, weil sich die falschen Versprechungen der Schleuser und der Politiker nicht erfüllen, weil der Wir-schaffen-das-Zweckoptimimus nicht ewig hält.

Im Schatten einer Mauer ruht sich ein alter Mann auf einer Bank aus - ich frage ihn nach dem Weg nach Kleinhardersdorf, wo es der Chefin vom Eisenhut zufolge eine weitere Unterkunft geben soll. Ja, immer hier am Fluss entlang - und da geht es auch zum Zeltplatz. - Letzteren inspiziere ich nur für den Notfall. Auch hier gibt es keine Rezeption, jedenfalls ist der eventuell als solche fungierende Container am Eingang nicht besetzt. Ein Wohnmobilist grüßt mich freundlich, zeigt mir die ungemütliche Ecke zwischen Mauer und Zaun, die für Zelte reserviert ist. Zwei Zelte stehen dort neben Autos mit polnischen KFZ-Kennzeichen - die Fahrzeuge haben ihre besten Jahre seit längerem hinter sich und der Mann, der eines der Zelte noch aufbaut, sieht nicht aus, als sei er hier, um Urlaub zu machen. Er beäugt mich misstrauisch, als ich ihn grüßen will.

Der nette Wohnmobilist findet seinen Stellplatz und die Lage am See richtig toll. Offenbar verbindet er mit dem Zelten eine besondere Vorstellung von Romantik oder Abenteuer, jedenfalls scheint er meine Skepsis nicht zu teilen. Ich versuche ihm zu erklären, dass es sich auf einer dünnen Isomatte, die unter einer gleichfalls dünnen Zeltplane liegt, nicht ganz so gut schlafen lässt wie in einem komfortablen Campingmobil. Ich könnte ihm vorschlagen, heute Nacht mit mir zu tauschen - aber wenn er das tatsächlich annähme, müsste ich die Nacht in seinem mobilen Wohnzimmer gewiss auch mit seiner Gattin teilen. Und das kann eigentlich niemand wollen, wahrscheinlich nicht mal der Gatte selbst.

Dann bemerke ich rechts der Straße eine leicht abseitig gelegene, eingeschossige Immobilie. Mir soll nichts entgehen, was irgendwie nach Herberge aussieht! Am Eingang befindet sich Bier-Reklame, das spricht für ein altes Wirtshaus. Beim näheren Betreten gibt es Hinweisschilder auf eine Art betreutes Wohnen, das wäre dann eher nichts für mich. Ein alter Mann nimmt mich wahr und kommt aus einer der Türen des barackenähnlichen Baus. Er bestätigt meine Annahmen, klärt mich aber schnell auf, dass er inzwischen für alles zu alt ist, was die Weiterführung seiner einstigen Gastwirtschaft erfodern würde. Schade, das ungeschliffene, einfache Ambiente des Anwesens wäre nach meinem Geschmack gewesen: Hier abends ein paar Stunden im Grünen sitzen, etwas lesen, einen kühlen Schlaftrunk auf dem Tischlein - und dann einfach die Tür hinter sich schließen und ins Bett fallen.

Zwei Kurven weiter finde ich die von der Poysdorfer Eisenhut-Wirtin empfohlene Gastwirtschaft in Kleinhardersdorf. Jetzt, wo ich es lese, fällt mir auch der Name wieder ein: Hotel Weinlandhof. Der schattige Garten gefällt mir auf Anhie - hier ließe es sich einen sonnigen Abend lang gut aushalten. Der Gastraum ist geräumig, die Kellnerin spricht nur tschechisch, holt mir eine Kollegin. Ein Zimmer für heute? Nur heute? Nur eine Person? - Ja, ja, ja. - Moment, muss gucken ob frei... Ich warte. Aber ich fühle es regelrecht, dass etwas frei ist - frei sein muss! Und warum sollte mich die gute Frau so lange zappeln lassen, wenn nichts frei wäre?



Kunst oder Zwang des Zuhörens


Die Zimmer sind einfach, der Übernachtungspreis ist für österreichische Verhältnisse wahscheinlich günstig - vermutlich nächtigen hier regelmäßig auch tschechische oder slowakische Gastarbeiter. Das Speisenangebot des Restaurants erweist sich als beachtenswert vielseitig - und gut. Ich entscheide mich für das Zanderfilet, das ein alter Mann, der auf der Bank neben mir sitzt, für sich bestellt hat. Der Mann unterhält sich mit einer Frau, die der Art und Weise der Unterhaltung und den Themen nach eine langjährige Freundin sein könnte, jedenfalls nicht seine Frau sein wird. Bisweilen ist das Gespräch unterhaltsam, doch als sie über Vor- und Nachteile diverser Versicherungen und andere Luxusprobleme reden, wird das Gelaber nervend. Nach dem Verspeisen meiner Bestellung lege ich mich auf die Hollywoodschaukel in einer Ecke des Gartens, die kurz zuvor noch von herumtollenden Kindern okkupiert war, und döse ein Stündchen.


An einem anderen Tisch unterhalten sich zwei Rentnerpärchen, die Stammgäste sein werden. Der Oberkellner, der meinem Ohr zufolge, ein fließendes Österreichisch mit tschechischem Akzent draufhat leistet den Herrschaften einige Minuten Gesellschaft. Eine der alten Damen ist äußerst witzig, erzählt Geschichten voller Sarkasmus und Selbstironie - so unentwegt, dass ich mir keine einzige Geschichte merken kann. Ich glaube, die Frau ist ziemlich geübt im Erzählen - vielleicht war sie Schauspielerin, vielleicht ist sie es noch. Sehr kurzweilig.

Am nächsten Tisch sitzt eine Mutter mit ihrer vielleicht Tochter. Die Kleine bedient souverän ihr Handy, wie es in dem Alter üblich ist. Von den beiden erfahre ich, dass nun auch in Österreich die Sommerferien begonnen haben. Auf meine Frage, wie lange die denn seien, verschlägt es mir glatt die Sprache: 9 Wochen - NEUN WOCHEN! Ich offenbare den beiden daraufhin, dass ich erwäge, umgehend einen Asylantrag in Österreich zu stellen, da man als Lehrer in Deutschland mit sechs Wochen auskommen müsse...
 





Wieviel Liter Milch
geben 10 Ochsen in 10 Tagen?

 

Mitten in der Nacht erwache ich nach wirren Traumfetzen - und kann nicht wieder einschlafen. Ich versuche es mit dem Fernseher, doch da laufen genauso wirre Sachen. Eine Moderatorin wartet vergeblich auf Anrufer, welche eine mit 30.000 Euro dotiere Preisfrage beantworten sollen. Niemand durchschaut die Falle. Oder bin ich der einzige, der diesen Unfug verfolgt?

Geschlagene zwei Minuten sagt die Moderatorin kein einziges Wort - sehr ungewöhnlich für das Medium Fernsehen, dann bekommt sie aus der Regie geflüstert, sie möge den Preis auf 33.000 erhöhen und Hilfestellungen anbieten. Man solle nicht so viel rechnen, sagt sie, am besten gar nicht... Es nützt nichts, niemand ruft an. In den anderen Programmen des Ösi-Fernsehen läuft auch nichts Gescheites. Mein Resümee: Die TV-Welt ist eigentlich noch abstruser als das Internet, wo man wenigstens nützliche Infos über Ukulelen, Fahrräder und Reisemöglichkeiten findet. Die Müdigkeit kommt langsam zurück - und so hat die kleine Zerstreuung dann doch gewirkt.


Links geht's nach Unterstinkenbrunn

 

Die ersten Kilometer des neuen Radlertages sind etwas eintönig - die Dörfer und Landschaften bieten zunächst wenig Abwechslung, doch dann lese ich komische Ortsnamen wie Ameis und Unterstinkenbrunn. Und bald wird mein Blick von den Ruinen einer Burg bei Enzersdorf bei Staatz eingefangen.
 



In dieser Ecke Österreichs lebt man so gut vom Wein wie im Nachbarland - jedenfalls ist es der Gemeinde Enzersdorf wichtig, darauf hinzuweisen. Das Gelände ist überwiegend flach. Nach Laa an der Thaya quere ich wieder die Grenze nach Tschechien und treffe kurz vor Hevlín wieder auf den Greenway, dem ich entlang von Feldern in Richtung Jaroslavice folg. Kurz vor Dyjákovice zweigt ein Pfad zu einem kleinen See ab. Verschiedene Unterstellmöglichkeiten dienen vielleicht als gelegentlicher Grillplatz für die Dorfbewohner - in jedem Fall könnte man dort auch ein Zelt unterstellen - und wahrscheinlich ungestört nächtigen. - Falls man noch nicht beschlossen hat, die Zelterei zugunsten eines im Voraus gebuchten Zimmers aufzugeben...

Am gegenüberliegenden Ufer erkenne ich die Silhouette eines sitzenden Menschen - ich drehe eine Runde hinüber und erkenne dort einen Mann meines Alters. Als ich bei ihm anhalte, grüßen wir uns und er lädt er mich zu sich auf die kleine Bank ein. Erst bin ich etwas skeptisch, ob ich überhaput hier verweilen will, aber dann bin ich auch etwas wissbegierig, auf wen oder was der Mann mit dem klapprigen alten Fahrrad hier wartet. Er versteht weder deutsch noch englisch, aber mit einem Kauderwelsch aus Tschechisch, Polnisch, Russisch und mit Händen und Füßen kann er mir verständlich machen, dass er in der Nähe einen Job hat - wahrscheinlich eher temporär und offenbar nicht am heutigen Samstag.

Ich halte ihn für einen Wanderarbeiter, der heute hier und morgen da ist - je nach dem, wo ihm jemand Quartier und etwas Geld fürs Werkeln auf Baustellen anbietet. Viel kann es nicht sein, wenn ich sein ärmliches Gepäck so beäuge, das in zerschlissenen Plastiktüten zusammengehalten wird. Er dreht sich eine Zigarette, bietet auch mir seinen Drehtaback an, aber ich kann ihm verständlich machen, dass ich seit längerem davon weg. Ich staune immer wieder, wie viele Wörter aus dem einst so ungeliebten Russischunterricht sich im Gespräch nach so vielen Jahrzehnten aktivieren lassen und dass man sich damit doch irgendwie austauschen kann - und sei es noch so spärlich.

Im Dörfchen gibt es eine Kneipe - ich habe nicht die Absicht, das Lokal zu besuchen, aber dunkle Wolken brauen sich am Himmel vor mir zusammen - und raten mir dazu, einzukehren. Das Rad samt Gepäck kann ich unter einem Vordach unterstellen, im Hof gibt es große Sonnenschirme, die ebenfalls etwas abhalten können. Auf jedem Tisch liegen Fliegenklatschen, um der ländlichen Fliegenplage etwas entgegensetzen zu können. Männer sitzen beim Bier - ich kann nicht widerstehen, die Versuchung ist so groß: Frisch und kühl gezapftes tschechisches Pilsner schmeckt so viel besser als die deutschen Entsprechungen. 


Die Kurierin


Die alten Männer stehen auf und verabschieden sich. Dafür leistet mir eine junge Radlerin Gesellschaft - sie hat mein draußen geparktes Radel mit dem Gepäck als Reiserad identifiziert und daraufhin gezielt nach seinem Eigentümer gesucht.
Wie ich radelt sie allein durchs Land - daher ist ihr ein Erfahrungsaustausch lieb. Sie erzählt mir, dass sie in Prag als Fahrradkurier arbeitet. Ihre Absicht ist es, ihre tschechische Heimat einmal in jeder Himmelsrichtung zu erradeln, diesmal ist der Osten dran, dann habe sie alle vier Richtungen komplett.

Sie bestellt sich eine knallrote Fassbrause - und Pommes. Da bekomme ich glatt Appetit - auf die Pommes. Ich kann ihr ein paar Tipps über die vor ihr liegenden Orte, die ich bereits kenne, geben. Sie will noch heute bis Mikulov oder weiter radeln. Das halte ich für sehr ehrgeizig. Während sie mal für kleine Fahrradkurierinnen geht, inspiziere ich ihr Rad. Nicht schlecht! Das ist was Sportliches - damit lässt sich Meile machen.
 

Statt eines Seitengepäckträgers klemmt nur eine dieser modernen Taschengestelle an der Sattelstange überm Hinterrad - den Rucksack auf dem Rücken ist sie als Kurierradlerin gewöhnt. Dennoch ingesamt wenig Reisiegepäck - für eine Frau eigentlich so gut wie gar nichts... Sie fährt, was Übernachtungen betrifft, wie ich auf gut Glück durchs Land, nur das auch noch ganz ohne Zelt. Ich rate ihr, statt erst im fernen Břeclav bereits im schönen Mikulov beizeiten eine der raren Unterkünfte zu suchen und dann noch etwas auszugehen zu können - die musikalischen Einlagen des schönen Städtchens könnten ihr ja auch gefallen.

 
Angesichts eines so hübschen jungen Dings namens Michaela (ich darf Miša sagen) kommt in mir schon mal eine Art Väterlichkeit durch, weshalb ich ihr nochmals nahelege, nicht zu spät nach Unterkünften zu suchen. Sie möchte ein Selfie mit mir - wir tauschen die Telefonnummern - und Sekunden später ist das Bild von einem Gerät zum anderen geschickt.


Es schmeichelt dem alten Pedalritter natürlich außerordentlich, dass bisweilen auch junge Radkurierinnen mal Schutz an seinen mächtigen Schultern suchen. Doch wie sagte schon Konfuzius? Man soll immer gerade dann aufhören zu flirten, wenn es am schönsten ist. Oder war das von Schopenhauer?

Was war noch der eigentliche Grund, warum ich hier überhaupt eingekehrt war? Ach ja, die sich zusammenbrauenden Regenwolken! Letztere sind dann doch ohne einen einzigen Tropfen fallen zu lassen vorübergezogen. Ohne die nassgrauen Drohgebärden des Himmels wären zwei Individuen aneinander vorbei pedaliert, hätten sich bestenfalls feundlich gegrüßt, aber sonst wohl nichts voneinenader er-fahre-en. Dank der Wolken hatte ich das Vergnügen, Miša kennenzulernen. Wie gut, dass wir in entgegengesetzte Richtungen fahren - wären wir in gleicher Richtung aufgebrochen, hätte sie mich mit ihrem sportlichen Rad sicher bald abgehängt.




