von Železná Ruda nach Mělník
und weiter bis Dresden
Ich habe den Anfang einer klassischen Sinfonie im Ohr. Ihr Komponist konnte sie allein in seiner Phanatsie erklingen lassen, denn er war kurz zuvor völlig ertaubt: "Vltava" lautet ihr Titel auf tschechisch. Ein anderes bekanntes Werk der Tonkunst steht Pate für meine Moldau-Fahrt. Als die "Bohemian "Rhapsody" auf meinem Kassettenrekorder leierte, 1975, war das heute grenzübergreifende Biosphärenreservat Šumava noch eine streng bewachte militärische Sperrzone. "Bohémische" Ausflüge jeglicher Art riefen die Büttel der totalitären Staatsmächte auf den Plan. 40 Jahre später hat das nur noch historische Bedeutung. Heute kann ich fahren! Niemand wird mich aufhalten (außer vielleicht die Gewerkschaft der Lockführer, die erfreulicherweise gerade eine Streikpause macht...) - also fahre ich! Erst mit der Bahn nach Prag, dann mit dem Rad durch böhmische Wälder, durch böhmische Dörfer, durch böhmische Städte- und wieder heimwärts.
15. Mai, Freitag.
Prag ist das Basislager meiner Reise, denn von hier geht jeden Morgen Viertel nach sieben ein Zugnach Železná Ruda im Norden des Böhmerwalds. Von dort will ich den Šumava Nationalpark durchradeln und dann dem Lauf der Moldau folgen. Doch eine Übernachtung in Prag zu finden, die für Ukulele-Lehrer bezahlbar ist, das ist leicht gesagt. Schon gar nicht von heut auf morgen und dazu noch am Wochenende. Auch vor Ort gehört dann Geduld und Glück dazu.
Das günstigste Einzelzimmer sei für 80 Euro zu haben, sagt mir die junge Frau vom Tourist Point im Prager Hauptbahnhof. Wenn Wochenende ist und dazu noch Eishockey-WM, erklärt sie, dann werden die Zimmer knapp. Sie telefoniert alle Hostels ab, überall lautet die Antwort: komplett ausgebucht. Zwangsläufig bin ich nun bereit, die Nacht auch in einer Gemeinschaftsunterkunft zu verbringen. "Verbringen" ist das passende Wort, denn Schlafen, das habe ich schon in anderen Metropolen dieser Welt erfahren, ist in so einem Schlafsaal nur unter Vollnarkose möglich. Sie telefoniert weiter. An ihrem Gesicht erkenne ich, dass die Antworten am anderen Ende der Strippe wieder und wieder negativ sind. Muss ich mich auf eine Nacht im Bahnhof einstellen?
Nicht nur meine Reisekasse stellt Bedingunen, auch mein Rad - auch das will ein sicheres Dach über dem Lenker haben.Außerdem sollte die Adresse der Herberge in einem moderaten Radius liegen, sonst könnte ich auch gleich das Aussitzen auf dem Bahnhof erwägen. Denn von hier geht morgen früh mein Zugnach Železná Ruda. Routiniert wählt die junge Frau Nummer um Nummer. Dann, endlich, strahlt ihr Gesicht. Als sei es um ihr eigenes, ganz persönliches Anliegen gegangen, ist ihr der innere Freudensprung über den Erfolg anzusehen. Ihre Freude darüber, trotz der schwierigen Umstände ein preisgünstiges Quartier für mich gefunden zu haben, überträgt sich zwar auf mich, jedoch noch mit verhaltener Begeisterung. Sehr gut, sage ich erleichtert: Und auf wie viele Schnarcher muss ich mich dort einstellen? No, no, no... Das Zimmer haben Sie ganz für sich allein, antworte sie und ergänzt, sie habe als Studentin oft dort übernachtet. Bleibt nur noch eine Frage: Wo?
Auf dem Stadtplan sei das Quartier leider nicht mehr zu sehen, meint sie. Ich vergleiche die Anzeige auf dem Bildschirm ihres Computers mit meiner Karte und folgere, dass die Adresse durchaus noch auf dem Stadtplan zu finden sein müsste: nur 3,2 Kilometer vom Bahnhof entfernt, per Radel 16 Minuten, hat der Computer berechnet. Sie prüft meinen Einspruch - und staunt wohl etwas. Dann kreuzt sie mir die Adresse im Stadtplan an und empfiehlt mir fürs Radeln den Weg über die beiden Parkanlagen südöstlich des Stadtzentrums. Ich bedanke mich inbrünstig und folge ihrem Vorschlag.
Der führt mich zunächst aus der Bahnhofshalle hinaus. Wie in jeder Metropole dieser Welt ist der Bahnhofsvorplatz ein Treffpunkt für herumlungernde Obdachlose. Ihre wenigen Habseligkeiten in Plastiktüten zusammenhaltend umklammern ihre Finger Bierbüchsen und Zigaretten. Doch niemand bettelt oder kommt gar mit der Geschichte von der kranken Mutter, die Geld für Medizin brauche. So schiebe ich mein Rad durchs Gewühl – begleitet vom markanten Dunst, den die tagelang getragene Kleidung von Obdachlosen ausströmt. An der nächsten Ecke unterquere ich die Bahntrasse und tauche in die Stadt ein, der Karel Gott mit einem Ohrwurm huldigte.
Tausend Farben für mein Prag und diesen sonnigen Tag... Über steile Gassen gelange ich in den Park, von der mein Engel im Tourist Point sprach. Und ich bin nicht der einzige, der hier seinen Blick über die Stadt und hinüber zum Hradschin schweifen lässt. Mein mit dem Gepäck wuchtig erscheinendes Rad wird selbst auch zum Augenfänger. Als ich den Stadtplan studiere, um meine Richtung zu prüfen, kommt ein Mädchen auf mich zu - lass das hübsche Ding 17 oder 18 sein...
Sie hat meinen suchenden Blick erkannt, möchte mir den Weg weisen. Ich antworte, dass ich inzwischen bereits im Bilde zu sein glaube. Sie prüft meinen Fingerzeig auf der Karte, bestätigt meine Annahme und wünscht mir eine gute Weiterfahrt. Es sieht so aus, als wolle sich mir die Goldene Stadt Prag gleich von ihrer schönsten Seite zeigen. Kaum stehe ich auf den Pedalen und bin ein paar Meter gerollt, drehe ich mich um, ihr nachzuschauen - und fühle mich ertappt. Ihr reizendes Lächeln zeigt mir, dass sie dafür Verständnis hat.
Hotel Hasa* ist offenbar eine Sportlerherberge, vom Foyer zweigt ein Korridor direkt zur Eisbahnarena ab. Und dort wird gerade trainiert. Für die laufende Weltmeisterschaft? Wohl kaum, der Zugang wäre sonst gewiss nicht frei und unkontrolliert möglich. Das Zimmer im ersten Obergeschoss hat ein Fenster zu einem stillen kleinen Innenhof, wunderbar. Hier werde ich bestimmt ungestört schlafen können. Auf dem Tisch steht ein gläserner Aschenbecher. Wie ich die Nase spitze, merke ich auch, dass es im Raum ein wenig verräuchert riecht. Ich staune, dass es das noch gibt: ein schlichtes Hotelzimmer ohne Rauchmelder - und auch ohne die obligatorischen Instruktionen zum umweltbewussten Gebrauch der Handtücher.
Ich will für morgenfrüh den kürzesten Weg zum Bahnhof erkunden und folge dazu einem ausgeschilderten Radweg. Doch der führt mich direkt ans Moldauufer. Da tummelt sich reichlich junges Volk. An den zahlreichen Bierausschänken können sich auch Studenten und Ukulele-Lehrer ein Pivo leisten. An dem Tisch, an dem ich mir einen freien Stuhl erfrage, sitzen drei junge Männer, die durch bemerkenswerte Unauffälligkeit auffallen. Wie Leute, die sich in ein braves bürgerliches Leben assimilieren wollen, wirken sie aber auch nicht. Wie mögen diese jungen Männer wohl ihren Lebensunterhalt bestreiten. Der mit den kräftigsten Muskelpaketen, mutmaßlich der Chef des Trios, erhebt sich ohne jede Attitüde. Und ohne sonstige Rituale verabschieden sich die Männer gegenseitig wie auch von mir, sehr höflich - Gentlemen in T-Shirts.
Die Rauchschwaden unzähliger Glimmstängel ziehen an meiner Nase vorbei, ich filtere den Geruch von Marihuana heraus und entdecke das Grüppchen, in dem der Joint von Mund zu Mund wandert. Ein Pärchen lässt die Beine von der Ufermauer baumeln - man saugt abwechselnd an einer Wasserpfeife. Dieses riesige Gerät mit sich zu schleppen - was für ein Aufwand für etwas aromatisierten Wasserdampf! Geht es da nur ums Stillen individueller Nuckelbedürfnisse oder eher um Aufmerksamkeit?
Zahlungskräftige Touristen lassen sich im Oldtimer über die Brücken der Millionenstadt chauffieren. Tatraa-Straßenbahnen aus den 1980ern, noch ohne jeden Museumswert, quietschen hinterher und bringen die Prager nach getaner Arbeit heimwärts - und in ein Wochenende voller Großveranstaltungen. Das Fest zu Ehren des Heiligen Nepomuk zieht zusätzlich Publikum in die Stadt.
Je näher ich der Altstadt komme desto dichter wird der Verkehr. Nur die berühmte alte Karlsbrücke bleibt das Refugium der Fußgänger. Von der Sandsteinbrüstung werfen an diesem Abend Tausende ihren Blick auf die Prager Burg und auf die in der Abendsonne erglänzende Altstadt-Fassaden - und auf die hundert Tretboote, die unten auf der Moldau treiben.
Mit nur leichter Strömung breitet sich die Moldau zwischen ihren Ufern wie ein See aus - wie geschaffen für eine romantische Szenerie aus alten Schiffchen und Booten. Sogar zwei venezianische Gondeln schaukeln ziellos umher. Kaum etwas vermag nostalgische Mobilitätsfantasien jedoch besser zu verkörpern als die schwimmende Plastikatrappe eines Käfer-Cabriolets.
Auf der 750 Jahre alten Brücke bieten die Maler den gleichen Kitsch feil, der sich in jeder Touristenmeile zwischen Moskau und San Francisco finden lässt. Angeregt von den Konterfeis berühmter Filmdiven lässt manch stolzer Vater seine Tochter, die immer die schönste aller Töchter dieser Welt ist, fürs Porträt stillsitzen. Da hockt das brave Mädchen nun und darf sich eine halbe Stunde nicht bewegen, während unzählige Augenpaare Original und Abbild vergleichen...
In Trachten tanzende Kinder stauen den Touristenstrom am Brückenturm der Karlsbrücke. Sie tanzen nach dem eigenen Gesang. Eine Kapelle mit Geigen, Kontrabass und Zimbal, ebenfalls in Trachten, bildet den zweiten Knotenpunkt. Ich habe einige Mühe, mein Rad durchs Gewühl zu schieben. Wo sich aber das Gedrängel etwas auflöst, steht oft mein Rad im Mittelpunkt der Kameraobjektive, der Tablet- und iPhone-Linsen. Alle fahren auf "retro" ab, ich stehe dazu...
In der
Mitte der Karlsbrücke ist die Statue des Heiligen Nepomuk mit frischen Blumen geschmückt. Katholische Pilger und neugierige Spaziergänger umlagern das Denkmal. An dieser Stelle wurde im Mittelalter Johannes von Pomuk ertränkt - sein Vergehen? Als bischöflicher Generalvikar war Nepomuk schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort im falschen Amt...* Der steinernen Statue des zum Brückenheiligen und Schutzpatron der Reisenden verklärten Kirchenmannes werden die im Staub der Jahrhunderte geschwärzten Füße geküsst, wieder und wieder. Es ist der Vorabend des jährlichen Festtages am 16. Mai. Ein Umzug in historischen Gewändern zieht über die Brücke, Assecoir jedes Teilnehmers ist ein Palmenwedel.
Historische kostümierte Musiker mit Akkordeons, Trompeten und Pauken lenken die Aufmerksamkeit auf den Umzug. Jetzt muss die Sängerin, die an der Burgseite der Brücke, von einem Gitaristen begleitet, romantische Jazzballaden sang, pausieren. Die beiden Straßenmusiker sind perfekt aufeinander eingespielt und brachten nicht nur mich zum Innehalten. Wunderbare alte Melodien müssen ein Weilchen schweigen, denn vorübergehend hat eine ältere Tradition den Vorrang. Glaube und Folklore vereinigen sich im farbenfrohen Brauchtum - der heimliche Protest gegen die Willkür weltlicher Herrschaft spaziert vielleicht auch noch mit...