Es klappert die Mühle am rauschenden Bach


Die nächste Rast mache ich in dem Restauranthof in Jaroslavice, wo ich bei der Hinfahrt mein Rad vom Schmodder des Feldweges befreien konnte. Hier bleibe ich tapfer und begnüge mich mit einem Espresso. Diesmal fahre ich nicht wieder über den aufgeweichten Feldweg, der mir den Matsch ans Rad und ans Gepäck gepappt hat, sondern nehme die Landstraße über Slup, wo ich eine aus Wassermühle aus dem 17. Jahrhundert besichtige.

 

Der fürstliche Eingang lässt kaum vermuten, dass an der Hinterseite des Anwesens vier Wasserräder die Fluten der Thaya schaufeln können. Noch bis in die 50er wurde hier genossenschaftlich Korn gemahlen, mangelnde Instandhaltung führte zum Verfall, bis der tschechische Staat 1970 die Mühle kaufte und restaurieren ließ. Nur vereinzelte Besucher rasten heute an diesen historischen Gemäuern, am Wochenende verstellt vielleicht auch mal ein Reisebus die im Mittagslicht leuchtenden Gemäuer.*



Ich folge der Straße weiter über Strachotice - ein Umweg, aber ohne Pampe, Schmodder, Schlamm. Der Regen, der vorhin noch ausblieb, steht nun wieder als real existierende Wolkenfront vor mir. Diesmal würde es mich draußen auf der Landstraße treffen, ich bereite mein Regencape für den Ernstfall vor. Doch ich habe es nicht mehr weit bis Šatov, zur lieben Milena, die ich inzwischen telefonisch erreichen kann.

Ja, für mich ist wieder ein Zimmer frei. Als ich bei Milena eintreffe, spüre ich, dass sie ein anstrengendes Wochenende hinter sich hat. Die Wasserpumpe war defekt und ein Kühlschrank musste repariert werden. Die neuen Gäste habe etwas geräuschintensivere Kleinkinder dabei. Das zehrt an den Nerven. Dennoch bereitet sie mir gleich ein warmes Dinner in ihrer Wohnküche. Erst zu vorgerückter Stunde kommt Milena zur Ruhe. Um so entspannender ist die Flasche Riesling, die wir am Ende des Tages im Garten hinter dem Haus leeren.


Nostalgiefreie Zeitreise





An manchen Orten scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Anblick eines alten Skoda versetzt den Betrachter in die 60er Jahre. Damals gab es weniger Autos, viel weniger, im Ostblock erst recht. Nichts stört die Illusion, mal eben in eine Zeit zurückgereist zu sein, als die Automobilisten noch nicht um Parkplätze streiten mussten. Echte Nostalgie kommt in mir dennoch nicht auf, denn die späten 60er waren auch meine ersten Schuljahre - und da gab es reichlich Gelegenheit zu lernen, dass "sozialistisch" organisierte Kinderbaufsichtigung auch nicht gerade die kunterbunte Seifenblasenwelt war, für die sie teilweise noch heute gern ausgegeben wurde... Und dass die wenigen Autos von damals uns Kindern trotzdem mehr Dreck in die Lungen geblasen haben als die vielen Diesel und Benziner von heute ist auch nicht vergessen.

Um den steilen Anstieg auf holprigen Pfaden zu umgehen, der beim Weingut Sobes sogar das Schieben schwierig macht, erwäge ich eine Alternativstrecke, passiere bei Hnanice wieder die Grenze nach Österreich. Direkt an der Grenze beginnt es zu regnen, ich suche Schutz im Grenzcafé, das gleichzeitig Wechselstube ist. Wechselstube - was für ein gemütliches Wort für einen Zweck, der mit Gemütlichkeit eher wenig zu tun hat. Nach einer halben Stunde Feldforschung im Wechselstubencafé hört der Regen auf und ich kann weiter radeln. Auf dem schmalen Feldweg am Weinberg bei Mitterretzbach muss ich dem Traktor des Weinbauern ausweichen, der nach seinen Reben schaut. Auf Manhardsberg, der höchsten Stelle des Weinberges, befindet sich der Heilige Stein, ein großer Schalenstein - der Ort diente vermutlich bereits in prähistorischer Zeit als Kultstätte.* Von einem Aussichtspodest schweift der Blick über die Hügel des Weinviertels.


Ich will auch mal bimmeln



In unmittelbarer Nähe findet sich eine Kapelle, an der fromme Katholiken eine Marien-Statue anbeten dürfen. Weniger fromme Pedalritter können am Seil der Glocke ziehen, selbige in Pendelbewegung versetzen, bis sie läutet. Sonstige Sünderseelen können an Sommerwochenenden an den Tischen und Bänken des Weingutes platznehmen und geistliche Getränke konsumieren, wie in Südmähren gedeihen hier besonders die helle Rebsorten.

Als ich wieder auf die Landstraße komme, wird es steil, sehr steil - eine Stunde lang habe ich zu schieben, bevor es etwas talwärts und dann durch ebenes Gelände geht. Über Heufurth, Mallersbach und Riegersburg nähere ich mich wieder der tschechischen Grenze und bin im südmährischen Šafov wieder auf dem Greenway. Wie so vielen Dörfchen und Städtchen in der Grenzregion lässt die ländliche Idylle nicht ahnen, welch Hin und Her die Geschichte dem etwa tausendjährigen Ort bereithielt.*

Das lange Gefälle hinab ins Thaya-Tal kann ich mit dem Rücktritt und der Felgenbremse am Vorderrad nur im Schritttempo bewältigen, beim anschließenden Anstieg bin ich noch langsamer. Gelegentlich kommt mir ein besser ausgerüstetes Rad entgegen oder zieht von hinten an mir vorbei - der Wunsch nach elektrischem Rückenwind, wie es in der Pedelec-Werbung immer so seniorengerecht heißt, ist auch in mir kaum noch zu unterdrücken. Was allgemein weniger Beachtung findet, sind anständige Bremsen - nach jedem elektroverstärkt erklommenen Berg geht es auch wieder talwärts. Da kocht das Öl in der Rücktrittnabe und die Bremsgummis radieren sich hoffnungslos an der Felge ab. Das Faltrad, das all die technischen Vorzüge der modernen Pedelcs vereint, ist einfach noch nicht erfunden oder noch nicht gebaut. Entweder muss ich noch warten - oder selbst eins bauen.



Beherrschbare Kapriziösität




In der siebten Stunde bin ich im lieblichen Slavonice, das kleine Städtchen, das einst Zlabings hieß und dessen restaurierte Altstadt mir bereits auf der Hinfahrt in meine romantische Seele drang. Ich habe ein Zimmer im Hotel Arkade* gebucht, direkt am weiträumigen Marktplatz des historischen Zentrums. Der Portier ist ein Gentleman alter Schule: Ich stehe zu Ihrer Verfügung, sagt er bei jeder zweiten Gelegenheit, trägt mein Rad die steilen Stufen in den Bier- und Weinkeller hinab und begleitet mich zu meinem Zimmer im Obergeschoss, Hofseite - das dürfte die ruhigste Nachtruhe Südmährens versprechen.

Doch auch sonst ist der historische Stadtkern ruhig, nur gelegentlich schleicht ein Auto über das alte Straßenpflaster. Ich sitze wieder an einem der Straßentische des Restaurant Besídka, in einer Nebenstraße, von der sich der Blick zum Marktplatz wie zu der Kreuzung am Brunnen öffnet. Ich bestelle mir ein Achtel Traminer und eine Pizza Capriccosa. Kapriziöser als die Pizza ist zunächst das Schwanken eines betrunkenen Mannes auf der anderen Straßenseite. Wahrscheinlich jeder der Gäste verfolgt gebannt, wie der Mann zwischen Straßenpflaster und Bordsteinkante umhertorkelt. Ich sehe ihn schon stürzen, aber er findet immer wieder die Balance - eigentlich ist das schon eine Form von Kunst und vielleicht betrachtet es der arme Wicht sogar selbst so. Übung macht den Meister. Selbst die Kapriziösität scheint beherrschbar zu sein.


Der Stadthalter bringt Nachschub

 

 
Ein weiß lackiertes Käfer-Cabrio aus den 60ern, gut gepflegt, österreichisches Kennzeichen, rollt vorbei und parkt direkt auf der Kreuzung beim mittelalterlichen Springbrunnen an, als sei sein  Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Strohhut, der Stadthalter von Slavonice. Der Fahrer steigt aus und gesellt sich zu einer Gruppe jüngerer Leute, die am Straßenrand ein paar Stühle um einen Campingtisch versammelt haben.

Der Fahrer des Oldtimers könnte - seinem Benehmen nach - der Guru einer kleinen Gruppe Bohemians zu sein, die hinter sich ein Lädchen mit selbstgeschneiderten Klamotten offenhalten. Vielleicht gibt es auch anderen Hippiekram wie Billigschmuck oder gebrauchte Bücher. Ich war nicht neugierig genug, den Laden genauer zu inspizieren. Ich mache mir so meine Gedanken über die "Konstellationen"... Die gönnerhaften Besucher sind überall beliebt, wo es an eigenen Mitteln fehlt - solange sie gönnerhaft bleiben und nicht vereinnahmend werden. Doch davon können nicht nur die Tschechen ein Lied singen. Vielleicht bringt der Mann auch nur etwas Nachschub an rauchbaren Kräutern - ein Hauch von verbranntem Gras liegt selbst in der kleinsten Kommune in der Luft.

Die Pizza ist riesig, ich schaffe kaum mehr als die Hälfte, dafür noch zwei Achtel Traminer. Das freundliche, jugendliche Personal hat alle Hände voll zu tun, jedes Mal bestelle ich bei einem anderen Kellner und bekomme von einer Kellnerin serviert. Die Rechnung bringt wieder eine andere Kellnerin. Niemand hat den Überblick verloren, auf der Rechnung steht alles komplett: einmal Pizza Capriccosa, drei Achtel Traminer.




Der Abschied muss versüßt werden



In der Nacht hat es heftig geregnet - und genau wie es die Wetter-App vorhersagte hört es in der achten Stunde wieder auf. Im Frühstücksraum erwartet der Portier alter Schule die Gäste: Stehe zu Ihrer Verfügung, mein Herr. Er serviert mir Omlett. Eine korpulente junge Kellnerin nimmt den langen Gang recht sportlich, in den 20 Minuten meines Frühstücksaufenthaltes schwabbeln die Rundungen unter ihrem hautengen baluen T-Shirt 30 bis 40 Mal an meinem Tisch vorbei - die Kerze erlischt im Sog ihres Luftzuges.

Als ich mein Rad die steilen Stufen aus dem Keller hinauf bugsiere, steht der freundliche Portier alter Schule gerade nicht zur Verfügung. Doch aufwärts ist es auf der engen Treppe sicher auch weniger riskant als hinab. Als Nachtisch zum Frühstück muss ich unbedingt eine Waffel Kugeleis vom benachbarten Eisstand haben. Bevor ich mich auf den Weg mache, genieße ich die köstliche Erfrischung auf einer Bank inmitten des weiten Marktplatzes - es fällt mir schwer, das schöne Städtchen Slavonice zu verlassen.

Die heutige Etappe führt wieder durch Böhmisch Kanada - sehr waldig und reichlich hügelig. An einer der übersichtlichsten Gipfel thront die einstige Burg Landstejn, heute nur noch ein Ausflugsziel für jede Menge Zwei- und Vierradler. Obgleich es nach dem Anstieg wohlverdient wäre, verkneife ich mir das Belohnungsgetränk - der Tag ist noch jung, ich habe noch genug kühles Wasser.
 

Weniger Kilometer weiter hätte ich erneut Gelegenheit, den Museumsbunker zu besuchen - ich höre die Stimme des Mannes, der durch den schätzungsweise höchstens fünf Quadratmeter großen Raum "führt", einige Besucher stellen Rückfragen. Für mich ist es bereits unvorstellbar, durch das enge Loch von Tür zu kriechen.


Die Schweden sind Schulkinder
Anrufe sind Studenten

 

Am frühen Abend erreiche ich Jindřichův Hradec, wo ich bei der Hinfahrt in der kleinen Penzion Manypeny am Stadtrand nächtigte - ohne Frühstück zwar, aber sonst ganz gemütlich. Diesmal wollte ich mich näher im schönen historischen Zentrum einquartieren und buchte per Booking-App ein Zimmer in einem äußerlich ganz akzeptabel wirkenden Etablissement mit dem Namen Švecova kolej.
 

Ich gebe den Begriff im Google-Übersetzer ein, als Sprache wird zu meiner Überraschung Lettisch erkannt - und ich erhalte als Übersetzung: Die Schweden sind Schulkinder. - Entweder die Namensgeber des Hauses waren sehr kreativ - oder Google weiß doch (noch) nicht alles... Definiere ich die Ausgangssprache als Tschechisch, wird das Wort als Eigenname in die Überseztungsseite kopiert. Kopiere ich nun aber die deutsche Übersetzung in die Seite der Ausgangssprache und definiere Lettisch als Übersetzung, erhalte ich als Ergebnis: Zvani ir skolēni. Wenn das jetzt lettisch sein sol, was war dann das andere? Kopiere ich zuguterletzt das neue Resultat ins Formular der Ausgangssprache, erscheint als deutsche Übersetzung: Anrufe sind Studenten...