Wie die Brücke im Licht der Laternen erschummert, ist an der steinernen Brüstung kein Zentimeter frei. Alles Volk erfreut sich der Abendstimmung, der Blick auf die beleuchtete Burg und zu den barocken Fassaden der Altstadt fesselt jedes Auge. Zu Smetanas „Moldau“, die aus Lautsprechern scheppert, tänzeln zwei venezianische Gondeln und ein Schiff aus den Zeiten des Dampfmotors fungiert als schwimmendes Restaurant. Alles was da auf dem dunklen Fluss schaukelt und glitzert, erfreut nicht nur Kinderaugen. Beschaulicher kann ein lauer Frühlingsabend in Prag nicht ausklingen - das Vorprogramm meiner Moldau-Fahrt hat alle Erwartungen übertroffen.
Samstag, 16. Mai.
Von meiner Herberge im Südosten der Prager Innenstadt quere ich einige Hügel und finde mich, nach einem vermeidbaren Umweg über den Wenzelsplatz, am Hauptbahnhof ein, wo sich einige Obdachlose von den Parkbänken erheben. Pünktlich 7.15 fährt der Zug nach Železná Ruda ab - einer der beiden, die täglich durchgängig an den nordwestlichen Rand des Böhmerwalds fahren. In Pilsen steigt eine Gruppe Jugendlicher ein, die sofort auf einer miserabel gestimmten Klampfe zu schrammeln beginnen - und mit nicht besser gestimmter Kehle eine allzu bekannte Melodie singen: „Blowin’ in the Wind“ – in tschechisch. Und als könnte es anders nicht sein, gefolgt von „Knockin’ on Heaven’s Door“ – das in englisch! - Mit tschechischem Akzent...
Nach einer Stunde endlich verstummt das Geschrammel. Was sich für meine Ohren wie eine ganze Schulklasse anhörte, sind nur drei Teenager, die einem älteren Mädchen zu imponieren versuchten. Alle Passagiere steigen aus, das macht mich stutzig. Als ich bemerke, dass sie in zwei bereitstehende Busse einsteigen, beginne ich zu ahnen, dass es sich um Schienenersatzverkehr handeln könnte - das sind die Momente, die ich am Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln verfluche: fehlende Durchsage, keine Information. Weil ich ruckizucki meine Sachen packen und mein sperriges Rad ohne jede Hilfe durch eine enge Tür hinaus bugsieren muss, gerate ich in Hektik. Draußen steht der Schaffner. Warum kommt der nicht rein und gibt ein Zeichen? Dann hilft er mir beim Ausladen meines Rades - und beruhigt mich: Bus wartet... Ansonsten ist der Ersatzverkehr gut organisiert, neben den beiden Bussen steht ein Kleintransporter mit Hänger für Fahrräder bereit.
In der engen Hängevorrichtung des Radhängers hat mein Cruiser mit seinem ausladenden Lenker keine Chance, er wird deshalb stehend im Transporter verstaut. Die ganze Aufregung hat meine Kehle ausgetrocknet, nun vermisse ich die im Zug gerade erst geöffnete Wasserflasche. Hoffentlich habe ich dort sonst nichts liegen lassen... Die Fahrt über serpentinenreiche Landstraßen hinauf in die Berge des Böhmerwalds dauert um einiges länger als die Bahnfahrt gewesen wäre. Kurz vor Železná Ruda, empfiehlt mir der Busfahrer, am Ortseingang auszusteigen, so kann ich meinen Weg in die Berge des Böhmerwalds vom oberen Ortsteil beginnen. Im Ort kann ich mich in einem Imbisslokal stärken und meinen Wasservorrat auffüllen. Gegen 12 bin ich startklar.
Ich folge dem ersten Radwegweiser, der mit der Streckenführung meines Radführers* überein zu stimmen scheint und der mich zum 40 Kilometer entfernten Dörfchen Modrava führen soll. Kaum bin ich im Wald, raschelt es im Gebüsch. Ich bin auf einem Weg, den wohl eben zwei Rehe queren wollten. Von meinem plötzlichen Erscheinen überrascht, hopsen sie hin und her, unschlüssig, in welche Richtung sie fliehen sollen. Ihre Wendigkeit ist beeindruckend, kühn sprintet der Rehbock endlich davon, seinen flinken Fersen folgt die Gemahlin. Noch ehe ich meine Kamera zücken kann, ist das Pärchen hinter Bäumen und Gestrüpp verschwunden.
Gleich zu Beginn meiner Wanderung im größten noch zusammenhängenden Waldgebiet Europas, empfängt mich die Natur so munter, so lebhaft. Das war schon eine recht überraschende Begrüßung im Böhmerwald. Wenn ich schon kurz nach dem Verlassen des ersten Dorfes so wilden Gefährten begegne, welche freien Geschöpfe treffe ich dann erst, wenn ich tiefer in den Wald und höher in die Berge vorgedrungen sein werde! Bereits die ersten Anstieg haben es in sich.
Nachdem ich wohl eine Stunde lang geschoben habe, kommen mir Zweifel, ob ich überhaupt auf dem in meiner Karte eingezeichneten Weg bin. Dieser Anstieg will und will einfach nicht enden, nach all den Kurven hätte ich längst auf eine Landstraße treffen müssen. Während ich an Steigungen von "gefühlt" wie 15 Prozent alle 50 Schritte verschnaufen muss, überholt mich ein Wanderer mit seinem kleinen Rucksack. Er grüßt mich ohne jedes Anzeichen von Anstrengung - gleichmäßig ist sein Schritt, ohne Eile, aber stetig: ein alter Hase auf Schusters Rappen.
Endlich gelange ich an eine Infotafel und da ich darauf das Dörfchen Debrnik südöstlich von Železná Ruda entdecke, das ich vor einer gefühlten Ewigkeit hinter mir ließ, bekomme ich hier Gewissheit, dass ich statt in nordöstlicher auf einem alternativen Weg in südöstlicher Richtung bin. Doch es gibt kein Zurück mehr, und so folge ich weiter den Wegweisern nach Modrava. Der Karte auf der Tafel entnehme ich, dass ich mich derweil annähernd auf Augenhöhe mit den 1300 Meter hohen Gipfeln des Polom und des Ždanila befinde und damit bereits Anstiege hinter mir liegen, die mir auf der anderen Radwegstrecke erspart geblieben wären. Im Westen, in Bayern, befindet sich der 1456 Meter hohe Große Arber, mit dem Fernglas sind zwei (als Sternwarten "getarnte") Radaranlagen* zu erkennen - früher das Spähauge der NATO gen Osten. Und heute? Heute erfüllt es den gleichen Zweck, nur die Technik ist heute wohl um einiges raffinierter...
Durch meine unbeabsichtigten Umwege streife ich das Grenzgebiet zu Westdeutschland viel näher als gedacht. Und das bedeutet, ich durchquere die Kernzone der einstigen militärischen Sperrgebiete, wo noch heute, ein Vierteljahrhundert später, vor den
Relikten des "Eisernen Vorhangs" gewarnt werden muss: Mienen, Blindgänger, Munitionsreste.
Im weiten Tal, bei Vysoké Lávky, stoße ich endlich auf den eigentlichen Moldau-Radweg. Im günstigsten Fall sind die gelben Radwegzeichen (mit den ein- bis vierstelligen nationalen Wegnummern) mit dem kleinen, runden, hellblauen Moldau-Aufkleber versehen. Ihr Fehlen kann zu reizvollen, aber unvorhersehbar steilen Abstechern führen. Bis Modrava, was ich ursprünglich als heutiges Etappenziel angepeilt hatte, schaffe ich es wegen der Umwege nicht mehr.
Nach einigen steilen Aufs und Abs gelange ich ins Dorf Srny, wo ich mich gegen sechs nach einem Nachtquartier umschaue. Doch das Dörfchen lässt jede Idylle vermissen. Als ich auf der Terrasse einer Gaststätte trunkenes Gelächter und Gefrotzel aus bayrischem und sächsischen Zungenschlag vernehme, mobilisiert das in mir starke Fliehkräfte und so lasse ich das Dorf schnell hinter mir, hoffend, bald eine abgelegenere Unterkunft zu finden.
In einer kurzen Rechtskurve fällt ein fein herausgeputztes altes Schindelhaus auf. Der Blick durchs Fenster zeigt, dass auch das Interieur stilvoll ist. Doch so beschaulich die Pension wirkt, so ausgebucht ist sie auch. Ein Stück den Berg hinauf finde ich rechts eine einfache Unterkunft, direkt an einer Bushaltestelle. Bei einem Glas Ur-Pilsner, frisch vom Fass gezapft, genieße ich noch den Sonnenuntergang, dann wird es im Schatten des Berges schnell kühl. Noch in der Dämmerung liege ich im Bett, blättere ein paar Seiten in Reisegeschichten von Hermann Hesse. Schon fallen mir die Augen zu und ich wiege mich in dem Glauben, dass in den Dörfern des Böhmerwalds nichts leichter sei, als allerorten für wenig Geld ein genügsames Nachtquartier zu finden – eine etwas voreilige Folgerung, wie ich in den nächsten Tagen feststellen muss.
Sonntag, 17. Mai.
Kurz nach sieben steht das Frühstück bereit, halb acht bin ich auf der Strecke. Die etwa fünf Kilometer bis Modrava führen auf einer Landstraße bergan. Nach einer Linkskurve in der Siedlung Rokyta findet sich eine weitere Pension, ein Dutzend Motorräder auf dem Parkplatz zeugen von mindestens ebenso vielen Gästen. Von der Landstraße zweigt rechts ein Radweg durch den Wald ab und kurz darauf stehe ich vor einem T: vor mir ein Bach oder Kanal, links oder rechts ist hier die Frage. Der Wegweiser enthält in beide Richtungen den blau-weißen Aufkleber mit dem Wellen-Symbol für den Moldau-Radweg, die gelegentlich übliche Ortsangabe fehlt leider.
Meiner Karte nach zu urteilen, muss ich mich rechts halten, entlang eines Baches, also biege ich nach rechts ein. Der teils asphaltierte, teils geschotterte Waldweg führt mich immer tiefer in den Wald. Ich genieße die Stille, dann rauscht ein glasklarer Bach und der Wind in den Baumwipfeln - jenes Rauschen, das dem Šumava den Namen verlieh. Weniger berauschend ist, dass ein Teil des Rauschens jetzt auch vom einsetzenden Nieselregen stammt.
Ausgerechnet in der Regenrinne sucht ein Kätzchen Schutz vor dem Nieseln. Zwei seiner Geschwisterchen flohen vorsichtshalber durch ein Loch in den Dachboden - nur selten scheint hier jemand entlang zu kommen, vielleicht ist das der Grund für die tierische Skepsis mir gegenüber: Neugier und Furcht hadern miteinander. Offenbar bin ich auf dem talwärts führenden Weg erneut vom ausgewiesenen Moldau-Radweg abgekommen. Ich fahre an einem plätschernden Bach entlang (cyklotrasa 2114), der auf meiner Karte gar nicht eingetragen ist, und komme an einer Lichtung vorbei, in der das einsiedlerische Cottage „U Frühaufu“ liegt – hier müsste man einmal übernachten können, hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, das wäre das echte Es-war-einmal-Gefühl.
Ich folge dem Weg immer weiter talwärts. Nach einigen Kurven dann ein Wegweiser nach Modrava (cyklotrasa 2113), links einen sehr steilen Berg hinauf, steiler kann es kaum gehen. Nach jedem zehnten Schiebeschritt muss ich verschnaufen – wenn der keine 20 Prozent ansteigt! Eine Gruppe Mountain-Biker kommt den Berg hinunter geschossen, für mein Befinden ist das selbst mit Scheibenbremsen recht übermütig. Etwa eine Stunde lang quäle ich mich schiebend den knapp 1100 Meter hohen Adamova Hora hinauf, durch dichten Wald, bevor ich in die Pedale treten und mich an der lichten Landschaft des Hochmoors erfreuen kann.
Auf dem Kammweg leuchten zwei neue Holzhäuser - auf meiner Karte ist der Ort als Rybama eingetragen, aber es ist kein Ortsschild zu sehen. Wörter, die mit „Ryb...“ beginnen, haben in slawischen Sprachen etwas mit Fisch zu tun, vielleicht ist die Übersetzung Fischerhütte. Wild sprudelnd und durch ein steiniges Bett sich windend begleitet mich der im Grenzgebiet entspringende Roklanský Potok hinunter nach Modrava. Einige von dort entgegenkommende Rennradler erfreuen sich der asphaltierten Piste. Erst gegen Mittag erreiche ich die einstige Glashüttensiedlung. Der Umweg mag mich zwei Stunden gekostet haben.
Herbergen und Gasthäuser säumen die Hauptstraße von Modrava. Gleich beim Ortseingang biege ich rechts in den asphaltierten Waldweg (cyklotrasa 1023) ein, der leicht ansteigend am rauschenden Modravsky Potok entlangführt. Bald gabelt sich der Weg, geradeaus am Bach entlang ginge es nach Březník, ich folge dem Moldau-Zeichen in eine Linkskurve, ab hier überschneiden sich zwei Radwege - cyklotrasa 1023 und 1042. Beim nächsten Abzweig muss ich die Schilder gründlich studieren.
Auf einem Schild, das nur aus entgegenkommender Richtung sichtbar ist, steht „u pramene Vltavi, 5 Km“ – ich vermute, dass es hier ins Quellgebiet der Moldau geht, und biege rechts ab. Auf überwiegend geschottertem Weg geht es teils steil bergan. In meiner Karte ist ein „Verlorener Berg“ eingetragen, eine tschechische Entsprechung ist nirgends zu lesen. Ich nähere mich dem Černá Hora, einem von zwei aufeinander folgenden, knapp über 1300 Meter hohen Gipfeln. Vom Rastplatz beim Gipfel weitet sich der Blick bis hinüber in den Bayrischen Wald.
Hier oben regnen sich also die Wolken ab, deren Wasser dann Rinnsale bilden - die wiederum im Boden versickern und einen Steinwurf tiefer als Quellen aus dem Gestein austreten. Die Quelle der Warmen Moldau (Teplá Vltava) ist tief im zersausten Gehölz des Fichtenwaldes versteckt. Ich bin nicht verwegen genug, sie im Morast zu suchen. Der nur wenig entfernt, südwestlich, entspringende Reschbach fließt zur Donau, womit ich mich gleichzeitig an der Europäischen Hauptwasserscheide befinde, die darüber entscheidet, ob ein Bächlein - über Rhein oder Moldau und Elbe - in die Nordsee entwässert oder aber - über die Donau - den weiten Weg zum Schwarzen Meer antritt.
Die Wolken lichten sich und erste Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Am Rastplatz treffen, als wären sie verabredet, vereinzelte Renn- und Bergradler aus beiden Richtungen der Strecke auf. Man fotografiert sich gegenseitig vor dem Wegweiser, der hier auf 1272 Meter Höhe verweist, und geht sofort wieder auf die Piste. Oder aber man macht ein ganz konventionelles „Selfie“ - wie früher: mit Stativ und Selbstauslöser - und gönnt sich erstmal eine kleine Gipfelprämie.
Die Abfahrt hinab auf 1000 Meter Höhe ist eine Wohltat. Vor dem nächsten steilen Anstieg klärt mich eine Infotafel über die Schäden auf, welche durch ein Insekt namens Buchdrucker, einer von 5000 Arten des Borkenkäfers, in den hiesigen Fichtenwäldern angerichtet wurden. Unter der Frage „Wie machen Buchdrucker das?“ lese ich die Antwort: „Die Buchdruckermännchen fliegen eine Fichte an und bauen unter der Borke Rammelkammern. Über Duftstoffe werden Weibchen angelockt.“ Den tieferen Zweck der temporären Zweisamkeit deutete die Bezeichnung der Behausung bereits an.
Nach der Paarung, so lese ich weiter, frisst sich das Weibchen weiter durch die Rinde, legt an die 60 Eier ab, aus denen etliche Wochen später gefräßige Larven schlüpfen. Die Fichte versucht sich mit giftigen Harzen zu wehren, doch in trockenen Sommern kann sie den gestörten Nährstoffzufluss nicht regenerieren und stirbt ab. Wind und Sturm tun auf dem Gebirgskamm ein Übriges und so ragen an vielen Hängen nur noch kahle Stämme in den Himmel oder liegen kreuz und quer im Wald.
Nach dieser lehrreichen Lektüre folgt erneut ein Anstieg – atemberaubend... Der Gipfel des Stráž ist nur 5 Meter tiefer als der des Černá Hora, allerdings führt der Radweg näher an den Gipfel heran, laut Schild auf 1285 Meter - radlerische Gipfelsturmrituale wären damit eigentlich erst hier angebracht. Die Profilgrafik der Karte sollte das auch entsprechend darstellen, tut sie aber nicht.* Im nahen Moorgebiet entspringt die Warme Moldau - Teplá Vltava.
Dann geht es über weite Strecken nur talwärts, zunächst ins grenznahe Bučina, wo der Nachbau einer Grenzanlage an die Zeit des Eisernen Vorhangs erinnern soll. Ich verzichte gern auf die Besichtigung von Beton und Stacheldraht und wende mich ohne zu zögern dem nächsten Ort zu. Noch vor dem Ortseingang von Strážný treffe ich auf ein Häuschen mit der Leuchtreklame „Salambo Club - Night Bar“.
Was man in Grenzregionen Tschechiens unter Nachtbar versteht, ist hinlänglich bekannt.
Bemerkenswert ist lediglich, dass man nach stundenlanger Fahrt durch die reinste Natur als erstes Zeichen der Zivilisation auf die "Rammelkammer" des Homo sapiens trifft. Dem weiblichen Kichern, das aus einem der Fenster dringt, ist zu entnehmen, dass dieses Etablissement auch mitten am Tag Rammelzeit hat. Die mutmaßlich männliche Kundschaft (dem Autokennzeichen nach aus der Schweiz) sorgt vermutlich für Belustigung.
An der nächsten Kreuzung werden die vietnamesischen Bretterbuden sichtbar, wie man sie von vielen anderen tschechischen Grenzorten kennt. Bierbäuchige Bajuwaren holen sich hier billigen Nachschub an Bier. Deren Weiber wühlen in den Auslagen minderwertiger Textilien und Handtäschchen. Ein Stück, neben der Transitstraße, geht es den Berg hinauf. Nach dem Ortsausgang, findet sich noch ein vietnamesischer Außenposten.
Auf einem Schild lese ich: UNSERES ANGEBOT FÜR EUERE GESUNDHEIT. Über dem Eingang wird das multilinguale Angebot präzisiert: SOUVENIR – ALKOHOL – CIGARETY. Als ich dieses ultimative Gesundheitsangebot fotografiere, erscheint der vietnamesische Ladeninhaber. Aus meiner Distanz versuche ich ihm zu gestikulieren, wie komisch ich das finde. Wahrscheinlich kann er die unbeabsichtigte Ironie, die zwischen den beiden Schilder entsteht, gar nicht verstehen - wahrscheinlich hat er lediglich den Obst-und-Gemüse-Laden eines Vorgängers auf das lukrativere Geschäft umgestellt. Wer fährt schon wegen Bananen nach Tschechien...
Die grenznahen Orte zahlen den Preis der Kriegswirren doppelt und dreifach. 1945 wurden die Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben, sie mussten alles zurücklassen, Haus und Hof. In den Jahrzehnten des Eisernen Vorhangs hatten die tschechischen Bewohner die grenznahen Dörfer ebenso zu verlassen. Und mit der „freien" Marktwirtschaft zogen der Drogenhandel und die Rammelkammern ein. Freiheit? Freedom's just another word for nothing left to lose...
Weiter oben am Berg erinnert eine Infotafel an Schillerberg, eines dieser entvölkerten und dann dem Erdboden gleichgemachten Dörfer in den einstigen Sperrgebieten: „Sie sind mittlerweile mit Gehölzen bewachsen und bieten Biotope für manche Pflanzen- und Tierarten.“ – Na immerhin! Herzlichen Glückwunsch den begünstigten Pflanzen- und Tierarten.
Nach einigen Aufs und Abs tangiere ich das Dörfchen České Žleby und drehe wenige Kilometer weiter eine Runde durchs beschauliche Stožec. Die Beschaulichkeit von Stožec dürfte sich besonders jenem Eisenbahngleis verdanken, das seit mehr als einem Jahrhundert südlich ins bayrische Haidmühle und nördlich ins böhmische Volary führt. Daher eine Bahnstation, Restaurants, Pensionen - maßvoller Fremdenverkehr.
Die Abendsonne wirft so schöne Schatten in die Auen der Kalten Moldau (Studená Vltava), die hier von den Bergen des Bayrischen Waldes heranströmt. Das ist so reizvoll, da will ich noch ein Stück weiterradeln, wenigstens bis zum Zusammenfluss mit der Warmen Moldau (Teplá Vltava), die sich mir schon zwischen den beiden höchsten Gipfeln meiner Radelstrecke vorgestellt hatte. Zwischen Berg und Flussaue taucht alsbald ein kleiner Waldbahnhof auf. Über diese im Wald versteckte Eisenbahnidylle ist zu lesen: Der Bahnhof wurde zu Habsburgischen Zeiten, im Jahre 1910, als Anschlusspunkt für die Strecke nach Nová Pec (damals Salnau) und weiter nach České Budějovice (Budweis) eingeweiht. Als Umsteigebahnhof zog die kleine Station alsbald auch stationäres Personal an. Die 1924 gegründete Siedlung Schwarzes Kreuz zählte ein Jahrzehnt später 33 Seelen, heute nur ein Drittel davon. Als Namenspate steht die Legende eines von einem Wilderer erschossen Waldhegers, zu dessen Andenken an einer Moldaufurt ein hölzernes Kreuz errichtet wurde.
Auch hier hatten die Jahrzehnte der kommunistischen Diktatur viel Verwahrlosung hinterlassen. Am Nach- oder Neubau des historischen Kreuzes halte ich inne - Černi Kriz heißt der Ort auf tschechisch. Kaum vorstellbar, dass man von diesem versteckten Winkel im südlichen Böhmerwald per Bahn, ohne ein einziges Mal umsteigen zu müssen, bis zur Hauptstadt Prag fahren kann! Wer für seine Radtour die hohen Berge des nördlichen Šumava scheut, der könnte seine Moldau-Wanderung auch hier beginnen. Und hier befinde ich mich noch immer eine Kurve vor der eigentlichen Moldau.
Während das Bahngleis parallel zum Radweg führt, biegt das mäandernde Flüsschen nun plötzlich nach links hinweg in eine sumpfige Ebene, Gräser schimmern in der Abendsonne. Geniert sich das Flüsschen vor der Vereinigung mit dem anderen Quellfluss der Moldau? Und will sich daher dem Blick des Wanderers entziehen? Hinter Gestrüpp gerät das steinige Bett der Kalten Moldau außer Sicht. Nach einem dicht bewaldeten Wegesabschnitt erscheint ein neuer Fluss vor mir: die Moldau! Der Beitrag der Warmen Moldau, die in ihrem längeren Verlauf schon viele Bächlein in sich aufnahm, ist unübersehbar.
Erst hier, wo das Abendlicht tausend Schattierungen von Grün in die Auen der jungen Moldau zaubert, beginne ich die klanglichen Metaphern von Smetanas „Vltava“ zu verstehen: das quirlige Sprudeln der Flöten. Zögerlich surrt die Saite einer Geige, dann plätschert ein schüchterner Harfenakkord. Von diesen Ausreißern ermutigt, ergießt sich ein Instrument nach dem anderen ins glitzernde Grün... Es ist diese erste Minute der berühmten Komposition, in der ich mich auf den nächsten Kilometern bewege, konzertiert vom Singsang der Amseln und Kuckucks, dem Hämmern des Spechtes. Die sanften Hügel, das zarte Grün der Auen, das diese jungendfrische Moldau säumt, sind die Ouvertüre. Schon allein für dieses herrliche Abendkonzert haben sich die beschwerlichen Wege über die steilsten Höhen des Böhmerwalds gelohnt.
Kurz vor Nová Pec winkt mich ein Schild mit der Aufschrift „Pension Hubertus“ auf eine Anhöhe rechts vom Weg. Im blendenden Gegenlicht tummeln sich Insekten. Ganz allein steht das Häuschen am Märchenwald. Der gepflegte Garten verspricht einen traumhaften Abend mit Blick ins weite Tal. Ich drücke den Klingelknopf an der Tür, doch niemand reagiert. Schade, das hätte ich mir heute als Quartier gewünscht. Was könnte schöner sein, als hier am Schaum eines Biers nippend dem abendleisen Rauschen des Waldes zu lauschen und, vom Schauen und Atmen gesättigt, in tiefem Pilgerschlaf zu versinken.
Zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit liegen manchmal Welten. Das bekomme ich zu spüren, als ich in Nová Pec ein Nachtquartier zu finden suche. Mehrere Pensionen sind geschlossen – im Korridor eines Privatquartiers bewegt sich die Klinke der Flurtür im Zeitlupentempo zurück ins Schloss. Es ist also jemand da. Warum versteckt sich der Wirt vor mir? Warum? Das einstige Hotel Nová Pec ist eine Ruine - ohne Dach. Nebenan scheint einem weiteren Landgasthaus das gleiche Schicksal beschieden zu sein. Nur wenige Pedaltritte weiter liegt das „Wellness Hotel Marlin“. Weil es etwas heruntergekommen aussieht, hatte ich mir bei meiner ersten Annäherung die Anfrage verkniffen. Aber nun, nach einigen Runden durch den Ort, scheine ich keine andere Wahl zu haben. „Eine Person? Eine Nacht?“ fragt der Kellner. Ja, sage ich. Nein, sagt er!