Alles klar: Die Schweden sind Schulkinder - und deshalb sind Anrufe Studenten. Google-Übersetzungen sind mitunter wie das Flüsterspiel Stille Post, bei dem das ursprüngliche Wort ebenso abstruse Verwandlungen erfährt. Abstrus ist allerdings auch der Service in der Herberge. Beim Einchecken diskutiert die Wärterin auf Tschechisch, holt dann den Chef, der ein Dutzend Wörter Englsich kann. Ich bekomme so viel mit, dass man zwei statt nur eines Gastes für das Zimmer erwartet habe. Wo aber ist das Problem? Ich habe eine Zimmer gebucht und zahle den Preis für das Zimmer - laut booking.com: 25 Euro. Ich zeige dem aufgeregten Personal die auf meinem Handy gespeicherten Buchungsdaten.

Endlich beruhigen sich die beiden, schicken mich an einen Tisch mit einem Computer. Hier soll ich ein Formular mit meinen Personaldaten ausfüllen und ausdrucken: Ankunftstag, Abreisetermin, Passnumer etc. etc. Vor mir habe ich eine altertümliche Tastur mit tschechischen Schriftzeichen, sehr exotisch - ich suche jeden einzelnen Buchstaben. Hatten diese Service-Analphabeten jemals ausländische Gäste in ihrem Haus? Waren sie selbst jemals im Ausland in einem Hotel? Es macht nicht den Eindruck, als habe es hier seit dem Ende sozialistischer Komplettbetreung irgendeine wesentliche Veränderung gegeben - die Rezeption ist eine Wärterkabine wie in einem volkseigenen Großbetrieb, das Personal ist sowas von vor 30 Jahren, dass mein Einchecken zur Zeitreise der besonderen Art wird.

Ist nun alles geklärt? Gut, dann könnte mir die Rezeptöse das Zimmer zeigen. Sie erklärt mir den Weg - auf Tschechisch: vpravo, vpravo, ..... vlevo, vpravo- Ich verstehe: nach rechts, wieder rechst, dann irgendwas links, wieder rechts. Der Gang ist lang - so weit kann, so weit darf, soweit will sie sich nicht von ihrer Kabine entfernen. Der Begriff "alte Schule" ist für mich, das darf ich hier resümieren, ab jetzt nicht nur positiv konnotiert. Niemand steht mir "zur Verfügung" - Selbstbedienung in Vollendung. Das Zimmer ist eine Zumutung!

 
Zwei riesige Neonlampen leuchten den fünf Meter hohen Raum aus - die Stuben in der NVA-Kaserne, wo ich Anfang der 80er Grundwehrdienst zu leisten hatte, waren gemütlicher! Der Sanitärtrakt ist im Korridor, Waschbecken im Durchgang, Dusche und WC jeweils separat. Beim Einschalten des Lichts beginnen in jedem Raum die Lüfter zu rotieren - ein Boing-Triebwerk wird kaum lauter sein.

Zurück an der "Rezeption" frage ich nach einer Nachttischlampe - Lampa hieß das auf Russisch, glaube ich - das könnten sie verstehen. Ich bekomme eine alte Tischampe in die Hand gedrückt, will gleich mein Rad mit aufs Zimmer nehmen... Die Gänge sind breit, zu ebener Erde, das Zimmer ist groß - dennoch ist die Mitnahme des Rades verboten. Der Chef muss nochmals gerufen werden.

 
Er geht mit mir auf die andere Straßenseite, wo ein Dutzend riesiger Garagen die Gegend verschandelt - vermutlich dienten sie mal zur Aufbewahrung von militärischem Großgerät - in jede einzelne hätte ein Panzer hochkannt reingepasst. War das ganze Objekt ursprünglich eine Kaserne? Es sieht wirklich so aus!

Die Fahrrad-Garage, eine Halle eigentlich, steht voller Gerümpel, alte Schränke, Autoreifen, verrostete Bettgestelle und zerschundene Matratzen, zwischen den Abteilungen Stacheldrahtzaun - okay, es gibt keine Zweifel: Zumindest diese Garagen wurden ursprünglich nicht für die zivile Radfahrerei gebaut! Der Chef begutachtet mein Rad, während ich es abschließe: Elektro? - Nein, Zweibeinantrieb, erkläre ich ihm, indem ich auf meine strammen Radlerwaden zeige.

Abgeschlossen wird mit einem primitiven Vorhängeschloss. Dann versuche ich ihm zu erklären, dass dieses Objekt wie eine alte Kaserne auf mich wirkt und mit zeitgemäßer Gastronomie absolut rein gar nichts zu tun hat. Vielleicht versteht er, was ich sage, vielleicht auch nicht: Gesetze gemacht in Prag - so was in der Art erwidert er.
 

 
Ich habe das Quartier bereits mit Karte bezahlt, das Geld ist futsch. Jetzt noch ein anderes Quartier suchen, würde mir den Rest des Abends verderben - und wer weiß, ob ich überhaupt noch was finden würde. Also finde ich mich damit ab und schlendere durch die alten Gassen, in die sich bereits die langen Schatten des Abends senken.



 
Auf einem schattigen Plätzchen vor der Himmelfahrtskirche der Jungfrau Maria stehen die Tische einer Kneipe, beinahe hätte ich mich dort platziert. Ich möchte in Ruhe gern schauen, aber mein Magen, der rollt...

Ich suche einen Platz fürs Dinner, für ein lauschiges Pivo. Doch an diesem Platz schrammelt plötzlich ein junger Mann auf seiner miserabel gestimmten Klampfe. Erstaunlicherweise singt er dafür trotzdem noch ganz passabel. Die angelsächsischen Ohrwürmer aus den 60ern und 70ern sind noch immer populär - in Tschechien werden sie auf Tschechisch gesungen, im schlimmsten Fall gleich von einigen Leuten gemeinsam.
.. Ich lausche einen Moment, doch dann spaziere ich weiter und passiere die Straßentische einer anderen Kneipe - hier grüßen mich zwei Männer, einer ist Gast, der andere der Wirt. Das Tapas ist der Treffpunkt für die kleine Latino-Szene des Städtchens, der Chef ist Kolumbianer, sein Gast Peruaner. Später kommt eine Spanierin hinzu - die Konversation bleibt höflicherweise überwiegend englisch, so dass ich weiterhin zuhören und mitreden kann.

Mann kann sich seinen Namen nicht selbst aussuchen, erklärt mir Garry - der Name gefiel seinem anglophilen Vater. Er empfiehlt mir ein dänisches Pils der Marke Stella.* Dem Wirt kann es recht sein, denn Stella bringt noch ein paar Kronen mehr als das gute heimische Pivo in die Kasse. Das eigene Trinkgeld verdient sich Garry in Krumlov als Tanzlehrer: Samba, Latin Standards.
 

Als Hobby teilt Garry auf seiner Internetseite Reisetipps für seine Heimat Peru, mittels seiner tschechischen Freundin auch auf Tschechisch. Als ich ihm erzähle, dass ich während meines Altamerikanistik-Studiums neben Spanisch auch mal einen Schnellkurs Quechua absolviert hätte, ist er begeistert. Allerdings, ergänze ich, ist das 25 Jahre her, und ich ich könnte eher noch ein paar Worte Russisch aus meinem Hirn quetschen als das Vokabular der Inka-Sprache.


Nach Bohemia auswandern?


Auch die spanische Studentin möchte gern hier bleiben. Was macht das Land so attraktiv für Verweilende aus aller Welt? Die Vietnamesen, die in jedem Dorf und jeder Stadt ihre Vegetarier- und Kitschläden betreiben, sind Relikte sozialistischer Wirtschaftsverträge. Aber was hat die Latinos hierher verschlagen?
Bei der Spanierin ist es ein Studium in Prag - und die Liebe, bei den beiden anderen sind es berufliche Perspektiven. Könnte ich hier leben? Warum nicht! Slavonice wäre bisher mein Favorit als Wohnsitz. Ukulele geht überall - viele Tschechen sind musizierfreudig, das Land hat Tradition im Instrumentebau, Musik öffnet Türen - aber ewig soll auch sie nicht währen.

Was spricht gegen das Auswandern nach Tschechien? Ich müsste jünger sein und die Sprache so gut erlernen, dass ich nicht nur gut kommunizieren kann, sondern auch dann genug verstehe, wenn die Stimmung im Lande kippt - nationalistischer Fanatismus ist immer wieder möglich, überall... Ich schlendere zurück zur "Kaserne", durch den kleinen Park, an der riesigen Statue vorbei, die den Nationalheiligen Jan Hus darstellt - ein Asket muss dieser Mann gewesen sein, den seine Überzeugungen zuletzt in den Kerker und schließlich auf den Scheiterhaufen brachten.*
 

Die eifrigen Nachfolger des selbst im Angesicht des Scheiterhaufens unbeugsamen Wanderpredigers zogen in die vorreformatorischen Glaubenskriege und gingen als Hussiten in die Geschichte ein, als besonders fundamentalistische Anhänger der Hussisten galten die Taboriten, die nach der Stadt Tabor, welche mein morgiges Etappenziel ist, benannt wurden. Auch dort habe ich ein Zimmer gebucht und kann jetzt nur hoffen, dass das nicht so ein Reinfall wie das hiesige wird.


In aller Frühe


Mit den Vöglein erwache ich und zögere nicht eine Sekunde, meine Sachen zu packen. Da es noch nicht einmal Frühstück gibt, kann mich absolut gar nichts in diesen kasernenartigen Gemäuern halten. Die Nachtwächterin, bei der ich den Schlüssel für die Panzergarage hole, dürfte über mein frühzeitiges Ausrücken staunen. Ich hole mein Rad, schnalle meine Utensilien fest, schiebe das Rad über die Betonplatten des Vorplatzes und verlasse die nach Sozialismus und Volkseigentum riechende Herberge. Noch bevor es 6 schlägt, verlasse ich die Stadt in nordwestlicher Richtung.




Auf der Hinfahrt habe ich von Dírná südostwärts abgekürzt, jetzt schwenke ich in Pluhův Žďár nördlich ab, um die am ausgewiesenen Greenway liegende Sehenswürdigkeit namens Červená Lhota aufzusuchen - das rote Schlösschen steht auf einem Fels, den ein künstlicher See umgibt, so dass es einer Wasserburg gleicht - die erste schriftliche Erwähnung geht ins 15. Jahrhundert zurück, doch die Anlage soll bereits in vorhussitischer Zeit bestanden haben.* Im Innenhof sammeln sich geführte Gruppen, am Souvenirstand kaufe ich zwei Postkarten und am Kaffeeautomaten einen Capuccino - man muss alles mal probieren, denn man lernt nur aus eigenen Fehlern...




Auf der Landstraße, die mich nach Tabor führt, kommen mir zwei Rennradler entgegen - ahoi! Quellwoken deuten an, dass ich irgendwann mit Regenschauern oder auch mit Gewitter rechnen muss. Mein Quartier in Tabor befindet sich in einer ruhigen Gasse der Altstadt - nur wenige Meter sind es bis zum großen Marktplatz, der ebenso ruhig wirkt. Doch zunächst habe ich eine Dusche nötig. Als das erledigt ist, duscht es auch draußen... Die Regentropfen klatschen auf die schrägen Fenster des kleinen Mansardenzimmers. Erfreulicherweise hört der Regen bald wieder auf  und ich kann einen Abendbummel machen.


Ein lauschiger Abend

In der Mitte des Marktplatzes ist ein kleiner Pavillon errichtet worden, Lautsprecherboxen werden aufgebaut - ich befürchte baldiges Gedöns. Unter den Jalousien eines Restaurants finde ich Schutz vor dem nächsten Regenschauer. Von meinem Tisch habe ich das Treiben auf dem Platz im Blick - und am Nebentisch drei Tussis, in deren jungen Leben sich vorläufig alles um lange Wimpern, lackierte Fingernägel, glitzernde Smartphones und schicke Handtächlein dreht.
 

Ich schreibe einige Postkarten und bringe selbige zum Briefkasten in dem Postamt, wo ich die Briefmarken gekauft hatte. Die junge Frau am Schalter - möglicherweise ist sie noch in der Ausbildung - erinnert sich an mich und ruft mich zu ihrem Fenster. Weshalb? Weil sie mir vorhin zu teure Marken verkauft habe - nach Deutschland kosten Postkarten weniger. Obgleich die Marken nun auf den beschriebenen Karten kleben und somit nicht mehr austauschbar sind, gibt sie mir 15 Kronen zurück. Das kann nur bedeuten, sie zahlt die Differenz jetzt aus ihrer eigenen Tasche. You are very honestly! kann ich ihr da nur antworten.

Ich bin nun um 15 Kronen - knapp 50 Cent - vermögender, der Abend ist gerettet... Ich glaube, die Tschechinnen lieben mich - und zwar durch die Bank. Bisher habe ich jedenfalls nur nette Exemplare kennengelernt - jugendliche, erwachsene, reifere Jahrgänge. Vielleicht sollte ich doch übersiedeln? Nein, nicht nötig, denn in Ukulelestan gibt es ebeso nette Exemplare - und die besuchen mich, wenn ich nicht gerade durch die Welt radle, jede Woche, um mir schöne Lieder vorzusingen... Außerdem habe ich in Dresden sogar schon mal eine ALDI-Kassiererin erlebt, die mir ins Gesicht lächeln konnte - und das in ihrer Arbeitszeit!

 
Ich drehe noch eine Runde durch die abendlichen Gassen, komme auch an der geschmackvoll eingerichteten Bar vorbei, in der ich vor zwei Wochen eine Stunde allein saß und bei zwei Glas Pivo in aller Ruhe die Erlebnisse der ersten Reisetage notieren konnte. Auch heute Abend sieht es hier noch ganz leer aus. Beim Hotel Nautilus komme ich wieder zurück zum historischen Martplatz, der sich inzwischen mit einigem Publikum gefüllt hat.



Am Himmel ziehen schwere Regenwolken auf - der kleine Pavillon, der als Bühne dient, legitimiert sich allemal. Zum Glück kommt es statt dumpfen Gedöns dann doch ganz lauschig. Die Verstärkeranlage dient einer einzelnen Sängerin, die mit ihrer verkabelten Gitarre und dem Mikrofon nur dezent von den technischen Möglichkeiten Gebraucht macht. Sie singt Folklore zum Mitsingen und vermutlich eigene Lieder, denen das Publikum aufmerksam zuhört. So lässt es sich aushalten - vor wie hinter dem Mikrofon.