Wie das? Es gibt Platz für zwei oder mehr Leute, aber nicht für einen? Nicht für mich? Ich werde am Tresen abserviert, weil sich eine einzelne Übernachtung für den Gastwirt geschäftlich nicht lohnt? Unverschämt, nein, skrupellos! Es ist später Abend, draußen wird es duster und kühl. Ich klappere das ganze Dorf erneut ab, klingle auch nochmals an der Pension, wo nur die Türklinke sich bewegte. Diesmal öffnet mir die Bewohnerin, eine ältere Frau, zögerlich, und gibt zu verstehen, dass sie keine Kapazitäten habe. Was nun?
Ich stelle mich darauf ein, die Nacht im Freien verbringen zu müssen - kein schöner Gedanke bei den frischen Temperaturen, die schon jetzt unter der 10-Grad-Marke liegen. Einfach weiterfahren, egal wie weit, damit die Nacht nicht zu lang wird - was bleibt mir sonst übrig? An einem Berg westlich des Dorfes entdecke ich wieder eine Pension, das steht jedenfalls draußen dran... Der frei umherlaufende Haushund, ein Mischlingsköter, bellt wie wild. Unbeeindruckt klingle ich an der Tür.
Ein älterer Mann, der gerade telefoniert, öffnet mir und lässt mich ein. Ein junger Mann, wohl zwei Köpfe größer als ich, betrachtet mit einem Auge die historische Fotos an der Wand, mit dem anderen beäugt er mich - und spricht mich zunächst auf tschechisch an. Ich bedaure, des Tschechischen nicht mächtig zu sein. Seine blutunterlaufenen Augen leuchten auf, da ich neben Englisch auch Deutsch als Alternative anbieten kann. Als Österreicher freut er sich über eine Plauderei. Und schon beginnt er, mich damit zuzutexten, der Zweck seiner Reise sei Ahnenforschung.
Ich erkläre ihm, dass ich seinen Forschungsergebnissen gern Aufmerksamkeit widmen werde, sobald ich mich eines Zimmers für mein müdes Haupt vergewissern konnte und der brennende Durst in meiner Kehle gelöscht ist, den der letzte Anstieg verursachte. Der Wirt hat inzwischen sein Telefonat beendet und widmet sich meiner Quartierfrage, greift zu einem Wandbrett mit Zimmerschlüsseln. Endlich kann ich aufatmen. Er gibt mir Hausschuhe und zeigt mir das Zimmer unterm Dachstuhl. Ich gestikuliere ihm meine innigste Dankbarkeit.
Nachdem ich mich kurz erfrischt habe, kehre ich zurück in die Schankstube. Nun bin ich frei, mein Ohr dem Ösi zu widmen. Er habe extra tschechisch gelernt, um seine Ahnenforschung voranzubringen. Die Mission falle ihm zu, weil er als Einziger in der Familie unverheiratet sei. Das bedeutet dann wohl: Dem alten Junggesellen, der mit seinem Mütterchen reist, sind seine freien Zeitkapazitäten zur Familienpflicht erhoben... Der Mann hat also ein Hobby, schön, das habe ich auch. Vor allem aber bin ich müde. Und sehr glücklich, zu später Stunde doch noch ein Quartier* gefunden zu haben.
Der Wirt zeigt auf den Fernseher an der Wand und gibt mir zu verstehen, dass heute Putin nach Prag komme - wegen des Endspiels der Eishockey-WM: Kanada gegen Russland. Mit den dürftigen Relikten meines russisch-polnisch-tschechischen Vokabulars frage ich zurück, was er vom mächtigen Präsidenten Russlands halte. Seine Gesten sind geringschätzig, er gönnt den Sieg der kanadischen Mannschaft. Stehend verfolgt er das Spiel. Ich frage nach dem Wetterbericht, er zappt in ein Nachrichtenprogramm. Klare Nacht, Temperaturen bis an die Frostmarke, aber morgen Sonne und bis 20 Grad.
Wie selig ich bin, dass ich nicht im Freien kampieren muss! Die Aussicht für morgen ist ebenso beglückend. Das erste Budweiser dieses Abends war gegen den Durst, das zweite macht meine selten so geforderten Beine schwer. Ich schleppe mich die steile Holztreppe hinauf. Eine warme Dusche spült den Schweiß des Tages von der Haut. Alle Anstrengung des Tages fällt von mir ab. Nur die Schwierigkeit, hier eine Unterkunft zu finden, beschäftigt mich noch ein Weilchen. Um meine Gedanken darüber etwas zu zerstreuen, lese ich noch zwei Seiten in Hesses Reiseerinnerungen.
Zu jenen Zeiten, als Hesse Italien bereiste, war die Welt noch ein bisschen heil - wenigstens was das Finden eines Nachtquartiers betraf. Denn das scheint in seiner Reiseepisode aus dem Jahr 1911 eine Nebensächlichkeit zu sein, um die er kaum Worte verliert. Die übrige Schilderung kommt mir irgendwie bekannt vor. Man fühlt sich „stark genug, dem Abendleben wieder als wunschloser Beobachter beizuwohnen“, möchte ungestört „die Frau auf dem Balkon“ beobachten, ihre Warten, ihr Sehnen ergründen, ihre Absichten kennen. „Sie trat mit kleinem Schritt vor und legte beide Arme auf die Brüstung, und sie tat es mit einer großzügigen edlen Bewegung, die mich packte.“ Doch ein anderer Reisender poltert dazwischen und drängelt sich und seine Weisheiten auf. Das scheint es schon vor hundert Jahren gegeben zu haben. Vertröstet und froh über mein Bett in einer geheizten Herberge nicke ich ein.
Montag, 18. Mai.
Das Frühstück besteht aus einem Teller mit Käse und Wurst, auch ein Schälchen Marmelade fehlt nicht. Im Brotkorb liegen zwei Brötchen und zwei dicke Scheiben dunkles Brot. Die Waffel und einen Apfel packe ich mir für die Fahrt ein. Tee scheint üblicher zu sein, aber Kaffee wird auch angeboten. Die übrig gelassenen Wurstscheiben spendiert der Wirt seinem vierbeinigen Freund namens Bertha – es scheint, sie hätte gern mehr davon. Draußen, beim Abschied, ist Bertha das artigste Hündchen der Welt, gibt weder Murren noch Kläffen von sich.
Um zurück zur Moldau-Strecke zu kommen, muss ich wieder hinunter nach Nová Pec - und beim Verlassen des Ortes nochmals am schäbigen "Wellness-Hotel" vorbei. Beim Blick auf das Etablissement sehe ich den fiesen Kellner vor meinem inneren Auge, der mich gestern Abend so eiskalt vor der Tür stehen ließ. Die Wegweiser führen mich in den Wald südlich des Lipno-Stausees. Das Wetter verwirklicht sich wie in den Abendnachrichten vorhergesagt, sonnig-wonnig. Bei noch frischen Temperaturen geht es gemächlich bergan, erst an Wiesen und Weiden entlang, dann durch Wald. Überall blüht und duftet es. Nach meiner winterlich verschneiten Osterfahrt und dem verzögerten Frühlingsbeginn zuhause erlebe ich in diesen Höhen des Böhmerwalds einen zweiten Frühling. Die wuscheligen Blütenkränze des Löwenzahns säumen den Wegesrand, ganze Wiesen leuchten im Gelb der zierlichen Butterblumen auf.
Das Wetter scheint wirlich zu halten, was die Vorhersage versprach. Noch ist es frisch, doch die Sonne wärmt und trocknet den Asphalt. Glückliche Kühe weiden in der Ferne - keine Spur von Massentierhaltung und Tierquälerei. Irgendwo in der Ferne knattert ein Traktor, sonst stört nichts die friedliche Landidylle. Nach einer Linkskurve tauche ich in dichten Wald ein und höre die Vöglein zwitschern - schön ist das.
In einer Lichtung taucht eine Kirche auf, umgeben von einem Friedhof. Die Gräber sind gepflegt, die Kirche wirkt wie neu. Auf den Grabschildern lese ich deutsche Namen und deutsche Widmungen. Aufmerksamkeit erregt die Erinnerung an eine Frau, die 12 Kindern das Leben geschenkt hat: „beim letzten musste sie ihres geben.“
Eine Tafel rechts der Tür würdigt die Restaurierung von Kirche und Friedhof in den Jahren 1990 bis 1992, das Ende des eisernen Vorhangs ermöglichte auch die Wiederbelebung des Gemeindelebens. Einst Vertriebene lassen sich am geliebten Ort ihrer einstigen Heimat bestatten. Aber wo ist das dazugehörige Dorf? Ein gotischer Spitzturm ragt über die Baumkronen mitten in einem Walde - als sei jemand sprichwörtlich mit der Kirche ums Dorf gefahren und habe sich dabei samt der Kirche im Walde verirrt und das Kirchlein dann dort vergessen.
Auf einem sehr kleinem Grabstein fasziniert mich der Dialekt, besonders seine Würze und Kürze: „Hoam wollt a und hoam is a gonga.“ Die auf einer Steinplatte links der Kirchentür angebrachte Inschrift würdigt den ehemaligen Pfarrer: „Ein Märtyrer der Nächstenliebe“ – als Datum seines Todes ist der 2. März 1945 angegeben, als Ort: KZ Dachau... Ein einziger Satz, mal ganz bescheiden, mal mit großem Respekt verfasst, erinnert an das Leben eines Menschen. Ein paar Blümchen zeigen, dass es Nachfahren gibt, die seiner gedenken.
Wo aber ist das Dorf zur Kirche? Wo ist das einstige Örtchen Glöckelberg? Sobald ich wieder zuhause bin, habe ich einiges zum Nachforschen im Web. Die unmittelbare Nähe ins österreichische Mühlviertel, welche die Inschriften des Friedhofs deutlich machen, kann ich nur ahnen - mein kleiner Kartenausschnitt reicht nicht so weit.
Einen Abzweig, links vom Wald zurück zum Ufer der angestauten Moldau, scheine ich verpasst zu haben. Denn plötzlich lese ich nur noch deutsche Beschriftungen: Radroute 888, sie führt entlang eines Schwemmkanals, Radroute 800 führt zum Moldaustausee, beide zunächst weiter geradeaus. Der naturverbundene Dichter Adalbert Stifter, der von jenseits des heutigen Stausees, aus Horni Plana (damals: Oberplan), stammte, dürfte diese Wälder zwischen Moldau und Donau regelmäßig durchstreift haben, seine Erzählungen idealisieren das ländliche Leben dieser Gegend – schon damals, in den vorindustriellen Stillen, muss es diese Sehnsucht nach Entschleunigung und Seelenbaumelei gegeben haben...
Auf einem Berggipfel steht ein altes Gasthaus, die Terrasse bietet ein großartiges Panorama. Eine Gruppe alter Männer, ausgestattet mit moderner Radlerkleidung und bunten Schutzhelmen, holt mich ein, während ich die Aussicht genieße. Auch sie halten an, den Blick in die Weite schweifen zu lassen. Ich erkundige mich nach dem Weg, wir plaudern kurz, sie haben den gleichen Weg. Doch ich will nicht im Tross fahren und versuche etwas Vorsprung zu schaffen. Sobald ich mich an einer Wegesgabelung orientieren muss, holen mich die ortskundigen Männer wieder ein. Nun, sie fahren mit künstlichem „Rückenwind“. Elektromotoren entlasten ihre Knie und ihre Schenkel, sie sind schnell. Spätestens wenn ich die Wegweiser studiere, holen sie mich wieder ein.
Links zweigt eine schnurgerade Asphaltstraße ab, sie führt talwärts zur Fähre am Moldaustausee. Durch die schnelle Abfahrt verpasse ich beinahe die Kreuzung, an der ich rechts abbiegen will. Ich wende und begegne den rüstigen Rentnern ein letztes Mal. Die Morgensonne hat die Luft auf 20 Grad angewärmt. Weit und breit ist niemand zu sehen, ich entscheide mich auf offener Straße, die langen gegen die kurzen Hosen zu tauschen. Das Wühlen im Gepäck dauert ein Weilchen. Ich will gerade die Hosen wechseln, da zieht eine junge Wanderin an mir vorbei. „Dobri djen“, sage ich. Sie erwidert meinen Gruß mit dem schönsten Lächeln der Welt. Ich lasse ihr etwas Vorsprung und vollende das Hosenwechseln. Wo der Weg direkt ans Ufer des Stausees führt, hole ich sie ein.
Sie macht Fotos vom See. Für mich ist sie selbst fotogener als die Landschaft ringsum - wahrscheinlich ahnt sie, dass ich ihre Linien studiere. Pechschwarzes Haar hängt über ihre Schultern und den Rücken hinunter. Ein moderner, schwarz-blauer Sportanzug schmiegt sich um ihre schlanke Figur. Ein kleiner Rucksack ist ihr ganzes Wandergepäck. Wohin mag sie gehen? Woher kommen? Wie mag ihre Stimme klingen? Warum wandert ein so schönes Weibsbild allein durch Wälder und Felder? Ich könnte es erfragen und ihre Stimme hören. Ich begnüge mich mit einem weiteren Lächeln.
Mit einer an Gewissheit grenzenden Skepsis, postuliere ich für mich, dass keine ihrer Antworten Weg und Ziel meiner Wanderung durcheinander bringen sollte. Aber wer kann das schon wissen? Wer kann wissen, was so ein hübsches Ding an Überraschungen in petto hat. Und wer kann schon wissen, wie schnell ein alter Pedalritter wie ich seine Meinung ändert, wenn ich erst ihre Stimme höre...
Möge ihr Ziel ein schönes Geheimnis bleiben. Davon kann ich auf meinem Weg lange zehren. Ich tue, als ob ich die fernen Hügel am anderen Ufer ins Objektiv lenke, doch wie sie da selbst mit ihrer Kamera beschäftigt ist, kann ich der Versuchung nicht widerstehen - und schwenke kurz zu ihr hinüber.
Verwegen schwinge ich mich wieder in den Sattel - wie der Cowboy im Western. Und schon galoppiere ich mit aller mir zur Verfügung stehenden Lässigkeit davon – und mit dem Kribbeln auf meinem Rücken, das entsteht, wenn ich mir einbilde, die Angeschmachtete komme nicht umhin, meinem tollkühnen, unaufhaltsamen Ritt hinterher zu schauen. Mittels Rückspiegel versuche ich Näheres über die tatsächliche Konstelation herauszufinden. Doch mein Antritt war zu kraftvoll, zu schwungvoll, zu dynamisch. Sie ist nur noch als Strichlein am Horizont zu erkennen, die nächste Kurve verbirgt dann auch dieses Strichlein.
Etwa an der Mitte des Stausees, an einer schmalen Stelle ist die Anlegestelle der Fähre nach Frymburk, wo der offizielle Radweg weiter verläuft. Wie ich dem dortigen Fahrplan entnehme, habe ich die Überfahrt gerade um ein paar Minuten verpasst – erst in einer Stunde kommt die nächste. Ich könnte warten. Vielleicht holt mich die wandernde Schönheit ein? Drei Begegnungen, das müssten dann wohl doch einen tieferen Sinn haben... Ich könnte alle Bedenken verwerfen - oder einfach ein weiteres Lächeln mitnehmen. Was auch immer geschieht, selbst hinter den nächsten sieben Bergen wird mir das Schneewittchen nicht aus dem Sinn gehen.
Mit dem Fernglas beobachte ich, was sich auf der Fähre am anderen Ufer tut. Irgendwas wird verladen, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es deshalb eine Fahrt zwischendurch. Ich studiere meine Karte, es sieht so aus, als könne man auch am südlichen Ufer bleiben, also ich entscheide ich mich, nicht zu warten. Zunächst geht etwas bergan. Während mir hier nur gelegentlich ein Traktor begegnet, rollt drüben am flachen Ufer reichlich Verkehr, Busse und Laster blasen Abgase in die windstille Luft. Schließlich zweigt auf meiner Seite sogar ein Radweg von der Landstraße ab und führt direkt am Ufer entlang. Drüben sind die Häuser des Ortes Lipno zu erkennen, Namenspate des Stausees. Lieblos an den See geklatschte Betonbungalows säumen das „Lipno Center“. Wie gut, dass ich die Fähre verpasst habe und hier auf der stilleren Seite geblieben bin.
Nachdem Stausee schlängelt sich die Moldau durch Loučovice, der vorgeschriebene Radweg soll nördlich um das Dorf herumführen, doch ein Bauabschnitt zwingt zum Ausweichen - so lande ich auf der einzigen Einkaufstraße mit Lebensmittelladen und Drogerie. Ein Eisstand zieht einige Kinder an. Die frage ich mittels meiner Karte nach der besseren Alternative Richtung Vyšší Brod. Sie zeigen auf die Landstraße - und das scheint plausibel, weil der Verlauf der Landstraße deutlich kürzer ist. Der Verkehr ist gering, die Abkürzung spart einige Zeit.
Vyšší Brod ist die erste kleine Stadt seit Beginn meiner Radtour, die Aussprache der tschechischen Namen entzieht sich meiner Kenntnis, Hohenfurt hieß der Ort früher einmal. An einem See warten die Kajaks eines Bootsverleihers auf Paddler. Die Moldau fließt weiter nach Osten, doch der ausgewiesene Radweg schickt mich querfeldein in nordöstlicher Richtung. Nach einem kurvenreichen Anstieg kann ich auf die Stadt zurückblicken, der Kirchturm der einstigen Zisterzienserabtei ragt über die anderen Dächer hinaus.
Der Moldau-Radweg folgt nun der nationalen Cyklotrasa 1188, quer über die Berge. Auf einer großen Wiese am Waldesrand, fern am Horizont, bewegt sich etwas Braunes. Mein Fernglas lässt mich staunen. Nicht Kühe weiden dort! Eine Herde von wohl 30 Rehen genießt dort den Sonnenschein - die meisten räkeln sich im Wiesengrün, nur wenige grasen und bewachen die Umgebung stehend. Mich könnten sie gleichfalls nur mit Fernglas sehen. Ich vermute, daran mangelt es ihnen...
Nie zuvor sah ich so viel Wild in freier Natur versammelt. Die sonst so scheuen Tiere sind einzig ihrem Müßiggang verpflichtet. Am nächsten Berg ist die Schlossburg von Rožmberk zu erkennen. Lieblich schmiegt sich der Ort ins Tal, Restaurants und Hotels belegen den touristischen Reiz des Ortes. Auf der Moldau tummeln sich Grüppchen von Paddelbooten. Inmitten der steinernen Brücke wacht St. Nepomuk auf die Fahrenden - die auf dem Fluss wie die auf der Straße...
Der Legende nach sei die Statue zu Habsburger Zeiten so platziert gewesen, dass sie nach Wien blickte, das wäre südöstlich, da müsste sie auf der gegenüberliegenden Mauerbrüstung der Brücke platziert gewesen sein. Später sei Prag die Ausrichtung gewesen, das wäre nördlich von hier, und passt so Pi mal Daumen gepeilt gar nicht. Tatsächlich schweift Nepomuks Blick etwa gen Westen, als Metropole käme da Paris in Betracht. Vielleicht ist die Ausrichtung auch etwas nordöstlicher. Da läge Brüssel...
Von der Brücke geht es rechts weg, ein Stück am linken Moldauufer entlang - sagt man da „linksmoldauisch“? Dann in einer Kehrtwende sehr steil links den Berg hinauf - so zeigt es der Kartenausschnitt auf Seite 49 an, der dazugehörige Text, zu dem man unsinnigerweise drei Seiten weiter blättern muss, behauptet „scharf rechts bergauf“! Völliger Quatsch! Rechts ist, wo der Daumen links ist - und da ist die Moldau, die aber kann man nicht steil bergauf fahren.
Einige weitere Anstiege sind zu bewältigen, bis eine Abfahrt nach Rožmtál die Anstrengungen entschädigt. Entgegen seinem Namen ist der Ort ein Bergdorf, bilderbuchartig mit schöner Kirche und Dorplatz, selbst ein paar kleine Plattenbauten aus sozialistischen Zeiten beeinträchtigen das Gesamtbild kaum.
Am Ortsausgang irritieren mich die Wegweiser. Ich frage einen jungen Mann, der mein Englisch vermutlich nicht versteht. Er zeigt geradeaus, wo ein Wegweiser die Radstrecke 1200 nach Kaplice ausweist. Die liegt aber nicht an der Moldau-Route. Dann entdecke ich links der Kreuzung doch noch einen Wegweiser mit dem sehr verblassten blauen Moldau-Aufkleber.
Nach einem kurvenreichen Waldabschnitt gelange ich wieder hinunter an die Moldau, am anderen Ufer liegt der kleine Ort Branná. Von einem Campingplatz dudelt Radiomusik. Doch an der Rezeption, wo die Lautsprecher dröhnen, ist kein Mensch zu sehen. Ich klopfe an Türen und Fenstern, weil ich nach einer der Übernachtungshütten fragen möchte. Niemand da. Wen soll das Radiogeplärre zerstreuen, wenn nirgends eine Menschenseele zu sehen ist? Beschallung selbst dann noch, wenn kein Mensch da ist, sich daran zu ergötzen! Einfach nur sinnlose Vermüllung der Umwelt mit Lärm - das ist so abartig, so rücksichtslos, so unvorstellbar arrogant. Lärm müsste bestraft werden wie Mord und Totschlag.
Nach einem kurzen Stück am Ufer geht es wieder bergan, im Wald ist die Sonne kaum noch zu spüren, es wird wirklich Zeit für ein Quartier. Ein leicht verwittertes Reklameschild schickt den Wandernden eine kleine Steigung hinauf, wo sich angeblich ein Hotel befinde. Offenbar handelt sich um eine Herberge, die zu einer klosterartig ummauerten Kirche gehört. - Gehörte! Denn niemand öffnet. Und es sieht auch nicht aus, als habe hier in den letzten Jahren irgend ein Wanderer Quartier gefunden.
Also weiter - wieder hinunter zum Radweg. Der führt, laut Karte, vom lichten Tal sofort wieder hoch hinauf in den Wald, über etliche Berge - und durch wahrscheinlich ebenso unterkunftsfreie Dörfer. Bis Krumlau, das viele Besucher anlockt und daher sicher Hotels und Pension zu bieten hat, ist es zu dieser Abendstunde noch zu weit. Ein Dutzend Kilometer können sich gut über zwei Stunden hinziehen, wenn sie bergig sind. Und das sind sie. Die Nacht würde mich im Dunkel des Waldes begrüßen, das wäre dann wohl eine „undesired criticality“ – um es in der fein abgestuften Szenariensprache zu sagen, die ein japanischer Ingenieur für die Reaktorkatastrophe von Fukushima bemühte. Wer mag schon eine „Schwierigkeit“? Und dann auch noch unerwünschte!
Ich sollte wenigstens die normale Landstraße am anderen Moldau-Ufer nehmen. Gleich nach der Brücke im Dörfchen Zátoň ist ein modernes Wellness-Hotel. Ich frage nach einem freien Zimmer. Das ist recht teuer. Dafür könne ich noch bis 21 Uhr den Tennisplatz oder die Kegelbahn nutzen, sagt die schöne Rezeptionsdame, deren langer blonder Zopf mich begeistert - des weiteren sei ein Fitness Corner verfügbar, dazu ein Schwimmbad und ein Whirlpool - und vier verschiedene Arten von Sauna - das Ausleihen eines Bademantels sei schon im Preis enthalten. Ich fürchte, sage ich zu der fließend deutsch sprechenden Frau, dass ich jetzt, so gegen 20 Uhr, kaum noch genug Zeit haben werde, auch nur eines dieser Angebote zu nutzen, und dass ich eigentlich nur eine Dusche brauche. Für mein Rad einen sicheren Schuppen, das wäre gut. Das Rad könne ich einfach in die Besenkammer neben der Rezeption schieben.
Dann interessiert sie sich scheinbar tatsächlich für meine Art des Reisens: „Etwas retro“, findet sie das, so von einem Ort zum nächsten zu radeln und jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen... Hm, na, eigentlich bin ich ja auch selbst etwas „retro“ - sowohl vom meinem reiferen Jugendalter her als auch von meinen in vieler Hinsicht „nach früher“ gerichteten Sehnsüchten, nach damals, als das Wandern durch Wälder und Felder noch keine Freizeitbeschäftigung für Naturfreunde war, sondern einfach die „gängigste“ Art, von A nach B zu gelangen.
Die schöne Frau mit dem langen blonden Zopf mag Anfang 30 sein. Körperliche Ertüchtigungsübungen scheint sie überwiegend mit den Gerätschaften in einem "Fitness Corner" zu assoziieren. Aber in ihrem Innersten ahnt sie vielleicht, dass man auch draußen in der freien Natur in die Pedalen treten kann - oder ganz ohne Laufband joggen. Und ohne Schwimmbad schwimmen. Vielleicht imponiert ihr meine unkonventionelle Weise des Reisens oder sonst etwas an mir. Als sie meinen Nachnamen ins Anmeldeformular schreibt, bemerkt sie, dass darin wohl das Wort Wandern enthalten sei – ihr Sinn fürs Etymologische überrascht mich.