 

Gemischte Eier

Die gemütliche kleine Pension, die stilvoll als  Bed & Breakfast beschildert ist, bietet das Frühstück nur auf Nachfrage. Der freundliche, fließend deutsch sprechende Pensionär bietet mir aber gegen Aufpreis von vier Euro an, gemischte Eier (also Rührei oder Omlett) und was sonst zu einem böhmischen Frühstück gehört zu servieren. Da sage ich nicht nein.
 

 
Unweit des Dorfes Borotín zweigt ein Radweg vom Greenway zur Ruine eines Schlosses ab, seine Bauzeit ist nicht überliefert. Während der Hussitenkriege wechselte das Anwesen häufig die Besitzer, mit den Verheerungen des 30-jährigen Krieges begann der Verfall - ein restauriertes Gehöft in der Nähe zeugt noch von der einstigen Pracht.*

Im Dörfchen Borotin gibt es sogar eine Pension mit Restaurant, im Hof bestelle ich mir einen Kaffee und eine Knoblauchsuppe - die schmeckt böhmisch so gut wie mährisch. In Sedlec-Prčice, wo ich auf der Hinfahrt darüber staunte, dass die Bauarbeiten an der Brücke zwischen den beiden Ortsteilen sogar am Sonntag nicht unterbrochen werden, sind die Arbeiter weiter fleißig - heute ist Donnerstag, vielleicht schaffen sie die Öffnung der gesamten Straße bis zum Wochenende.



Von einer Anhöhe, ein paar Kilometer westlich von Sedlec-Prčice schweift der Blick in eine Ebene, nördlich des Dörfchens Měšetice erhebt sich eine Hügelkette, vor der eine Anlage mit vier großen Parabolantennen sichtbar ist. Nach welchen irdischen oder außerirdischen Signalen mag die Regierung Tschechiens hier suchen lassen? Hatte Prag schon Kontakt mit Aliens? Oder bereitet sich die tschechische Raumfahrt auf den Marsflug vor? Im Web finde ich nirgends Angaben zu dieser einsam zwischen Wäldern und Feldern platzierten Antennenanlage.

Kurz nach drei erreiche ich das Städtchen Kosovo Hora. Ich erinnere mich, dass ich mir auf der Hinfahrt (nach einer regnerischen Nacht auf dem Zeltplatz von Týnec nad Sázavou) in Ermangelung des Frühstücks hier ein Brunch in Gestalt von Pizza und Pivo gönnte. Irgendwas in der Art könnte ich jetzt auch vertragen, denn es ist Zeit für eine Art Lunch-Dinner - oder kurz: Linner.

 
Diesmal kehre ich bereits eine Ecke vor der zentralen Kreuzung ein - Elenka steht in großen aus Holz geschnittenen Buchstaben über dem Eingang. Vermutlich heißt die nette Fra so, die den kleinen Laden schmeißt. Das einzige aus der Speisekarte, was ich verstehe, ist: Cordon Bleu - also nehme ich das. Und als "Dessert" zum Vor- und Nachspülen: Pivo, prosjem.

Um die fünfte Stunde bin ich im Dörfchen Hodetice, wo eine weitere Brückenbaustelle dafür sorgt, dass die Straße temporär allein den Fußgängern und Radlern gehört, welche einstweiulen eine hölzerne Ersatzbrücke nutzen können. Hier arbeitete weder an dem Sonntag meiner Hinfahrt noch heute jemand - gewiss ist schon Feierabend. Und von mir aus könnte es auch immer so bleiben - eine von KFZ-Abgasen und Motorlärm befreite Straße ist doch eh viel angenehmer...



An einem Teich in Podělusy, wenige Kilometer vor Týnec nad Sázavou, zweigt eine Sackgasse ab und in der stehen unter zwei Sonnenschirmen zwei Bierbankgarnituren - der Begriff Feierabend füllt sich mit Leben, als der Wirt einer kleinen Stammtischdiele das Pivo-Tablett herausbringt. Mein Aluminiumesel freut sich über eine Pause und über ein Bad in der Abendsonne, mein trockener Gaumen hingegen labt sich an einem Getränk aus der traditionsreichen Brauerei Ferdinand.*

 
Im Gegensatz zum Radlerdurst lässt sich ein Waldbrand nicht so leicht löschen - vielleicht ist es auch nur eine "kontrolliert brennende" Müllhalde, die den Qualm am Horizont verursacht. In jedem Fall bin ich froh, dass ich fern genug bin und dass es nicht mehr weit zu meinem heutigen Quartier ist, wo im Ernstfall die Feuerwehr helfen kann.

In Týnec nad Sázavou erklimme ich gelassen den kleinen Anstieg zum noblen Hotel, der einzigen Herberge der kleinen Stadt, sofern man die Bettenburg des Rafting- und Kanu-Zentrums am Fluss ausklammert. Doch als ich an der Tür klinke, ist diese verschlossen und ich bemerke auch durch die Glastür keinerlei Begängnis im Haus. Auf einem Zettel an der Tür steht eine mobile Telefonnummer, die rufe ich an und erkläre auf englisch, dass ich ein Zimmer gebucht habe...

Einige Minuten später öffnet mir eine Frau die Tür und führt mich in die Rezeption, die sie heute innehat. Dank eines Gastes, der Englisch versteht, kann ich sogar in ein kleineres, das heißt preislich günstigeres Zimmer umbuchen, denn die Booking-App hatte mir nur ein teures Dreibettzimmer angeboten. Der freche Dackel der Rezeptöse findet inzwischen sein Vergnügen an meinen Beinen, als ich die Anmeldeformalitäten erledige. Der schamlose Köter scheint mich zu mögen wie ich bin, hat aber leider nicht die Manieren, mir das auf angemessene Weise mitzuteilen.

Endlich bekomme ich den Zimmerschlüssel - und endlich kann ich den liebestollen Dackel abschütteln. Das Treppenhaus ist breit, die Korridore lang, die Zimmertüren massiv. Mein umgebuchtes Zimmer liegt zur Hofseite, an die sich eine gepflegte Parkanlage anschließt - das verspricht nächtliche Ruhe vom feinsten. Eine Bühne, unter derem Dach Stühle und Bänke gestapelt sind, lässt vermuten, dass hier an manchem Wochenende auch mal der Bär steppt. Der riesige Saal und die Bühne im Innern des Hotels lassen ahnen, dass das prächtige Gebäude zu sozialistischen Zeiten auch zur Bonzen- oder Volksbespaßung gedient haben wird... Weder die hoteleigene Webseite noch andere Quellen wissen etwas über die historische Nutzung des Hauses zu berichten - vermutliche passen die "Konstellationen" der Vergangenheit nicht mehr zum gewünschten Image.


Ein paar Krümel Gras

Nur einen Steinwurf entfernt findet sich eine kleine Schenke mit Terasse, da lässt sich noch ein Viertel mährischer Rebentrunk genießen. Eine Frau entschuldigt sich, weil sie an den Tisch gestoßen ist, wodurch etwas Wein auf meine Hose kleckerte - sie sprreche deshalb so gut deutsch, weil sie seit einiger Zeit in Deutschland arbeite. Die anderen Trinkwschestern und -brüder kommen alsbald auch mit mir ins Gespräch - einer logt mein Handy ins kneipeneigene Drahtlos-Netz ein und lädt mir eine tschechische Radler-App ins Display - die sei einfach so spitze, dass sie unverzichtbar sei. Auf den ersten Eindruck wirkt sie tatsächlich sehr ansprechend, allerdings ist sie ausschließlich auf Tschechisch bedienbar - einige Wörter kenner ich ja nun, der Rest muss sich entweder erschließen oder ich habe nicht mehr davon als von den anderen Biker-Apps.

Zum Qualm handgedrehter Zigaretten mischt sich gelegentlich der Rauch von glimmenden Joints, die bei einer Bank am Park in einer Gruppe Jugendlicher zirkulieren - auch in der böhmischen Provinz ist es für den willensschwachen Menschenrest offenbar leicht, an die staatlich genehmigten Mengen von Droge zu kommen. Damit das mit dem "entkriminalisierten" Eigenbedarf funktionieren kann, müsste freilich irgendjemand auch entsprechend größere Mengen übrig haben. Wenn aber der Handel offiziell eigentlich verboten ist, frage ich mich erneut, woher sollen da nur die vielen kleinen Mengen kommen, die dann im Einklang mit dem Gesetz stehen. Plausibel oder konsequent ist die "liberale Drogenpolitik" nicht, aber sie ist eben Politik - und die wird von Politikern gemacht...

 
Die Sonne schickt ihr letztes kräftiges Orange auf die Fassaden des Hotels und in den Park auf der Rückseite, ich ziehe mich in mein geräumiges Zimmer mit dem herrlichen Blick in den Park zurück. Schnell wird es dunkel, ich teste den großen Fernseher - in Ermangelung von Sprachkenntnissen reduziert sich der Informationswert der Nachrichten auf Null.

Um etwas "abschalten" zu können, hilft auch beim tschechischen Fernsehen nur - Abschalten. Ich greife lieber zu meinem Büchlein. Nach wenigen Seiten vermischen sich die tiefsinnigen Ideen des Autors mit meinen Reflektionen - und die vermischen sich wiederum mit den Eindrücken meines langen Radlertages. Es dauert nicht lange und schon entschwebe ins Reich der schönen Träume - ganz ohne Cannabis, aber in Bacchus' Armen.



Frühstück im Schlafanzug


Morgens um sieben klopft es an der Tür und eine weibliche Stimme sagt etwas auf Tschechisch - ehe ich angezogen und an der Tür bin, ist die zur Stimme gehörende Frau fort. Auf einem Tischlein neben meiner Tür steht ein Tablett mit dem Frühstück. Auch bei einigen anderen Türen ist das Frühstück auf diese Weise serviert, der Aufschnitt mit Plastikfolie vor Fliegen geschützt. Ist so ein Frühstück aufs Zimmer eigentlich besonders extravagant? Oder spart dieser Service einfach nur den Frühstücksraum und zusätzliches Personal? Die Vorteile für den Gast sind nicht von der hand zu weisen: Man bleibt unter sich, mit sich, über sich - man muss keine sinnlosen Fragen aufdringlicher Menschen beantworten und keine Dackel vom Bein schütteln.

Nach Queren der Brücke bin ich im modernen Teil der Jawa-Stadt, hier wurden seit den 30er die Motorräder hergestellt, die später im gesamten Ostblock als Alternative zu den jeweiligen nationalen Marken galten. Die Zweitaktverbrenner verpessten die Luft heute als Oldtimer - und da Mototrrad- und Oldtimerfahrer gern im Rudel unterwegs sind, muss ich als tief atmender Radler jedesmal anhalten und warten, bis die Abgase sich verdünnt haben. Nach der Brücke verlasse ich den Greenway, um an der Sasau (Sázavou) entlang zu radeln - ich hoffe auf diese Weise einige Steigungen zu sparen. Doch der Fluss windet sich ab Kamenný Přívoz durch Täler ohne Uferstraßen, bevor er in die Moldau mündet, deshalb muss ich querfeldein und doch über manche steile Höhe hinweg - die Abgaswolken der LKW vergiften die Luft.

Im Dörfchen Kabáty verschnaufe ich bei einem Dorflädchen, wo ich mir ein paar Meruňkas gekauft habe - die saftig-süßen Aprikosen sind jetzt in bester Reife und liegen bei jedem Händler in der Auslage. Tante-Emma-Läden sind in Tschechien sämtlich in vietnamesischer Hand, selbst im letzten Dorf.
 



Bei Jílové u Prahy habe ich den schwierigsten Anstieg hinter mir, auch hier muss ich verschnaufen. Auf der Parkbank nebenan ziehen sich einige verwahrloste Männer, ältere und jüngere, ihre erste Tagesdröhnung rein, vielleicht aber auch schon die zweite oder dritte - der Qualm der selbstgedrehten Glimmstengel riecht nicht so giftig wie KFZ-Abgase, aber letztlich ist es auch Feinstaub und den mag ich nicht einschnaufen. Daher verweile ich nur kurz.

Papír a hračky - Papier  und Spielzeug. Eigentlich wäre das Lädchen am Orstausgang von Jílo bei Prag mit Papier und Plastik treffender benannt, noch besser in umgekehrter Reihenfolge - die Auslage auf dem Gehweg präsentiert jedenfalls ausschließlich Plastikzeug: neben allerlei Spielzeug zwei Dutzend Arten von Luftmatratzen und Minipools - endlich freie Marktwirtschaft...
 


Am Speckgürtel der tschechischen Hauptstadt unterquere ich die lärmende Blechlawine der E50, die Betonghettos der eingemeindeten Vororte kommen in Sicht -
nur vereinzelt sehe ich Leute durch die graue Tristesse spazieren. Als ich bei Písnice nochmals auf eine Landstraße einschwenke, kommt mir ein Grüppchen minderjähriger Jungen in eiligem Schritt entgegen, schätzungsweise zwischen 13 und 15. Der Anführer zeigt in die Richtung, aus der ich komme, und ruft mir eine Frage zu: Budapest? - Prag! antworte ich. Was war das denn? Drei minderjäjhrige Jungen zufuß auf dem Weg von Prag nach Budapest? Woher kommen sie? Wer sind sie? Ich kann sie schwer zuordnen - es können Zigeunerkinder sein, aus der Slowakei, aus Ungarn, aus Albanien, aber ebenso aus Südasien. Unbetreute minderjährige Migranten auf dem individuellen Heimweg? Über 60 Tausend sollen allein in Deutschland gemeldet sein.*

Obgleich die Millionenmetrople bereits ihr Beton in die Vororte gegossen hat, konnte sich südlich des Zentrums, zwischen der urbanen Peripherie und den Verkehrsadern am Ufer der Moldau, ein erfrischendes Wäldchen erhalten - die nach dem Prager Stadtteil Modřany benannte Schlucht - Modřanská rokle* - spendet kühle Luft und der ins Tal rauschende Písnický potok kühlt das Kleinklima weiter ab. Ich ziehe mir sogar eine Jacke über, um dem kalten Fahrtwind zu trotzen. Auf dem Rad- und Wanderweg durch die Schlucht ist von der nahen City nichts zu spüren. Erst im Stadtteil Modřany wird es wieder warm.