Wer sogar das deutsche Wort Wandern kennt, weiß, dass es jenseits von Straßen auch solche Retro-Sachen wie Rad- und Wanderwege geben muss. Als ich sie frage, ob sie für die Strecke nach Krumlov die flache Landstraße oder den bergigen Waldweg wählen würde, liegt ihr Zuschlag beim Waldweg. Also ist die gestylte Empfangsdame wohl doch auch eine Freundin der Natur – und „retro“ ist vielleicht nur eine nette Schmeichelei? Im dem nach Küche und einer benachbarten Bar für Raucher riechenden Restaurant bestelle ich ein Glas Bier, das ich lieber draußen auf der Terrasse, an frischer Luft, trinken möchte.
Kein Problem, sagt der Kellner, und bringt mir auch die Speisekarte hinaus - an den letzten Tisch, von wo ich die im Wald versteckte, von der Abendsonne in dunkles Rot getauchte Turmspitze der alten Kirche von Zátoň beäugen kann.
Wie die Empfangsdame, so zeigt auch der junge Kellner mehr als rein gastronomisches Interesse an meiner Radelei und fragt mich nach den Koordinaten meiner Tour. Nebenher steckt er mir, dass heute sein erster Arbeitstag in diesem Hotel sei. Da kommt es also besonders auf den ersten Eindruck an, den er beim Chef macht, schließe ich daraus. Die Forelle, die ich dann - weniger aus Hunger als um den Erfolg seines ersten Dienstes zu unterstützen - bestelle, mundet fein. Um Qualität muss man sich hier nicht sorgen.
An die 80 Kilometer liegen heute hinter mir - durch tiefe Täler, hohe Berge, da braucht es weder Schlaftrunk noch Gutenachtgeschichten. Den Fernseher schalte ich nach dem Wetterbericht, der einen wechselhaften Tag ankündigt, gleich wieder aus. Während mir bereits die müden Äuglein zufallen, frage ich mich, ob der „erste Arbeitstag“ des freundlichen Kellners vielleicht jeden Abend vorgegaukelt wird, erprobt an gönnerhaften Senioren aus dem gelobten Abendland. Wer ist da schon mit Trinkgeld knauserig, wenn man einen jungen Menschen, voll an großen Plänen, so am Beginn seines beruflichen Weges motivieren kann. Selbst ich alter Geizkragen falle darauf rein.
Dienstag, 19. Mai
Getreu dem gestrigen Rat der aufmerksamen Rezeptiondame quere ich wieder die Moldau. Mit frischen Kräften schiebe ich den Berg hinauf – und gelange alsbald an eine Pension... Steht jedenfalls groß an dem Haus. Falls dieses einfache Quartier tatsächlich aktiv sein sollte, wäre es mit Sicherheit dreimal günstiger gewesen. Von den Bergeshöhen fällt der Blick östlich in Siedlungen aus zwei drei Häusern oder ganz vereinzelt im Walde stehende Gehöfte. An einem Berghang bei Dubova ist ein rechteckiges Stück Wald gerodet, Maschinenlärm dringt herüber, Bagger und Lastwagen sind mit dem Fernglas zu erkennen. Warum ist der gerodete Hang mit schwarzen Planen abgedeckt? Nach einem gewöhlichen Steinbruch sieht das Ganze nicht aus - und nach Archäologie auch nicht. An der Einfahrt eines Betriebsgeländes prüft eine Fahrzeugwage das Gewicht der Laster. Die Augen eines Wächters folgen mir. Nach was mag dort am Berghang wohl gebaggert werden?
Es beginnt zu nieseln. Als ich die Türme von Krumlov erblicke, muss ich erkennen, dass auch heute das Wetter hält, was die Vorhersage versprach. Es regnet! Und nichts deutet auf baldiges Nachlassen. Ein Meer bunter Regenschirme schaukelt durch die mittelalterlichen Gassen, gehalten von ostasiatischen Reisenden – ich tippe auf Chinesen, vielleicht auch Japaner. Ihr Blitzlichtgewitter unterscheidet sich nicht von dem anderer Reisegruppen. Und die werden hier erfreulicherweise nicht von brüllenden, sondern von sehr leise sprechenden Reiseleitern angeführt. Einer schlendert ohne Blickkontakt vorne weg und brabbelt seinen Text ins Headset. Per Funk wird seine Erläuterung in die Kopfhörer der Geführten übertragen. Eventuelle Rückfragen belesen tuender Reiseteilnehmer sind nicht mehr zu befürchten.
Um zu vermeiden, dass die Informationen so schnell wie sie durch ein Ohr eindringen aus dem anderen wieder hinausströmen, muss man die Kopfhörer beidseitig einsetzen. Das steigert die kleine Chance, dass eine der vielen Infos in den Weiten zwischen einem Paar Ohren vielleicht doch ein paar Synapsen anregen... Aber was soll der Spott! Ich weiß doch genauso wenig über diese schöne alte Stadt wie die Reisenden aus fernen Ländern.
Ich könnte wenigstens die Infos aus meinem Radführer* lesen, doch es schüttet und schüttet. Wenigstens könnte ich eine Postkarte kaufen, mich in ein Café setzen und einen Gruß in die Heimat schreiben. Doch was immer ich anfasse, ist sofort nass. Selbst meinen Fotoapparat packe ich nun ganz schnell wieder ein. Wie herrlich wäre es gewesen, hätte ich es noch gestern Abend bis hierher geschafft. Wahrscheinlich sind abends auch die 20 Busladungen an Touristen abgeholt worden, die sich jetzt trotz des Regens durch die Gassen drängeln. Nein, hier geht für mich momentan nichts mehr - ich muss irgendwo ein Dach finden, mich unterstellen und mit mir beratschlagen, wie es weitergehen könnte.
Viel zu kurz war meine Stadtbesichtigung, aber was will man machen bei so einem Regen? Da gibt es kaum Alternativen außer das Regencape überstreifen und weiterfahren. Ich verlasse Krumlov über die moderne Vorstadt auf dem Berghang. Von den Balkonen der Plattenbauten hat man vermutlich einen großartigen Blick auf die historische Altstadt und über die Berge der Umgebung, nur sie selbst sind eine geschmacklose Betonkulisse aus Zeiten, in denen Ästhetik keine Rolle spielte. Bald kann ich wieder in den Wald entfliehen, dessen Blätterdach einige Regentropfen abfängt. Im Schutz des Waldes erklimme ich einen sehr steilen Berg, der dazu über einen sehr holprigen Wegabschnitt führt.
Oben angekommen versperrt ein Betonklotz den Weg, er soll Radfahrer, die sich hier auf eine schöne Abfahrt freuen, zum Halt und zum Lesen eines Warnschildes zwingen. Die Warnung ist durchaus ernst nehmen, wenngleich das vermurkste Deutsch der darunter stehenden Übersetzung eher Schmunzeln erregt: „Seien Sie vorsichtig. Die Straße beschädigt ist. Gehen Sie das Risiko von Verletzungen. Führer Räder.“
Es hat fast aufgehört zu regnen. Bevor sich die Moldau um gut 180 Grad um das mittelalterliche Bergkloster Goldenkron (Zlatá Koruna) windet, lädt der Imbissstand eines Campingplatzes zum Mittagessen. Das jugendliche Personal ist ganz aufgeregt - als sei ich der erste Ausländer, der diesen versteckten Winkel beradelt. Der junge Mann am Tresen scheint sein Englisch erstmals in der Praxis zu testen, deshalb kommt er mit den Zahlen etwas durcheinander.
Dass die Stadt České Budějovice mehr zu bieten hat als ihr berühmtes Budweiser Bier, ahnt man nicht nur auf dem restaurierten alten Marktplatz im historischen Zentrum. Der Regen hat etwas nachgelassen, aber nicht aufgehört. Auch hier ist nicht ans Verweilen zu denken. Für die Quartiersuche ist es zu dieser Stunde, etwa um drei, zu zeitig. Den halben Tag in einem Hotel herumlungern ist kein Thema. Aufgesattelt und weiter.
Nach einer erholsam ebenen Strecke, die längere Zeit direkt dem linksseitigen Moldauufer folgt, leuchtet das kolossale Schloss von Hluboká auf einem Hügel auf. Zugegeben, „leuchtet“ ist vielleicht etwas übertrieben – es ist weiß, aber das Grau des Himmels verwischt die Konturen. Je näher ich komme desto treffender ist allerdings das Wort „kolossal“.
Es müssen sehr reiche Fürsten gewesen sein, die sich die im 13. Jahrhundert errichtete Burg über die Jahrhunderte hin zu diesem prächtigen Schloss ausbauen ließen. Tatsächlich ist das mit etlichen Türmchen ausgestattete Schloss das Resultat unzähliger Pleiten und Verkäufe, jeder Bauherr gab dem Anwesen seinen eigenen Stil, der letzte ließ viel abreißen und Mitte des 19. Jahrhunderts ein Märchenschloss im Tudorstil errichten.
Anstatt mich in die beeindruckenden Gemäuer eines Schlosses zu vergucken, sollte ich mich langsam auf Quartiersuche begeben. Ich quere die Moldau zum rechten Ufer. Das Chronometer zeigt die fünfte Stunde an. An einer Kreuzung in Zámosti zeigen Radwegweiser in verschiedenste Richtungen, auf keinem Schild ist das Moldau-Zeichen. Ich frage eine Frau mit Hund. Wahrscheinlich versteht sie mich nicht, jedenfalls schickt sie mich in eine Richtung, die sich nachträglich als völlig abwegig herausstellt. Dadurch gerate ich nach beachtlichen Steigungen zum Dorf Dobřejovice. Wenigstens eine Stunde dürfte mich der Umweg gekostet haben. Nie wieder werde ich eine Frau mit Hund nach dem Weg fragen...
Kaum bin ich wieder auf der richtigen Strecke, stehe ich vor der nächsten Entscheidung. Der Waldweg gabelt sich spitz. Rechts vom rechten Abzweig steht ein Verbotsschild für Motorräder und PKW, an der Stange ist auch das Radwegschild mit einem kleinen Linkspfeil befestigt. Aber was bedeutet das? Ich folgere, dass es nur den Weg bezeichnen kann, für den auch das Verbotsschild gilt.
Einem leichten Anstieg folgt eine steile Serpentine, doch danach wird es mir zu fett. Schnurgerade eine lange Steigung hinauf, da gibt es keine Übereinstimmung mit der Abbildung in meiner Karte. Umkehren? Eine Stimme in mir sagt: Kehre um, egal wo du ankommst! Hoffentlich trügt mich meine Skepsis nicht... Nochmals dort hinauf, das wäre anstrengend. Wieder an der Gabelung versuche ich die Zeichen neu zu deuten. Ein Schild mit einem Pfeil nach links müsste eigentlich zwischen den beiden Wegen stehen, zwischen denen man sich zu entscheiden hat, dann wäre alles klar. Hier steht es schon einige Meter im Abzweig, direkt am Verkehrsverbotsschild, das sich auf den rechten Waldweg bezieht. Das Schild ist eindeutig falsch platziert. Vielleicht nur deshalb, weil es an einer weiteren Stange zur Befestigung des Schildes mangelte?
Meine innere Stimme hatte Recht. Bald finden sich wieder die Schilder des Moldau-Radweges. Das Aufstellen dieses Wegweisers muss eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gewesen zu sein: Wir haben noch ein Schild übrig, aber keine Stange, es an der richtigen Stelle zu platzieren – egal, dann schrauben wir es eben woanders an. Hätte das Schild ganz gefehlt, wäre es auch klar gewesen, wo entlang es geht. Der Regen hat nachgelassen. Der Weg führt durch verträumte Waldsiedlungen. Im Garten eines Hauses werkelt ein Mann am Zaun. Doch die Idylle trügt...
Auf einem Bergeskamm verschnaufend erblicke ich die vier riesigen Kühltürme eines Kraftwerkes. Ist es ein Atommeiler? Die Vorstellung, so ein Teil könnte explodieren wie in Tschernobyl oder Fukushima, ist noch beängstigender, wenn es in Blickweite liegt.* Der Menschheit wird ein Wahnsinnsrisiko aufgebürdet, weil mächtige Energiekonzerne und technologiegläubige Regierungen auf kurzfristigen ökonomischen Gewinn aus sind.
Auch Dörfer wie aus einem Märchenbuch liegen an meinem Weg. Doch auch hier sind Motor und Reifen der Mittelpunkt aller menschlichen Bestrebungen. Jedes böhmische Dorf, und sei es noch so klein, hat mehrere Werkstätten, um alles reparieren zu lassen, was Räder und Auspuff hat. Pořežany hat sogar ein Kutschen- und Traktorenmuseum – es sieht allerdings nicht so aus, als ob das baufällige Anwesen, vor dem ein Trabi und ein alter Skoda vor sich hinrosten, dieses Jahr schon einen Besucher hatte. Mit Herbergen sieht es bescheidener aus - im Grunde ist es aussichtslos, auf dem Lande ein Quartier zu finden. Für wen auch? Vereinzelt von Stadt zu Stadt pilgernde Radler sind eine aussterbende Spezies. Das Auto bringt dich zwischen Frühstück und Abendbrot von Venedig nach Dresden, das Flugzeug nach Sydney und Hawaii, da braucht es keine Herberge in böhmischen Dörfern.