Auf halbem Weg zur Prager City liegt das Hotel-Schiff Botel Racek vor Anker, das mir bereits bei der Anreise als preisgünstige Unterkungt diente. Diesmal habe ich eine Kabine zur Flusseite. Die Südspitze der langgestreckten Veslařský-Insel, die über eine kleine Brücke erreichbar ist, schirmt das Rauschen Verkehrs am anderen Ufer, das an dieser breiten Stelle der Modau weit ist, zusätzlich ab - hoffentlich nervt heute Nacht nicht wieder ein drunken sailor aus Übersee.

Soweit ich mich erinnere, habe ich bei keinem meiner ungezählten Prag-Besuche jemals die Burg* am südlichen Rand des Stadtzentrums erklommen - den Tunnel unter der Burg habe ich bei diversen Touren öfters durchradelt. Heute schiebe ich mein Rad die steilen Gassen hinauf und genieße dort den Ausblick von der Burg, auf deren Höhe das Kollegiatkapitel St. Peter und Paul thront, dessen prachtvolles Portal meine Aufmerksamkeit anzieht.*
 




Gold für die Dächer
die hell in der Sonne glühn

 
Gen Norden schweift der Blick über die Brücken der Prager Innenstadt, am Horizont ragen die Türme der Prager Burg aus dem Häusermeer. Während sich am Hradschin Zigtausende von Selfie-Knipsern tummeln, lässt sich das Stadtpanorama von der hiesigen Festung ohne jeden Andrang überblicken. Die für den Abend angekündigten Regenschauer sammeln sich bereits über der Stadt.

Nach Süden, wo am Ende der Veslařský-Insel die Bäume mein schwimmendes Nachtquartier verdecken, kann der Blick dem Lauf der Moldau ebenso weit folgen. Die aus einer Sandbank entstandene Insel bietet den Booten des Yachthafens Schutz vor der Strömung. Schwer zu glauben ist, dass dieser breite Strom, der bei Mělník in die Labe mündet, selbst im Elbtal von Dresden kein breiteres Flussbett hat...
 




Weiß für die Wolken
die am Himmel fliehn





 
Der Prager Himmel hat heute Abend alles zu bieten - selten lässt sich eine solche Vielfalt an Wolken beobachten. Der Wettervorhersage nach müsste sich da oben was zusammenbrauen, teilweise sieht es bedrohlich aus. Doch dann fliehen die Wolken ostwärts über die Stadt hinweg - der angekündigte Regen bleibt gnädigerweise aus.



Im Westen klart der Himmel auf - und bereitet diesen Freitagabend in Prag auf einen Postkarten-Sonnenuntergang vor. Das Gedrängel an der Karlsbrücke schenke ich mir diesmal - stattdessen bummle ich das Moldau-Ufer nur bis zur Slovanský-Insel mit dem historischen Wasserturm. Langsam füllen sich die Restaurantschiffe mit Touris.

 
Eine Band lockt die Jugend auf die gepflasterte Uferpromenade - die Mugge wird durch einen Aufschlag auf die Getränke bezahlt, sagt der Barkeeper. Wer sich das nicht leisten kann oder will, hat sich ein Büchsenbier mitgebracht und lässt die Beine vom Kai baumeln.

Die Flaniermeile am Moldau-Ufer wäre nicht perfekt ohne die Omnipräsenz jener Kleingeräte, wegen denen die Welt der Frauen vor lauter Chatten und Twittern nicht mehr bemerkt, dass nur einen Meter entfernt der einzige Ukulele-Lehrer Mitteleuropas sitzt.

Sehr praktisch an der Selfie-Funktion der Smartphones: die moderne Frau kann die Funktion auch wie ein Spieglein nutzen und jederzeit prüfen, ob Lippenstift- und Lidschattenfarben noch da kleben, wo sie hingemalt wurden. Auch der moderne Mann darf heutzutage eitel sein - und kann auf diese Weise immer so tun, als knipse er sich selbst.
 

 



Bombe oder keine Bombe?
ist hier die Frage

Auch die Polizisten sind bei ihrer Streife auf der Uferpromenade aufmerksam, ihr geschulter Blick fällt auf einen herrenlosen Koffer, der anschließend gründlich inspiziert wird... Entwarnung! Bombenanschläge kennen die Bewohner Prags nur durch die Nachrichten aus westeuropäischen Hauptstädten.


Auch am Tunnel unter der Prager Hochburg ist gelegentlich mit Polizeipräsenz zu rechnen. Bei meiner Rückfahrt zum schwimmenden Hotel stehen zwei Uniformierte vor dem Tunnel und fangen Radlder ab, die den schmalen Rad- und Fußweg ohne abzusteigen passieren. Ein Verbotsschild ist nicht angebracht, nur eine textliche Aufforderung zum Absteigen bemerke ich nachher - auf Tschechisch...
 



Rückzug in distanzierte Einsiedelei



Freitagnacht in Prag... Ich geh' nicht in die nächste Bar... Ich bleib' nicht bis um 4! Oh nein, oh nein! - Ich bin zwar keineswegs ein Vorbild an Abstinenz wie im Lied über die drogenlose Dame, mit dem sich Lisa Fitz aufs Köstlichste über den ewigen Rummelplatz willensschwacher Zeitgenossen lustig macht, aber ich empfinde das Kommunizieren mit dem drogenabhängigen Menschenrest bisweilen ebenso erschwert - erst recht wenn dazu Fremdsprachen erforderlich sind. Falls mir die lärmende Welt dennoch einige ruhige Abendstündchen lässt und falls der drogenabhängige Menschenrest nicht durch die Gänge poltert, würde ich gern etwas lesen.

Meine Reiselektüre wurde in einer Zeit verfasst, als die Fahrräder eigentlich noch Laufräder mit blechbeschlagenen Holzreifen waren - und das Radeln ein teurer Spleen wohlhabender Snobs, die zum Entsetzen bürgerlicher Flaniergruppen durch öffentliche Parkanlagen rasten. Verglichen mit dem permanenten Verkehrslärm von heute mögen die Zeiten, in denen der Verfasser lebte, still gewesen sein - dem Denken wohlgesonnen. Doch die dampfenden Anfänge des Industriezeitalters warfen ihren Lärm, Dreck und Gestank voraus - Thoreau, Gauguin und andere Schwärmer nährten die Sehnsüchte der Belesenen nach Weltflucht, Einsiedelei, Exotik. Max Stirners Betrachtungen über die menschliche Gesellschaft waren damals so unbequem wie heute.
In der geistlosen, unterhaltungssüchtigen Atmosphäre unserer Tage, in der die Schwarmintelligenz mediengesteuerter Wir-Wesen den selbst denkenden Einzelnen zum Außenseiter mobt, hat Stirners kritische Analyse ideologischer Konstrukte nichts nur nichts an Bedeutung verloren, sondern eigentlich noch hinzugewonnen. Aber wer liest so was heute schon? Die Bundeskanzlerin und ihr Beratertross ganz bestimmt nicht...



Räume zu finden, wo sich der willensstarke Mann in die distanzierte Einsiedelei einer drogenlosen Dame zurückziehen kann, wird schwierig - bis unmöglich. Meine relativ stille Klause ist heute Abend die kleine Kabine des Hotelschiffs, wo ich es mir am Fenster mit einem Viertel Cabernet-Syrah gemütlich mache. Die letzte Fähre landet an der Insel, die mittels einer Brücke zum hiesigen Ufer verbindet. Im Gang höre ich Schritte und Stimmen - zum Glück in Sprachen, die ich nicht verstehe. Ein langer Tag auf Asphalt und Straßenpflaster schafft natürliche Müdigkeit, aber keine natürliche Ruhe - und daher bleibt der rote Wein für alte Knaben weiterhin eine der schönsten Gaben.


Beneidenswerte Kaffemaschine?

In dieser Nacht blieb ich vom Poltern betrunkener Seeleute verschont - so kann ich mich ausgeschlafen dem bescheidenen Frühstücksbüffet an dder großen Kombüse widmen. Es regnet an diesem Morgen, aber die Wetterapp verspricht in der 9. Stunde Besserung - ich kann mir Zeit lassen. unermüdlich zerbröseln die Hörnchen auf den Tischen, ich hole mir zum Abschluss nochj ein Tässchen Kaffee vom Automaten. Die elektronische Statusmeldung einer Bekannten, die sich die Aufmerksamkeit wünscht, welche eine Kaffemaschine erhalte, indem sie dauernd "gedrückt" werde, macht mich nachdenklich... Der hiesige Kaffeeautomat wird pro Minute 20 Mal gedrückt, schreibe ich ihr, als ich wieder am Tisch bin, und frage, ob ihr das lieb wäre, so oft gedrückt zu werden...

Tatsächlich hört es wie von der App vorhergesagt auf zu regnen. Ich mache mich in die Spur. Wo gestern Abend die Flaneuere und Flaneusen spazierten, wo zig Tausende Plastikbecher mit Bier gefüllt und Hunderte Joints gedreht wurden, ist jetzt ein Trödelmarkt, wo es den Trödel gibt, den es auf Trödelmärkten eben so gibt - vor allem aber drängel sich viele Menschen um diesen Krimskrams. Die Uferpromenade ist daher unbefahrbar und ich muss auf der Straße bleiben, die ich mir mit den Luftverpestern der Ölverbrenner teilen muss, bis ich auf einen Fußgängerboulevar ausweichen kann.

Mein Plan ist: vom Prager Bahnhof Masarykov die Bahn zu nehmen, um dem Verkehr der Vorstädte und dem Grau der Betonghettos zu entkommen. Denn ich will diesmal nicht dem direkten Moldau-Radweg bis zur Mündung in die Elbe bei Mělník folgen, sondern ostwärts ausschwärmen, wo ich bereits bei Čelákovice an die Elbe
gelange. In der Bahnhofshalle rufe ich den Fahrplan über die DB-App ab, bekomme gleich den Kauf eines Fahrscheins angeboten. Während am Ticketschalter eine Schlange steht, habe ich Sekunden später mein digitales Ticket im Display - und ich dachte, ich sei der letzte Indianer, der sich der Nutzung moderner Technik widersetzt... Hier glaube ich eher, dass ich sehr fortschrittlich bin.


Der nächste Ballanceakt

Vor der großen Anzeigetafel, auf der die Nummer des Bahnsteiges erst Minuten vor Ankunft und Abfahrt des Zuges bekanntgegeben wird, torkelt ein Betrunkener - er übertrifft die Ballancekünste des Mannes in Slavonice um einiges, indem er während des Torkelns irgendeinen Fastfood-Matsch in sich schlingt. Dabei entgleiten ihm Teile des Matsches, in denen er bisweilen ausrutscht, so dass alle anderen Reisewilligen ruckartige ausweichen und eine Sturzlänge Abstand halten. Doch zum Erstaunen aller Beobachter fängt sich der Kerl immer wieder, schwankt umher und sabbert wie eine Kuh.

Die Anzeige hat der arme Tropf dennoch im Blick und folgt, als dier Bahnsteig bekannt ist, den vor ihm Flüchtenden auf den Tritt. Im Zug bleibe ich gleich auf dem Peron, denn die Fahrt bis Čelákovice ist kürzer als eine halbe Stunde. Der Betrunkene schlingert der Wagentür entgegen, wo ich selbst eingestiegen bin, stolpert herein, lässt sich auf die erste Bank im nächsten Abteil sinken - sein Kopf rutscht am Fenster hinab auf das Klapptischlein, wo Reste seines Frühstücks liegen, schlagartig fällt der arme Schlucker in den tiefsten Schlaf. Dem freundlichen jungen Schaffner gelingt es, ihn zur Fahrscheinkontrolle zu wecken, doch kurz vor Čelákovice bleibt sein Bemühen,
ihn zu wecken, ohne Erfolg. Der Betrunkene kippt nur zur anderen Seite und pennt weiter - wahrscheinlich ist das besser für ihn. Mein Respekt gilt dem Schaffner, der trotz der würdelosen Situation, in der sich der Säufer befindet, nicht seine Höflichkeit vergisst.


Vom Asphalt aufs Holperpflaster





Der Asphalt auf dem Elbe-Radweg zwischen Čelákovice und Brandýs nad Labem, glänzt noch, so frisch muss er sein. Auch die kleinen gekiesten Rastplätze sehen sehr neu aus - und die Kinder der örtlichen Schulen durften an den Betonhütten mitgestalten - zum Standard dieser schablonenartigen Rastplätze gehören auch installierte Sportgeräte, damit die Pause den Kindern nicht zu langweilig wird - und die Eltern mal in Ruhe eine rauchen können... In Brandýs geht es über eine Brücke ans rechte Ufer und nach der Stadt wird es holprig. Der Radweg ist so ausgeschildert, aber ich bin der einzige, der hier pedaliert, so dass ich Zweifel hege, ob es am anderen Ufer nicht vielleicht  eine Alternativstrecke gibt.



Die mit grobem Sandstein gepflasterten alten Treidlerpfade entbehren die Eignung zum Radeln, auch das Schieben ist eine Quälerei, weil das Gepäck sich lockert und aus seiner sonst sicheren Befestigung rutscht. Am anderen Ufer scheint es einen besseren Weg zu geben, auf dem sogar einige Autos zu den Gartengrundstücken fahren. Auf der hiesigen Seite ist das Ufer von einem Wäldchen begrenzt und nur einige Angler treffen sich hier, manche gruppieren ihre Angelruten, andere kampieren in Gruppen.



Der zugewachsene Treidlerpfad, den nur die Reifenspuren erkennbar halten, könnte der romantischste Teil des gesamten Elbe-Radweges sein, aber das Geholper strengt an. Ich kann nur hoffen, dass hier kein Regen kommt, denn dann würde der festgefahrene Elbschlamm aufweichen. Doch selbst diese Schikanen erforderten nur etwas mehr Zeit, Kraft und Geduld sie zu überwinden. Der Raubbau an der Natur, der nur ein Stück weiter betrieben wird, ist nicht so leicht zu überwinden...



Der Kontrast könnte größer nicht sein - nur wenige Kilometer nach der Idylle ragen die Schornsteine einer riesigen Chemiefabrik in den Himmel. Um so wenig wie möglich von der giftigen Luft, die ich rieche, einzuatmen, versuche ich meine Atmung flach zu halten. Aus den Ruinen eines alten Backsteingebäudes wuchert Grün - ein Zeichen, dass die Natur sich über die Jahrzehnte so manches von Menschen vergiftete Areal zurückerobern kann.



Giftcocktail fürs Brudervolk


 
Wozu wird all das chemische Gebräu, das hier bei Neratovice zusammengerührt wird, benötigt? Ja, gewiss auch für das Putzmittel, das Mutti gerade eben einsetzt, um die Heckscheibe der kleinen Motoryacht zu putzen, während Vati vorn am Steuer sitzt und Benzin verheizt, weil es so schön ist, zu zweien die Elbe hoch und runter zu schippern, ohne dabei mehr als ein paar Finger bewegen zu müssen...


Historie

      Der blaue Schriftzug am oberen Rand eines Kühlturms lautet Spolana - der Name des 1898 gegründeten Konzerns. 2002 sei das Unternehmen in die Schlagzeilen gekommen, erwähnt die Wikipedia, weil die gesamte Anlage des Betriebes während des Jahrhunderthochwassers im August in den Fluten der Elbe stand.* Welche ungeheuerlichen Mengen an giftigen Substanzen dabei freigesezetzt worden sein müssen, dann ins Grundwasser absickerten oder in die Elbe flossen, ist nicht erwähnt und wahrscheinlich nicht mehr nachweisbar. In der Flut der Heldenepen über die große Hilfbereitschaft der Bevölkerung gingen diese Nachrichten damals unter...



Noch erschreckender finde ich allerdings eine andere
Information* des Wikipedia-Artikels: "Spolana produzierte zwischen 1965 und 1968 T-Säure, wobei das Herbizid herstellungsbedingt mit Dioxin kontaminiert war und drei Gebäude und viele Mitarbeiter kontaminierte. Die T-Säure diente als Vorprodukt für die Herstellung des militärischen Entlaubungsmittels Agent Orange bei der US-Armee, das im großen Stil im Vietnamkrieg eingesetzt wurde. Die Dioxinbelastung führte in Folge zu teils schweren Gesundheitsschäden bei mehreren hunderttausend US-Soldaten und Vietnamesen. Dies war jedoch nicht auf die Produkte der Spolana begrenzt, die T-Säure anderer Lieferanten war ebenfalls belastet."

Mit anderen Worten: Die chemischen Zutaten zur Herstellung der extrem giftigen Substanz, welche die USA im Vietnamkrieg zur Entlaubung des Dschungels einsetze, um die Verstecke der Vietcong-Guerilleros zu zerstören, stammten zum Teil aus diesen (sozialistischen) tschechischen Anlagen, die damals als staatlicher Großbetrieb der Tschechoslowakischen Republik organisiert gewesen sein dürfte! Millionen ahnungsloser Menschen wurden zwischen 1965 und 1968 mit den Zutaten aus der chemischen Giftküche der ČSR vergiftet! Und der Abfluss dieser Giftküche war die Elbe, die an meinem Fenster vorbeifließt und in der wir als Kinder mit dem Kajak paddelten, Kenterrollen übten, badeten...

Während des Vietnamkrieges wurden die Kinder in den DDR-Schulen angehalten, Solidarität mit dem "sozialistischen Brudervolk" von Vietnam zu üben. Die Lehrer forderten uns auf, Altpapier und Flaschen zu sammeln und zum Altstoffhändler zu bringen. Wir klapperten mit einem alten Handkarren die Häuser ab, gingen von Tür zu Tür - nach langem Anstehen beim Altstoffhändler bekamen wir etwas Geld: 5 Pfennige pro Flasche, 10 Pfennige pro Kilo Papier - das führten wir dann der schulischen Vietnam-Spendenkasse zu - als fleißiger Spender wurde ich mit einem Buch ausgezeichnet: "Der Turm an der Grenze" - die "kindgerechte" Erläuterung zum "antifaschistischen Schutzwall" und weshalb die Mauer vor dem "Ami" schützt... Dass wir nicht nur von dem Altstoffhändler betrogen wurden, sondern auch von den Lehrern und ihrer obersten Dienstherrin (Margot Honnecker), kapierten wir noch zu Schulzeiten. Dass dieses Gift aber nur zwei Radleretappen vor meiner Heimat hergestellt und verkauft wurde, lerne ich erst beim Recherchieren zu den Fotos meiner Reise.

Der Verkauf des Giftes war ein riesiges internationales Geschäft - an dem verdiente auch die Firma Boehringer in Ingelsheim kräftig: "Solange der Vietnamkrieg andauert, sind keine Absatzschwierigkeiten zu erwarten", zitiert der SPIEGEL vom 5.8. 1991* den Produktionschef der Firma: "Wir sind nicht für die Entscheidungen der amerikanischen Armee verantwortlich." Und der hochgeehrte Altbundespräsident Richard von Weizecker will erst Jahre nach seiner Tätigkeit als Geschäftsführer und Mitinhaber von Boehringer davon erfahren haben - "mit großer Betroffenheit"...



Niemals hätte ich gedacht, dass ich bei einer kleinen Radreise im Sommer des Jahres 2017, ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, des sowjetisch bevormundeten Ostblocks, in die Spuren von so viel widersprüchlicher und grausiger Geschichte gerate... Wenn es möglich war, dass der "sozialistische" Ostblock die chemischen Zutaten für die militärischen Experimente der "imperialistischen" USA lieferte, muss ich mich über die wirtschaftliche und militärischen Pervertierungen einer "globalisierten" Welt auch nicht mehr wundern - alles ist möglich, heute wie damals.



Nach dem Chemiewerk geht es in ein Wäldchen und ein Stück nordwestwärts von der Elbe weg. Der Radweg, der hier noch immer eher Trampelpfad ist, führt mich nun direkt auf eine regenschwere Wolkenfront zu. Erste Blitze zucken schon am Horizont - ich habe es nicht mehr weit bis Mělník und könnte es noch schaffen, trocken zu meinem Quartier zu gelangen - wenn der Weg, wie es am Ende des Feldes aussieht, nordwärts weiterführt, so dass ich quasi vor dem Regen links abbiegen würde.

Ich passiere die Dörfer Tuhaň und Větrušice, bevor ich nach Kly wieder ans Flussufer gelange. Der Weg wird wieder etwas besser, aber die Bezeichnung Radweg darf dennoch als Schmeichelei betrachtet werden. Zu meiner linken fließt die Elbe, der Weg führt auf eine Insel, die sich aus dem Schwemmgut eines alten Flussarmes gebildet haben dürfte. Über eine kurze brücke quere ich die Staré Labe und bin dann wieder am breiten Strom der Elbe. Nach hundert Metern am Ufer windet sich die Serpentine hinauf in die Stadt Mělník - ich bekomme die erst Regentropfen ab, streife mir das Cape über - es macht den Eindruck, als ob es heftig wird.

Ich finde Zuflucht in der ersten Tankstelle von Mělník, auch eine Motorrad-Clique sucht unter dem großen Dach Schutz. Mein Pensionszimmer ist vielleicht nur einen Kilometer von hier entfernt, aber es gießt aus vollen Kannen, ich muss warten bis es nachlässt. Ich vertreibe mir die Zeit mit Hot Dog und Kaffee - oder was man so nennt. Der Tankwart kann sich nicht beschweren - er macht seinen Umsatz mit all den Zweirad-Fahrern, die jetzt hier einkehren, mampfen, nachtanken.

 
Das Zimmer in der Altsatdt von Mělník hatte ich bereits mit der Booking-App gebucht - wie ich feststelle, ist es die selbe Pension, die ich vor zwei Jahren am Ende meiner Moldau-Tour auf gut Glück fand. Das erzähle ich dem Wirt - zu interessieren scheint ihn das nicht, seine Arme sind schon emsig mit dem Bierzapfen für die zahlreichen Gäste beschäftigt. Als er mir das Zimmer zeigt, erkenne ich, dass es sogar das gleiche wie damals ist - Zufälle gibt es.



Von meinem Quartier ist es nur drei Katzensprünge bis zur Aussicht am Schloss Mělník. Südwärts fällt der Blick über die Weinhänge und auf die Mündung eines Moldau-Kanals in die Elbe (Labe), die sich ihrerseits kaum 100 Meter zuvor erst mit der Moldau (Vltava) vereinigt hat - die Serpentinenstraße unterhalb des Weinhangs verdeckt den Blick darauf. Im Moldau-Kanal ist das historisches Schiffshebwerk zu sehen - fern am
südlichen Horizont ist der Kühlturm jener Giftküche zu erkennen, an der ich vor wenigen Stunden vorbeiradelte.



Auch in nördlicher Richtung ist die industrielle Verschandelung der Natur vorangeschritten - das mit Braunkohle betriebene Elektrizitätswerk Elektrárna Mělník sorgt dafür, dass zuhause Waschmaschine und Computer laufen, aber auch jede Menge Gerätschaften, die sinnlosen Lärm verursachen und weiteres CO2 in die atmosphäre blasen. Auch diese riesige Dreckschleuder ist direkt am Flussufer errichtet - morgen früh werde ich dort entlang radeln.

 
In der Abendsonne leuchtet ein Denkmal zu Ehren von Viktor Dyk. Die Büste des romantischen Dichters starrt zum sagenumwobenen Berg namens Říp, auf dessen Gipfel der Urvater Tschech einst eine Siedlung gegründet habe.* Vor zwei Jahren traf ich hier zwei junge Tschechen beim Gitarre-Üben - wir verbrachten den Rest des Abends mit etlichen anderen Jugendlichen.



Vor zwei Jahren, am Ende meiner damaligen Moldau-Tour,* erlebte ich hier einen flammenden Sonnenuntergang, der dem Berg eine orange Kulisse bot - heute können sich meine Augen an einem anderen grandiosen Lichtspiel sattsehen - die Sonne schickt ihren Strahlenfächer durch ein Wolkenloch - eine Szenerie wie geschaffen für ein Gemälde von Caspar David Friedrich...

Ich drehe noch eine Runde durch die Gassen der Altstadt, spaziere am Schloss entlang - und ins Schloss hinein, wo das Restaurant die Rebsäfte des hiesigen Weingutes Lobkowicz anbietet - der Blick von der Veranda ist nicht besser als von der Terasse draußen, aber mit einem Schlückchen Pinot gris auf der Zunge einfach schmackhafter. Am Nebentisch sitzen zwei alte Genießer, die sich mit den hiesigen Weinen und der Geschichte des Hauses bestens auszukennen scheinen.
 

Samstagabend in Melnik. Beim Irish Pub unten den Arkaden des Marktplatzes drehen die Jugendlichen ihre Joints - von der Gruppe aus Einheimischen, mit der ich hier vor zwei Jahren saß, ist niemand zu erkennen. Die heutigen Gäste sind selbst Reisende, einige sprechen englisch - und erfreuen sich der "liberalen" Verhältnisse Tschechiens...

 


Verdopplung der Pflichten
Halbierung der Rechte

 

 

Schon der alte Schopenhauer wusste köstlich über den Sinn der Ehe zu spotten - doch ein letztes Besäufnis mit den alten Kumpels erfüllt den gleichen Zweck. Im Hof der Pension stößt eine Gruppe junger Tschechen zum Junggesellenabschied an - so bekommt der freiwillige Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben wenigstens noch einen feuchtfröhlichen Abschluss.

Das lustige Matrosenleben endet mit dem Ausschankschluss, zum Glück bekomme ich in meinem Stübchen nicht mehr viel davon mit, denn schon als ich noch an ihrem Tisch saß, war die bierselige Mannschaft vom ganztägigen Abschiednehmen etwas ermüdet. Das Kellnerin brachte die nächste Runde, da standen die Biergläser der Matrosen noch halbvoll auf dem Tisch. Während ich nur noch mein müdes Haupt ins Kissen zu drücken brauche, haben die Freizeitmatrosen noch einen steilen Weg hinab zur Elbe vor sich, wo ihr Boot vielleicht noch liegt, falls sie es gut angeseilt hatten.

 


Die Elbe ist immer noch die selbe

 

In noch leichtem Morgennebel bremse ich die steile Serpentine ins Tal hinab, ein atlethischer Jogger überholt mich dabei. Bevor ich die Brücke ans andere Ufer nehme, studiere ich die tschechische Radweg-App, um zu sehen, ob es alternative Wege gibt. Das sieht nicht so aus - daher nehme ich den mir bereits seit der Moldau-Tour bekannten Radweg und quere die Brücke. Von der Brücke lässt sich ein letzter Blick auf den Zusammenfluss der beiden Flüsse und des Kanals blicken. Erst einige Kilometer weiter hole ich den Jogger wieder ein - entweder der Mann ist ein Marathon-Spezialist oder ich habe sehr getrödelt.

 

Das ist natürlich kein Grund, mir den Strick zu nehmen, der hier schon hängt, wahrscheinlich aber auch gar nicht für diesen makaberen Zweck bereitgestellt ist. Das Leben ist schon makaber genug - auch ohne des eigenen Lebens müde zu sein, verabschiedet es sich bisweilen unerwartet, erfahre ich hinter der übernächsten Kurve.