Der Regen macht mir zu schaffen. Nach den Höhen von Horní Kněžeklady führt der Weg wieder hinab zur Moldau, doch auch in Hněvkovice finde ich kein Quartier. Es geht auf sieben - wenn doch nur endlich ein Ort mit einer Pension käme! In Týn nad Vltavou muss es eine Übernachtungsmöglichkeit geben - Týn ist immerhin eine kleine Stadt. Ich frage in einer verräucherten Kneipe am Moldauufer nach einem Zimmer, ohne Erfolg. Im Zentrum klappere ich den Marktplatz ab. In unmittelbarer Nachbarschaft einer Kirche steht ein hässlicher grauer Betonklotz aus finsteren Sozialismus-Zeiten – und der Betonklotz gibt sich als Hotel aus.*
Ich betrete das nicht weniger graue Innere des Hotels, frage nach der Rezeption. Eine Frau führt mich durch ein Labyrinth scheinbar unterirdischer Gänge, bis wir in den Räumen eines sanierten Altbaus wieder auftauchen: Hotel U Zlate Lodi steht in großen Lettern über dessen Eingang. Frühstück um sieben oder um acht? fragt die junge Frau an der Rezeption. Um sieben, antworte ich – froh, ein Zimmer gefunden zu haben, und ebenso froh, nicht länger als eine Nacht darin verweilen zu müssen.
Der Blick aus dem Hotelzimmer ist reizvoll, die blühende Kastanie vor meinem Fenster duftet. Ansonsten ist hier zusammengewachsen, was nicht zusammengehört. Aber ich sollte besser für das trockene Nachtquartier dankbar sein, statt über eine verunglückte Bausynthese aus betongrauen Jahrzehnten zu lästern. Wenn ich hier ruhig schlafen kann, ist das Haus ein Volltrefffer.
Ein kleiner Bummel durch die Stadt lenkt meinen Schritt in einen Supermarkt. Da bekomme ich Brot und Käse. Nach einem so vernieselten grauen Tag am warm leuchtenden Weinregal vorbeizukommen, ist fast unmöglich. Ich studiere die Etiketten, mit tschechischen Weinen kenne ich mich nicht aus. Ein Verkäufer zeigt auf die Uhr, kurz vor acht! Ich bin der letzte Kunde. Also muss ich mich schnell entschließen – entschließen ob überhaupt und wenn ja: was. Jetzt stehe ich unter außergewöhnlichem Druck, wie soll ich da die richtige Entscheidung treffen! Ach, was soll's... Mit einer Flasche Chianti kann man nichts falsch machen.
Mittwoch, 20. Mai.
Mehr als ein Gläschen habe ich gestern Abend nicht gebraucht, um im tiefsten Radlerschlaf zu versinken. Mein kleiner Wecker blieb mitten in der Nacht stehen, aber das merke ich erst, als von draußen einige Geschäftigkeit an mein Ohr dringt. Ein Blick aus dem Fenster verschafft Gewissheit - und verrät mir außerdem: Es hat sich eingeregnet!
In den spärlich beleuchteten Gängen des Labyrinths zwischen Altbau und Betonbau sind Getränkekisten gestapelt, die Bodenkacheln erzeugen bei jedem Schritt adhäsive Geräusche. Eine Mischung aus Putzmittel- und Kantinengeruch lässt mich ahnen, dass es bis zum Frühstücksraum nicht mehr weit sein kann. Bei der Küche spricht mich eine Frau in Jogginghosen und Pullover an, sie zeigt auf die Uhr. Ich kann ihre Frage nicht verstehen, aber ihr Tonfall hört sich belehrend an. Ist das ein Anschiss, weil ich eine Viertelstunde später zum Frühstück komme?
Am Fenster des dunklen Gastraumes steht ein für vier Gäste gedeckter Tisch. Ich will ich gerade Platz nehmen, da kommt die Frau mit der Jogginghose angeschlürft und dirigiert mich an einen anderen Tisch, der schon etwas abgeräumt aussieht. Na immerhin! Es scheint, sie hat sich damit abgefunden, mir trotz meiner Verspätung Frühstück zu servieren. Wieder fragt sie Fragen, die ich nicht verstehen kann. Dann: Tschai? Kaffe? Wenigstens das verstehe ich. Im Verlaufe einer halben Stunde ist dann alles beisammen, was zum Frühstück einer Herberge gehört, die vermutlich noch heute staatlich ist... In der Zwischenzeit beobachte ich einen Handwerker, der vertreibt mit dem Besen die Tauben vom Geländer der Terrasse, sonst scheint er nichts zu tun zu haben. Auch dieser zwischen zwei Zigarettenpausen aufkommende Aktionismus erinnert mich an früher - an damals, als Menschen zur "Arbeit" gingen, ohne dort wirklich etwas zu tun zu haben.
An einer Wand klebt eine dieser grauenhaften Landschaftstapeten, die hiesige soll die Illusion erzeugen, vor der Wolkenkratzerkulisse einer im Nachtleben pulsierenden Großstadt zu sitzen. Das sind die Tagträume von Provinzlern, die gern einmal eine Postkarte aus New York oder Tokio nachhause schicken würden. Vier Tschechen sind an dem anderen gedeckten Tisch eingetroffen. Mit ihnen spricht die Frau in der Jogginghose freundlicher. Ein Blick auf die Uhr zeigt den Grund – sie sind pünktlich um acht erschienen.
Wahrscheinlich hat das Bodenpersonal dieses Hotels noch nie ein Land westlich Tschechiens bereist. So billig wie die Zimmer sind, so gering werden hier auch die Löhne sein. Da ist die große weite Welt etwas, das es nur im Fernsehen gibt. Und die in Jahrzehnten kollektiver Freizeitgestaltung eingeübte Mentalität, zahlende Gäste als aufmüpfige Subjekte anzusehen, konnte sich bis heute erhalten. Eigentlich darf ich wohl froh sein, dass mir wegen meiner Verspätung keine Disziplinarmaßnahmen auferlegt werden...
Der Dauerregen ist Strafe genug.
Und etliche Anstiege sind zu bewältigen, besonders der Berg nach Albrechtice hat es in sich. Mit 600 Metern über Meeresspiegel ist er der höchste zwischen Budějovice und Prag, der höchste, aber längst nicht der einzige. Bietet das Blätterdach des Waldes bei gelegentlichem Regen einigen Schutz, so verwandelt sich der Effekt bei starkem Dauerregen ins Gegenteil: die von Blatt zu Blatt rinnenden Tropfen sammeln sich auf größeren Blättern, wird es denen dann zu schwer, ergießt sich ein kleiner Sturzbach. Pech, wenn man da zur falschen Sekunde am falschen Quadratzentimeter steht. Die Pfützen breiten sich über den ganzen Weg aus, es gibt kein Entweichen, zwischen Felgen und Bremsgummis schmirgelt der Schlamm.
Vor dem Dorf Jamny ist eine stark befahrene Landstraße zu kreuzen - es dauert eine gefühlte Ewigkeit, ehe mir eine Lücke im Verkehr die Überquerung erlaubt. Unter dem Blechdach einer Bushaltestelle auf dem Dorfplatz von Kašina Hora studiere ich meine Karte und erwäge eine Abkürzung. Eine Gruppe alter Männer verabschiedet sich in verschiedenen Richtungen, einer von ihnen kommt mir entgegen. Ich zeige ihm meine Karte und er scheint meine Frage auch ohne Worte zu verstehen. Seinen Gesten ist zu entnehmen, dass der meinerseits erwogene Feldweg in miserablen Zustand ist und bei diesem Wetter unpassierbar sein dürfte.
Selbst der ausgewiesene Weg hat seine Tücken, um so mehr ist dem Rat des alten Mannes zu trauen. Im sich anschließenden Wald geht es holprig über Stock und Stein, oft muss ich deshalb schieben. Ab Oslov geht es bis Zvíkovské Podhradí die Landstraße entlang. Hier wäre ein Abstecher zur Burg Zvíkov reizvoll, die an der Mündung der Otava in die Moldau liegt - ursprünglich als Festung auf einem Felsen errichtet, liegt die Burg heute im Staubereich der Orlik-Talsperre, so dass die Burg wie eine Insel umspült ist. Die Besichtigung der Festung, in der sich, so lassen archäolgische Funde vermuten, schon keltische Krieger verschanzten, war meinerseits fest eingeplant. Doch der schier unaufhörliche Regen ertränkt alle Schaulust in mir. Und da ich fest davon überzeugt bin, dass sich an diesem verregneten Mittwochvormittag kein Tor und keine Tür der Burg für mich öffnen wird, biege ich kurz entschlossen rechts ab, um dem ausgewiesenen Weg zu folgen, der weiter über Landstraßen führt.
Einige Kilometer nach Kucer zweigt der Radweg nach links ab, doch der Abgleich mit der Karte, die dort holprige Abschnitte anzeigt, lässt mich eine Abkürzung wagen und so bleibe ich geradeaus in Richtung Sobědraž – die kaum befahrenen, durch Waldabschnitte führende Straße erweist sich als gut asphaltierte Alternative. An der nächsten Kreuzung halte ich mich rechts und schwenke bei nächster Gelegenheit links wieder in den Wald.
Ein großes gelbes Schild soll mit fetter Schrift vor etwas warnen – „POZOR“ heißt so viel wie Achtung. Den Rest verstehe ich nicht, aber das Wort „RADIOLOKATORY“ klingt irgendwie gefährlich. Da nirgends eine Absperrung zu sehen ist, vertraue ich mal darauf, dass unter dem Weg kein provisorisches Endlager für Atommüll angelegt wurde... Nach Přílepov komme ich wieder auf die ausgeschilderte Moldau-Route.
Auf Besucher scheint das Dörfchen Klučenice eingestellt zu sein. Ein Schild verweist gar auf die Öffnungszeiten einer Tourismusstelle. Tatsächlich kann sich die Kirche sehen lassen und auch sonst wirkt der Ort nett herausgeputzt. Einiges deutet daraufhin, dass es hier vor nicht allzu langer Zeit noch größere Erwartungen an den Tourismus gab. Doch auf der großen Reklametafel an einem Haus ist alles durchgestrichen, was sich auf das einstige Quartierangebot bezieht.
Schon hier befürchte ich, dass die Quartiersuche wieder eine abendfüllende Herausforderung werden könnte. Im Zentrum des Dorfes Krásná Hora, was sich mit euphemistischen Wohlwollen als Schöner Berg übersetzen lässt, ist nirgends ein Pensionsschild zu entdecken. Der Ort, der auch mit seinem Beinamen „nad Vltavou“ ziemlich übertreibt, wenn man bedenkt, dass weit und breit keine Moldau zu sehen ist, bestätigt meine Befürchtungen. Am Giebel eines Hauses hängt ein Reklameschild, der Firmenname ist vermutlich ein Wortspiel: FloP.
Das Kaff mit seinen obligatorischen drei Reifenwerkstätten kommt mir tatsächlich wie ein Flop vor. In einer Kneipe verspreche ich mir Auskunft über die im Radführer* angegebenen zwei Pensionen. Im verräucherten Schankraum hocken ein paar Stammgäste um ihren Tisch, die beäugen mich misstrauisch, als käme ich direkt vom Mars oder aus einer fernen Galaxie. Stumm wenden sie ihren Blick zurück zum Fernseher, wo eine Sportsendung übertragen wird. Der Wirt versteht ein paar Wörter Englisch und gibt mir zu verstehen, dass ich es in der nächsten Stadt, in Kamýk, versuchen sollte.
Ich folge den Schildern der Moldau-Route durch die Siedlung Zhoř, wo der kläffende Köter eines Bauern eine große Fotovoltaikanlage zu bewachen scheint. Erst als ich hinter einer weiteren Kurve verschwinde, beruhigt er sich wieder. Nach steiler Abfahrt gelange ich an die Moldau und erreiche nach einer Flussbiegung Kamyk, eine Stadt, die ihren Beinamen nad Vltava zu Recht trägt. Doch auch hier bleiben meine ersten Versuche, Quartier zu finden, erfolglos. An einer Pension öffnet niemand, die andere erweist sich als chinesisches Restaurant. In einer Kneipe, weiter oben im Ort, wo der Fernseher ebenso im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit steht, vertummen die Stammgäste wie vorher im trostlosen Krásná Hora. Hierher hat sich doch nie ein Fremder veriirrt, was will der denn hier?
Einer der alten Männer, die da jungen Männern beim Sporttreiben zusehen, verweist mich auf die Pensionen, die sich gerade als Fehlanzeige erwiesen hatten. Auf meinen Einwand zeigt er in eine andere Richtung, den Berg hinauf. Vorsichtshalber frage ich noch nach der Entfernung: Kilometer? Die tschechische Antwort verstehe ich sogar: Etwa 500 Meter. Das kann ich wagen, auch wenn ich nachher dennoch umkehren müsste. Schon von weiten kann ich am Waldrand ein einzelnes, modernes Gebäude erkennen. Als ich näher komme, erkenne ich die Aufschrift Penzion.