 
Als ich vor zwei Jahren an der hiesigen Säule vorbeikam, vermisste ich die Hochwassermarke des sogenannten Jahrhundert-Hochwassers vom August 2002 - bis ich sie schließlich im Schatten der Dachpyramide entdeckte. Welche Wassermengen hier durchgeflossen sind, macht erst das Panorama deutlich. Dass dabei auch jede Menge Chemie-Abfälle aus den teils dioxinverseuchten Gebäuden und Böden des nur 20 Kilometer entfernten Spolana-Werkes freigesetzt wurden, ist naheliegend.

 

 


Der junge Mann und der Fluss





Nur wenige Radminuten weiter, bei Dolní Beřkovice, staune ich erneut. Eine aufwändig dekorierte Grabstätte, wirkt auf mich grotesk - direkt am Ufer des Flusses, dessen Pegel hier bei Hochwasser wie 2002 mal eben zehn Meter über dieser Gedenkstelle liegen kann, findet sich ein mit Engelchen und elektrischen Teelichtern dekoriertes Kreuz, das an einen jungen Mann namens David Rubeš erinnern soill. Sowohl die Inschrift als auch die Umgebung des Kreuzes ist mit etlichen Hinweisen auf die Angelleidenschaft des jungen Mannes geschmückt.

Das große Foto, das den stolzen Angler mit seinem vermutlich größten Fang zeigt, lässt vermuten, dass der Tod des 23-jährigen an dieser Stelle mit dem Angeln zu tun hatte. Doch wie kann man beim Angeln sein Leben lassen? ist hier die große Frage, die mich beschäftigt... Nahm an jenem 15. November 2015 ein ausgewachsener Europäischer Wels Rache an seinem gefangenen Verwandten?
 

Zog den jungen Angler ein Fisch in die winterlich kalten Fluten der Elbe? Oder wurde er das Opfer seines oder eines anderen Motorbootes? Über die konkreten Todesumstände verraten die Herzchen und Engelchen aus Gips und Plastik nichts. Und so kann die aufwändig gepflegte Gedenkstätte den fremden Passanten nur lehren, dass auch das Leben eines Anglers voller Gefahr sein kann.



Nicht weniger staune ich, nachdem ich kurz darauf das Elektrizitätswerk Elektrárna Mělník passiert habe, als ich noch in Sichtweite der riesigen Industrieanlage an den Eingang einer Unterkunft für Radfahrer komme - das mit Maschendraht umzäunte Camp besteht aus einer Gruppe auf die Wiese gestellter Wohncontainer, die den Charm einer Erstaufnahmeeinrichtung für Migranten austrahlt. Letztere machen um Tschechien bisher allerdings einen Bogen und die tschechische Regierung sorgt bisher erfolgreich dafür, dass das auch so bleibt. Am Ende des Camps stehen auch einige Zelte und Fahrräder, deren Besitzer sich gerade die Zähne putzen - mit Blick auf das gigantische Kraftwerksareal...


Erst anmelden, dann paddeln


Beim Dörfchen Račice macht die bis hier nordwärts strömende Elbe einen Schwenk nach Südwest, der Radweg schwenkt schon etwas vorher links ab, mitten im Dorf, und führt an einer Regattastrecke entlang, die hier künstlich angelegt ist und keinerlei natürlichen Zugang zur Elbe zu haben scheint - viel grauer Beton, um auch jenseits natürlicher Gewässer um die Wette rudern zu können.

 
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Witziger Weise zeigt das Schild zur Rezeption der Labe Aréna auf die andere Straßenseite, wo sich nur der Eingang eines Friedhofs befindet - und sehe ich nirgends eine weitere Einfahrt oder ein Gebäude, auf das das Schild zeigen könnte. Am Ende der Regattastrecke verliert sich der Weg in sandigem Gelände, Pfützen nehmen die ganze Breite des Weges ein - und ich befürchte, mich verfahren zu haben. An der zweifelhaften Stelle spreche ich ein radlendes Rentnerpärchen an - der alte Mann antwortet auf meiner Frage, ob es hier nach Roudnice weiterginge: Ano, ja-ja... Ich will gerade wieder aufsteigen, da geht die alte Frau dazwischen und widerspricht ihrem Begleiter: Nje! Mit vielen tschechischen Worten und Gesten kann sie mich überzeugen, dass ich umkehren muss, um etwa 200 Meter zurück auf einen Feldweg abbiegen zu können.



Mit dem Radel zur Randale?


 
Dieses Radweg-Schild hatte ich dann wohl übersehen... Leider werden auch in Tschechien manche Wegweiser von Weltverbesserungsklugscheißern mit mit Botschaften verklebt, die sich bevorzugt wohlfeiler Anglizismen bedienen. Sind einige der linksradikalen Krawall-Touristen etwa mit dem Radl zum G20-Gipfel nach Hamburg angereist? Dass sich ausgerechnet Leute, die mit Pflastersteinen auf Menschen werfen, zum Tugendwächter der Welt erklären, passt in diese geistlose Zeit.


Im Dörfchen Záluží quere ich die Bahngleise und gelange wieder auf eine befestigte Straße - ich biege links ab und komme in Dobříň wieder an die Elbe. Ein Stück weiter lockt ein Pivo-Garten zur Pause - der gehört zum Club u Mariny 89 und ist wohl besser von der Straße hinter dem Damm erreichbar. Ich frage nach "nealko" und die Schankwirtin stellt mir Staropramen und Pilsner Urquell zur Alternative. Ich entscheide mich für Letzteres - aber immerhin: mein guter Wille, das erste Bier des Tages alkoholfrei zu trinken, war da! Das Urquell ist verdammt süffig, so herrlich kalt und frisch gezapft schmeckt es unwiderstehlich - und es macht Appetit auf etwas zum Beißen. Es gibt nur ein Paar Wiener Würstchen mit Toastbrot - wer keine Wahl hat, hat auch keine Qual. Für Veganer könnten böhmische Radwege zur Hungerstrecke werden.

 
Kurz vor Roudnice endet der Elbe-Radweg, eine aus Holzbrücken errichtete Serpentine führt hinauf in die Stadt. Das Verkehrsschild fordert den Radfahrer zum Absteigen auf, vermute ich. Weil es eng und steil und auf den nassen Brettern rutschig ist und weikl ich ein Cyclisto bin, der gern ohne Unfälle heimkehrt, halte ich manche Vorschrift gern auch ein, ohne sie zu verstehen.

Über eine Brücke geht es wieder ans rechte Ufer und bei Vědomice mäandert die Elbe wieder nach Norden.

In Černěves gibt es noch das Dorflädchen mit dem blauen Telefon an der Außenwand. Das Lädchen ist geschlossen und es sieht aus, als ob es für einen anderen Zweck hergerichtet wird. Doch das alte Kartentelefon funktioniert noch - als ich den Hörer abnehme, ist das Freizeichen zu hören und im Display blinken Zahlen auf. Und das obgleich dieses alte Gerät schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt ist.
 



In Lounky komme ich vom rechten Weg ab, der hier der linke gewesen wäre. Das beschert mir einen Umweg zwischen ausgedehnten Hopfenfeldern - die ersten, die ich im Land des Weltrekordhalters im Pro-Kopf-Verbrauch von Bier sehe. Im Dörfchen Okna - auf Russisch so viel wie Fenster - komme ich dem Elbe-Radweg wieder näher, doch ein weiteres Irrtümchen lässt mich erneut falsch abbiegen, nämlich nach links, wodurch ich in die Gegenrichtung fahre und mich von den Vulkankegeln, die meine Orientgierung sein könnten, entferne. Das kommt mir wie auch dem kleinen Kompass am Lenker ziemlich böhmisch vor, denn die Nadel zeigt nun nach Süden. Also drehe ich wieder um - nordwärts muss ich, heimwärts.



Schneller, lauter, höher



Auch im schönen böhmischen Pivo-Land ist die sogenannte Event-Kultur längst Alltag, der Trend geht immer deutlicher in Richtung Motorisierung. Bei WAKE & FUN im Dörfchen Třeboutice lässt sich ein Bier trinken, aber auch mit dem Motorboot und Jet-Ski durch die hier sehr breite Elbe pflügen. Und wenn der Chef gerade keine Kunden hat, dreht er selbst ein paar Runden - zum eigenen "Fun"... Spaß mach nur noch, was laut und schnell ist.

 
Gleich um die Ecke kann man auch in eine Cessna aus Opas Jugendjahren steigen. Ich versuche den Start mit dem Handy zu filmen und drücke wohl auf den falschen Knopf. Nach einer Schleife im nördlichen Himmel kommt der kleine Zweisitzer im Tiefflug zurück und donnert über meinen Kopf - diesmal hatte ich in der Eile auf Zeitraffer gerückt, auch nicht besser.



Nach einem Anstieg befinde ich mich auf dem großen Marktplatz im Stadtzentrum von Litoměřice (Leitmeritz), mein heutiges Quartier liegt zwei Blöcke entfernt, im Hotel Roosevelt. Der Name klingt doch schon mal nach große weite Welt, doch auch hier muss man die Rezeption per Handy anrufen, bevor sich die große schwere Eingangspforte öffnet. Die Empfangsdame begleitet mich nach dem Ablegen meines Gepäcks mit wieder hinaus, um die Ecke in die Veltova-Straße - erst im dritten Hofeingang geht es zur Fahrradgarage, wo ich mein Rad einschließe. Während sie durch die Katakomben des Häuserkomplexes zurück ins Hotel geht, darf ich wieder den gleichen Weg zurück.

Das große alte Gebäude auf der anderen Straßenseite hat bis in die oberste Etage hohe vergittere Fenster. Das Navi im Handy klärt mich auf - ein Gefängnis! Alle Gebäude sehen nach prachtvollen Baujahren der Jugendstil-Zeit aus, selbst der Knast wirkt nobel - zumindest von außen... Leider ist der zentrale Markptplatz wie so oft ein Parklplatz, wegen der Blechkisten ist es schwer ein Foto von der teisl barocken Kulisse zu machen. Ich stehe auf einem Zebrastreifen, einen Meter vom Gehweg entfernt, um ein Foto von einer besonders schönen Fassade zu versuchen - drei Sekunden konzentriere ich mich, schon hupt ein genervter Autofahrer und schimpft etwas von "ulica" zu mir - Straße. Ja, und? Gehört dir nur noch den Autos? Zumal auf dem Zebrastreifen!



Besondere Herausforderungen

 

 
An der Westseite des Marktplatzes geht es durch einen Durchgang - im Hof befindet sich ein kleiner Weinladen mit Verkostung, weiter hinten eine Terasse mit vier großen Tischen und Bänken. Von dort fällt der Blick über die verschachtelten Dächer der unteren Stadtbereiche. Die Kellnerin serviert eine Pizza. Das ist keine schlechte Idee - wenn sie wiederkommt, werde ich mir auch etwas bestellen...

Als die Kellnerin wiederkommt, steuert sie direkt auf mich zu und will mir einen Kaffee servieren - den aber reklamiert sofort ein anderer Gast, der vermutlich schon eine ganze Weile darauf gewartet hat. Das junge Fräulein ist wohl etwas zerstreut - da will ich sie angesichts der vier anderen Gäste nicht gleich mit der nächsten Herausforderung ansprechen und warte lieber, bis sie wiederkommt. Die vier anderen Gäste sind zwei Pärchen, eines von ihnen mit viel Gepäck an den Fahrrädern - die sind womöglich noch nicht am Ziel ihrer heutigen Etappe und werden unruhig, weil niemand zum Kassieren kommt. Die Frau geht schließlich hoch in die Kombüse. Als sie zurück ist, packen die beiden ihre Sachen und radeln von dannen.

Die Kellnerin lässt sich nicht wieder sehen. Nun gehe auch ich nach oben und frage, ob es eine Karte gibt. Hier sei Selbstbedienung erfahre ich endlich, dann bestelle ich eine Pizza - und zwei Gläser Chardonay - eiskalt bitte! Ich habe nicht die Absicht für ein weitere Bestellung erneut hier hoch zu steigen oder nochmals eine halbe Stunde zu warten. Die vom Ausblick und von der Ruhe her beste Lokalität der ganzen Umgebung, vielleicht der ganzen Stadt, hat einen Service wie die letzte HO-Gaststätte der DDR. Ich bezahle auch gleich alles bei der Bestellung, damit ich nachher nicht der Kellnerin nachlaufen muss.



Um halb neun bin ich der letzte Gast, der dieses herrliche Panorama genießt. Einerseits freue ich mich über die dadurch ungestörte Ruhe, andererseits frage ich mich, warum die Straßenrestaurants am Marktplatz, wo die Autos knattern, voll sind, während dieses stille Fleckchen mit einem solchen Ausblick so unbeachtet bleibt. Wäre das mein Laden, würde ich hier für gediegenstes Ambiente und zuvorkommendes Personal sorgen - und schon in der nächsten Saison würden meine hochgeschätzten Stammgäste die Plätze zu dieser Abendstunde reservieren lassen!



Frühstück im Zwei-Stöckel-Takt


Das Frühstücksbuffet im Hotel Roosevelt lässt nichts zu wünschen. Wenn ich jezt noch das Klappern der Hochhackigen abstellen könnte, das einer jungen Tschechin, die zwischen dem Buffet und dem Tisch ihres wachsamen Besitzers pendelt, zuzuordnen ist, wäre der Morgen perfekt. Die anderen Gäste tuscheln darüber - die Kinder ungenierter, wofür sie von ihren artigen Eltern umgehend gerügt werden. Könnte der stolze Besitzer der umher-stöckelnden Tussi meine Gedanken lesen, würde er mir vielleicht für mein Mitleid danken - vielleicht aber auch nicht, je nach Temperament.

Zwischen Litomerice und Dolní Zálezly mäandert die Elbe erst westwärts, dann nach Norden und wieder etwas ostwärts. Mit Hilfe der tschechischen Radweg-App versuche ich heraus zu finden, ob ich statt des Bogens auf dem Elbe-Radweg eine Abkürzung über die Hügel fahren kann - zumal meine kinetische Basis im Zentrum der Stadt schon einige Höhenmeter Bonus aufweist.


Erfolglose Verfolgungsjagd


Ich kreuze durch den Předměstí-Park und folge dann einer ansteigenden Straße - auf Höhe des Stadtkrankenhauses gabelt sich die Straße, die Hauptstraße führt nordöstlich weiter und ich beginnen zu ahnen, dass ich auf dieser Strecke falsch bin. Kurz entschlossen drehe ich um und rolle talwärts. Die kinetische Energie verleiht mir einigen Schwung und deshalb halte ich wzischen Pedalen und Bordsteinkante etwas mehr Platz. Ein mich überholender Autofahrer scheint das problematisch zu finden, jedenfalls hupt er laut und ich erschrecke deshalb.

Um ihm meine Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, zeige ich ihm meine linke Hand mit dem ausgestreckten Mittelfinger. Der Fahrer scheint die international verständliche Geste im Rückspiegel beobachtet zu haben, fährt rechts ran und springt aus seinem Blechkasten. Ich weiche nach links aus - er gbt mir mit einem "Pozor!" (Achtung) zu verstehen, dass er was gegen mich persönlich - oder gegen Radfahrer im Allgemeinen - hat. Ich habe nicht die Absicht, das herauszufinden, zumal der Mann meine Sprache nicht versteht. Im Vorbeifahren zeige ich ihm mit dem Mittelfinger meiner rechten Hand, dass ich an keiner weiteren Diskussion interessiert bin.

Im Rückspiegel behalte ich das Ekel im Blick - er steigt schnell in seinen Kasten und scheint mich verfolgen zu wollen. Hoffentlich ist er nicht so durchgeknallt, dass er mir auffährt oder mich anderweitig gefährdet! Dank meines Schwungs und weil ich an der kreuzenden Hauptstraße nicht halten muss, gewinne ich schnell an Tempo, biege links auf die Hauptstraße ab und lege mich nach dem folgenden Kreisverkehr in die Rechtskurve. Ich weiß nicht, ob mich der Idio noch verfolgt, denn ich muss mich auf den Gegenverkehr konzentrieren, um bei passender Gelegenheit nach links auf einen Radweg zu entkommen. Der führt mich ins Grüne, hinunter zum Elbe-Radweg.

Geschafft! Hierher kann er mir nicht folgen. Er müsste sich jetzt sehr gut auf Radwegen auskennen, um zu wissen, wo er mir den Weg abschneiden könnte, wenn er wüsste, ob ich stromauf oder stromab weiterradle. Aber ein Mann, der seinen Fuß nur noch zwischen Gas- und Bremspedal wechseln kann, kennt keine Radwege, da bin ich mir sicher. Und außerdem dürfte er mich infolge meines Zickzack-Kurses nach dem Kreisverkehr aus der Sicht verloren haben. Möglicherweise fährt er jetzt über die Elbe-Brücke, die ich gerade unterquere. Er müsste sein Gehirn sehr anstrengen, wenn er es noch vorhätte, mir irgendwo in die Quere kommen zu wollen.



Des Pedalritters tapfere Vorwärtsflucht
wird mit einer herrlichen Fahrt durchs romantische Flusstal belohnt - weit und breit keine Straße, keine Autos, keine Idioten. Ich muss an die junge Frau in Südmähren denken, die ihren eigenen Landsleuten in Sachen Freundlichkeit ein schlechtes Zeugnis ausstellte und sich selbst für eine nette Ausnahme hielt. Im Grunde, glaube ich, ist es mit der Boshaftigkeit wie mit der Dummheit - beide sind mehr oder weniger gleichmäßig in der Welt verteilt und bedingen sich gegenseitig. Mann kann es den Leuten daher nicht übelnehmen, dass sie sind wie sie sind und verlernt haben zu akzeptieren, dass es außer ihnen noch andere Verkehrsteilnehmer gibt.

 
An graue Betonmauern mag sich der Stadtmensch von heute gewöhnt haben - kann man sich aber auch an Stacheldraht auf einer Mauer gewöhnen? Die Kinder, die in einem Freibad bei Ústí nad Labem herumtollen, nehmen die Welt, wie sie ist - vielleicht so wie der Löwe im Zoo, der seinen Käfig für die Savanne hält, die ihm eigentlich zusteht...

Aus der Ferne mag die Burg Střekov noch so romantisch wirken, wie sie der Dresdner Maler Ludwig Richter um 1837 sah, doch nähert man sich der Stelle seiner "Überfahrt am Schreckenstein" heute, ist von der Beschaulichkeit nichts mehr übrig. Die Staustufe und das Wasserkraftwerk vergewaltigen die Elbe und ihre Ufer - verfallene Fabrikgebäude und sozialistische Plattenbauten tragen ein Übriges bei.
 



Und dann ist da noch diese Brücke...


Der Himmel über Ústí nad Labem wird immer grauer, es sieht sehr nach baldigem Regen aus. Ich habe die Wahl, nass zu werden oder zuvor ein Quartier in der Stadt zu finden. Doch die Stadt lässt für mich keinerlei Reize erkennen, um hier einen verregneten Abend zu verbringen. Ich lasse mir von der DB-App meines Handys eine Bahnverbindung anzeigen - in einer halben Stunde fährt ein Zug nach Děčín. Um den Zug rechtzeitig zu erreichen, beeilie ich mich, über die Bogenbrücke zu kommen, die ans andere Ufer führt. Auf einer Platte am Beginn der Brücke ist die Widmung für einen gewissen Dr. E. Beneše zu lesen.

Moment mal! Ist das die tschechische Schreibweise für Dr. Edvard Beneš, nach dem die berüchtigten Beneš-Dekrete benannt wurden? Oder sind die Namen Beneš und Beneše so häufig wie in Deutschland Müller, Meier, Lehmann? Handelt es sich hier also um einen ganz anderen Mann gleichen oder ähnlichen Namens? Zunächst habe ich keine Zeit, der Frage nachzugehen, denn ich will vor allem den Zug schaffen. Den Fahrschein kaufe ich wieder per DB-App, das Mobilnetz funktioniert gut. Daher kann ich auch gleich noch der heiklen Frage über den Namen der Brücke von Ústí nad Labem nachgehen.

Was ich dann in der Wikipedia zu lesen bekome, ist befremdlich - erschüternd eigentlich. Nicht nur dass die Brücke tatsächlich noch heute nach dem tschechischen Stalinisten Edvard Beneš benannt ist, dem die Bevölkerung der einstigen Tschechoslowakei die Unterwerfung unter die Tyrannei der sowjetischen Diktatur zu verdanken hat. Sondern ich muss lesen, dass die Brücke auch noch der Schauplatz eines unbegreiflichen Massakers an der sudetendeutschen Bevölkerung war - fast vier Monate nach Kriegsende!

Historie

      "Das Massaker von Aussig", so lese ich in der Wikipedia, "war ein gegen die deutsche Zivilbevölkerung gerichteter Pogrom am 31. Juli 1945 in Ústí nad Labem (Aussig) in der Tschechoslowakei. Anlass dieses Pogroms war die Explosion eines Munitionsdepots im Stadtteil Krásné Březno (Schönpriesen) an diesem Tage, die als Anschlag der Werwölfe deklariert wurde.

Nach Erkenntnissen der Forschung und aus geheimen tschechischen Unterlagen kann davon ausgegangen werden, dass der Anschlag auf das Depot und auch die angebliche Reaktion der Bevölkerung eine gezielte Aktion der Abteilung Z des tschechoslowakischen Innenministeriums, des OBZ, war. Ziel der Aktion war, einen für das Ausland klar erkennbaren Grund zu schaffen, die restlose Vertreibung der deutschen Minderheit aus dem Sudetenland zu vollziehen. Um diesbezügliche Informationen und Zusammenhänge in die gewünschte Richtung zu lenken, wurde der Initiator dieses Pogroms, Stabshauptmann Bedřich Pokorný, mit der offiziellen Untersuchung der Vorgänge beauftragt. Sofort nach der Explosion wurden deutsche Zivilisten von tschechischen Revolutionsgarden ohne nähere Untersuchung als vermeintlich Schuldige ausgemacht. Erkennbar waren die Deutschen an weißen Armbinden, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis mindestens Ende 1946 alle Deutschen in der Tschechoslowakei tragen mussten. Die Menschen wurden erschlagen, in einem Löschwasserspeicher ertränkt oder von der Elbebrücke gestoßen und im Wasser beschossen. Die Leichen trieben bis ins benachbarte Sachsen. 80 Leichen wurden allein bei Meißen aus der Elbe gezogen, weitere wurden bei Pirna und Bad Schandau angeschwemmt.

Eine Besonderheit des Massakers ist sein später Zeitpunkt, denn die Welle der offenen Gewalt gegen die Sudetendeutschen wurde von Staatspräsident Edvard Beneš auf Druck der britischen Regierung ab dem 16. Juli 1945 und damit fast auf den Tag genau zum Beginn der Potsdamer Konferenz gestoppt. "*

Der Zug der Tschechischen Staatsbahn kommt mit Verspätung und hat darüber hinaus keine Fahrradabteile - wie zwei andere Radler muss ich mein Rad mehr als einen Meter hoch in einen Gepäckwagon wuchten - und 20 Minuten später wieder herunter. Bei besserem Wetter hätte ich versucht, in oder bei Děčín ein Zimmer zu finden, um morgen von hier aus die letzte Tagesetappe meiner Heimfahrt anzutreten. Auf dem nächsten Bahnsteig steht bereits die Nationalpark-Bahn nach Bad Schandau bereit. Ich beeile mich, durch die Unterführung zu kommen, aber als ich den Bahnsteig erreiche, sehe ich nur noch die Rücklichter - ohne die Verspätung und die Umstände mit dem Gepäckwagen wäre der Anschluss zu schaffen gewesen.

Die nächste Bahn fährt eine Stunde später, unter dem Vordach des Bahnhofs von Děčín verlockt die Selbstbedienungsluke der Bahnhofskneipe zu einem flüssigen Abschied vom Pivo- und Vino-Paradies. Ich nehme ein kleines Pivo als Durstlöcher und ein Gläschen Weißwein zum Nippen. Nach einer sehr kurzen Stadtbesichtigung gesellen sich die beiden älteren deutschen Radler zu mir und fragen mich nach der Qualität des Weines. Dieser hier, anworte ich, ist eine große Enttäuschung, doch in den Anbaugebieten wie in besseren Restaurants müssen die südmährischen Weine den Vergleich mit denen des benachbarten österreichischen Weinviertels und mit jedem anderen guten Tropfen der Rebenwelt nicht scheuen. Nichts falsch machen, so lerne und lehre ich in diesen Minuten, kann man lediglich mit den böhmischen Pilsnern - die sind selbst in der Bahnhofskeipe bekömmlich.



Ich hatte mich gerade an die
schmeichelhafte "45" gewöhnt



Es bleibt noch Zeit, sich über andere Aspekte des Radelns in Tschechien auszutauschen. Mein radlerischer Er-fahr-ungs-schatz veranlasst den Mann aus Bochum zu der Schlussfolgerung, ich müsste dann wohl schon Rentner sein, wenn ich so viel Zeit zum Radeln hätte... Ich weiß nicht, ab wann man in Bochum in Rente gehen kann, antworte ich, aber meines Wissens gilt die Rente ab 67 bundesweit und bis dahin hätte ich noch x Jahre. Klar, man kann auch eher "aussteigen" - auf diese oder jene Weise, gewollt oder ungewollt. Als privater Ukulele-Lehrer, kläre ich den Mann und seine schweigsame Frau auf, habe ich durchaus reichlich Ferien - und die nutze ich so viel und oft, wie es meine Sparbüchse erlaubt. Und über die Renten, die es in 10 Jahren gibt, reden wir leiber nicht. Die Plauderei lässt einige Fragen offen, aber sie verkürzt die Wartezeit - und lenkt von dem Reinfall mit dem letzten Glas Wein ab.

 

Die Nationalparkbahn steht bereit, eine Viertelstunde nach Abfahrt erreicht sie die deutsche Grenze bei Schöna-Herrenskretchen. Was die rote Flagge mit dem Totenkopf zu bedeuten hat, frage ich mich jedes Mal, wenn der Zug hier hält. Gehört das Haus einem ehemaligen Piraten? Will der Eigentümer die Passagiere der Bahn einschüchtern? Oder nur sein persönliches Hoheitsgebiet markieren? Man weiß es nicht, man weiß es nicht...

Am anderen Uder der Elbe ragen die wohlvertrauten, ergrauten Sandsteinfelsen in den ebenso grauen sächsischen Himmel. Minuten später ist der Bahnhof erreicht, den meine Radlerwaden am häufigsten besuchten: Bad Schandau. Eine langbeinige Mittdreißigerin sitzt auf dem Boden des Bahnsteiges, alle viere von sich gestreckt, schlafend - oder so tuend. Im Zug erweist sich die heruntergekommen wirkende Frau als um so redseliger, sie quatscht jeden Mann an, Einheimische wie Ausländer - ein bischen Englisch kann sie auch. Sucht sie einen Kerl für heute Nacht oder für generell? Bis Pirna, wo sie aussteigt, findet sie keinen, der so hemmungslos ist - aber der Abend ist noch jung und es gibt noch viel Bier und Schnaps in den Kneipen...

In Niedersedlitz steige ich aus der S-Bahn - von hier sind es noch 10 Minuten Kurbelei, dann bin ich wieder zuhause, am Laubegaster Ufer. Die Elbe war meine treue Begleiterin der vergangenen Tage. Davor hatte ich Affären mit der Moldau, eine kurze Sause auch mit der Sasau. Am meisten Schweiß gekostet hat mich die Thaya - durch ihre tiefen Täler und das Gestrüpp ihrer Wälder musste ich mehrmals. Und ich musste bangen, ob sie mich bei sich sein lässt oder mitten in der Nacht vertreibt. Jetzt hat mich die Elbe zurück und ich bleibe erst mal - bis die Ferne wieder ruft.


 




< Streckeninfos >




Unterwegs mit der Ukulele

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