Noch immer regnet es aus vollen Kannen und ich wünsche mir gerade nichts sehnlicher als ein warmes Zimmer. Doch niemand öffnet. An der Tür ist ein Schild mit einer Telefonnummer. Mit nassen Händen krame ich im Gepäck nach dem Handy, das ich erst aktivieren muss. Irgendwas mit der Nummer scheint nicht zu stimmen - eine automatische Ansage erklärt auf Englisch, dass die Nummer nicht vergeben sei. Habe ich mich verwählt? Muss ich eine andere Vorwahl benutzen? Muss ich die in Klammern angegebene Null der Vorwahl nun einbeziehen oder nicht? Ich bin wahrscheinlich doch schon zu "retro“ für diese sich dauernd verändernden Kommunikationswelten.
Ich starre in den grauen Himmel über der Stadt im Tal, wo keine Hoffnung auf Nachlassen des Regens sich zeigt. Und mache mir bewusst, dass zwischen hier und Prag – bis dahin wären es noch 80 Kilometer - keine Stadt liegt, die sich mit dem hiesigen Kamýk messen kann. Muss ich mich auf eine Nacht im Freien einstellen, mit völlig durchgeweichten Klamotten am Leib? Meine letzte Hoffnung auf ein warmes, trockenes Nachtlager schwindet dahin. Es ist erstaunlich, wie gelassen man in solch auswegslosen Situationen mitunter bleiben kann. Ich ärgere mich über die leeren Versprechen der Reiseliteratur und sollte angesichts der als hoffnungslos empfindbaren Situation, angesichts der real existierenden Nässe und der real einbrechenden Nacht langsam der Verzweiflung nahe sein. Aber irgendwie scheint mein Hirn in dieser aussichtslosen Lage die Produktion von Durchhaltehormonen zu veranlassen. Es muss doch wenigstens in dieser verdammten Stadt da unten irgendein verdammtes Zimmer für einen verdammt aufgeweichten Radfahrer geben, verdammt noch mal!
Ich bin noch viel zu sehr mit dem Handy beschäftigt, um aufzugeben. Erst will ich es noch mit der Null in Klammern probieren. Doch da, taucht eine Frau auf und sie spricht sogar gut deutsch. Und sie ist die Wirtin! Und sie hat ein Zimmer für mich! Sie sind mein rettender Engel! sage ich ihr in meiner großen Erleichterung.* Und wenn sie noch ein Bier für mich haben oder zwei, dann will ich heute Abend der glücklichstes Mensch auf Erden sein.
Von einem Tag, an dem es regnete, regnete, regnete, kann ein Radler kaum viel mehr erzählen, als dass es geregnet hat. Oder aber beschreiben, wie sich Nässe anfühlt, wenn sie einem so über den Tag hinweg langsam von den Füßen, die in aufgeweichten Sandalen stecken, in Bereiche vordringt, deren Durchnässung man wegen der Nutzung eines Regencapes eigentlich ausgeschlossen hatte. An die feuchten Hände und den Tropfen, der einem stetig an der Nasenspitze baumelt, kann man sich mit der Zeit gewöhnen, aber an nasse Kleidung weniger. Unterhalb der Gürtellinie fühlt man sich bei aller Ignoranz doch recht eingenässt.
Ein Blick aufs Tachometer verrät mir, dass ich heute trotz - oder wegen - der widrigsten Wetterbedingungen an die 90 Kilometer zurückgelegt habe. Aber wo hätte ich mich bei so einem Wetter auch lange aufhalten sollen? Im Traktormuseum? Kaum sitze ich, frisch geduscht, wieder in trockenen Tüchern, kommt mein Humor zurück. Am Abend dieses verregneten Tages empfinde ich aber auch eine Portion Demut - oder innigste Dankbarkeit, weil mir in meiner Verzweiflung dann doch noch Arthur der Engel mit seinen Regenschirm zur Hilfe eilte und die Tür in diese komfortable Unterkunft öffnen ließ.
Donnerstag, 21. Mai.
Der Regen hat aufgehört, hurra, hurra, hurra! Punkt 7 bin ich im Frühstücksraum. Nur für mich ist gedeckt – bin ich der einzige Gast? Ja, sagt die junge Frau, vielleicht die Tochter der Wirtin, in ebenso fließendem Deutsch wie gestern die Chefin. Ich bitte sie, ob sie für mich telefonisch ein Zimmer im Prager Hotel Hasa buchen könnte, wo ich schon bei der Anreise übernachtet hatte. Ja, gebucht, die diensthabende Rezeptionsfrau hätte sich sogar an meinen Namen erinnert – und an mein Rad. Wie herrlich zu wissen, dass in der großen Stadt Prag schon ein Zimmer auf mich wartet. Einmal nicht suchen müssen!
Auf der Heizung konnte ich meine nassen Sachen trocknen – nicht nur was ich am Körper trug, war durchnässt, auch der Inhalt meines kleinen Rucksacks trieft. Einiges hatte ich in Plastiktüten verpackt, das blieb trocken. Aber ein Büchlein, das sich noch von der letzten Radtour im untersten Fach verbarg, war aufgeweicht. Ich trocknete es Seite für Seite mit einem Fön. Noch schlimmer sah der Inhalt meiner Lenkertasche aus, in der schwamm es regelrecht. Vor allem war ich um meinen Fotoapparat besorgt - der war so nass, dass ich gar nicht erst versuchte, ihn einzuschalten. Beim Test heute morgen reagiert nicht jeder Knopf, vielleicht gibt sich das noch.
Da mein hiesiges Quartier am Berg liegt und der Weg zurück ins Tal ein Umweg wäre, kürze ich die Strecke nach Drážkov ab. Dann bin ich wieder auf dem ausgeschilderten Moldau-Radweg, der hier über schmale Landstraßen führt und etliche Waldabschnitte streift. Nach dem Queren einer Fernverkehrsstraße bei Lichovy sieht alles so aus, als sei ich genau auf dem Weg, den meine Karte ausweist, ab und an fehlt ein Schild, aber die Richtung kommt hin und dann sehe ich auch wieder Moldau-Schilder. Wie auf der Karte angezeigt, biege ich westlich von Krepenice links auf eine Fernverkehrsstraße ab – jedenfalls glaub ich das.
Seltsamerweise liegen aber plötzlich Ortschaften auf meiner Strecke, die ich nur streifen dürfte, wäre ich an der großen Straße rechts abgebogen! Und bei Chlum geht es dann sehr steil bergan... Spätestens beim Anblick dieser Steigung meldet sich die innere Alarmanlage, werde ich argwöhnisch: Hier kann was nicht stimmen. Laut Karte müsste ich längst im Tal auf einer Moldaubrücke sein. Wie kann da so ein riesiger Berg vor mir liegen? Aber an der Straße erkenne ich die Radwegschilder mit dem Moldau-Zeichen, wie das? Die dürften meiner Karte zufolge an diesen Orten gar nicht sein! Was ist hier los?!?
Bin ich denn jetzt völlig verwirrt? Ich bin doch links auf die Straße abgebogen, wie kann ich da auf einer Strecke sein, die rechts davon liegt. Der Himmel ist bedeckt, Orientierung an der Sonne nicht möglich. Aber wenn ich den steilen Berg hinauf fahre, komme ich in jedem Fall von der Route weg, die auf meiner Karte eingetragenen ist - und zwar so weit, dass der weitere Verlauf außerhalb meiner Karte läge. Das sind sprichwörtlich böhmische Dörfer für mich, ich verstehe nicht, was hier los ist. Erstmal umkehren!
Ich fotografiere an jeder Kreuzung die Schilder, um mir später, mittels der Fotos, einen Reim auf meine derzeitige Lage machen zu können. Ich komme wieder am nördlich gelegenen Dorf Krepenice vorbei, das ich merkwürdigerweise durchquert hatte, bevor ich links abbog. Das bedeutet, ich muss vor meinem Abbiegen nach links aus nördlicher Richtung gekommen sein. Aber wie kann das sein?!? Völlig unklar. Dann hätte ich die große Fernverkehrsstraße ja schon überquert haben müssen, bevor ich sie erreicht habe? Das ist alles völlig unlogisch.
Ich prüfe meine Karte wieder und wieder, um herauszufinden, wo ich mich verfahren haben könnte. Ich sehe definitiv keine Möglichkeit, wo das passiert sein kann. Aber nach einer langen Rechtskurve, die in den Wald und unten ins Tal führt, wo die Moldau genau da zu sehen ist, wo sie laut Karte zu sein hat, kommt die Gewissheit zurück, endlich wieder auf der eingetragenen Strecke zu sein. Die Frage, wie es zu der Verfahrung gekommen ist, tritt damit in den Hintergrund. Ich werde das später zu ergründen versuchen. Jetzt erstmal Strecke aufholen!
Ich fahre über die Brücke und bin, wie erwartet im Dörfchen Cholin, von wo es nun wieder steil, teils holprig bergan geht. Auch das Ortseingangsschild von Celina beseitigt letzte Zweifel: ich bin wieder auf der Moldau-Strecke? Zumindest auf der in der Karte eingetragenen Strecke - Radwegweiser mit dem Moldau-Zeichen fehlen hier. Es gibt nur eine Erklärung: Irgendwo muss ich, von Süden kommend, eine Straße gequert haben, ohne es zu bemerken, dass es die Fernverkehrsstraße war. Dann muss ich wohl von Westen her einen Bogen durch Krepenice gemacht haben, so dass ich nachher von Norden her auf die große Straße getroffen sein könnte – in der festen Überzeugung von Süden zu kommen...
Inzwischen, einige Kilometer weiter, wo ich auf keinem der Radwegweiser das dreieckige Moldau-Zeichen finde, sondern auf manchen Schildern nur noch verblichene Reste des einstigen Aufklebers zu erkennen sind, wird mir klar, dass die Streckenführung der Moldau-Route verändert wurde. Die Frage ist nun: Wann? Mein Broschüre* ist eine Auflage des Vorjahres (2014), also eigentlich nicht so alt. Aber was hat das schon zu sagen, nach all den mangelhaften und fehlerhaften Angaben, die mir auf den Wegen durch den Böhmerwald schon aufgefallen sind!
Im Dörfchen Sejká Lhotá fehlen wegen dieser Streckenänderung auch die Wegweiser. Ich bin allein auf die ungenauen Kartenabschnitte angewiesen. Auf einer Wiese entdeckt mich ein Bernhardsenner und rennt bellend auf mich zu. Sein Herrchen versucht ihn zu räsonieren, aber die Freude des Hundes, einen Radler zum Halten zwingen zu können, ist dem Gehorsam überlegen. Ich lasse ihn heran und lassen ihn bellen und schnüffeln, versuchen ihn auch mit leiser Stimme zu besänftigen - das gelingt dann auch. Sein Herrchen kann mir dann gleich bei der weiteren Orientierung helfen.
Nach dem Ort Slapy komme ich an eine Fernverkehrsstraße, etwa 50 Meter links einer Tankstelle führt ein schmaler Weg in den Wald, das könnte der ehemalige Radweg gewesen sein. Der geht zunächst steil bergab, dann kommt eine Schranke, an der ich nur mit viel Rangieren vorbeikomme. Wo der Weg auf ein Flüsschen trifft, geht es nach rechts durch eine hübsche Laubenpiepersiedlung. Besitzer sind nicht zu sehen, aber ein Schäferhund kommt mir entgegen, nach einer Weile ein zweiter, beide beschnuppern mich nacheinander - und begnügen sich mit dieser Art von Passkontrolle. Einer der beiden scheint mir den Weg über eine schmale Brücke zu weisen, indem er sie quert. Der Weg allerdings führt durch eine breite Furt. Die provisorische Brücke kommt für mich nicht in Frage, weil ich mein Rad kaum über die hohen Stufen bekommen würde. Auch der schmale Steg ist nichts für mein breites Rad - zu gefährlich, dort abzurutschen.
Hier heißt es: Sandalen ausgezogen! Und dann schiebend durchs kühle Nass! Etwas rutschig ist es auf den Betonplatten und mein Rad möchte da am liebsten auch abgleiten. Doch ich bleibe Herr der Lage. Die beiden Hunde, für welche die Brücke in erster Hinsicht gebaut zu sein scheint, begrüßen mich trockenen Fußes am anderen Ufer. Die Straße mäandert wie das Flüsschen zu Tale, vorbei an hölzernen Blockhütten, die glatt als Filmkulisse für eine Goldgräberstadt des Wilden Westens herhalten könnten.
Das Freilfuft-Pissoir, das ein Bewohner der Siedlung am Wegesrand anbrachte, dürfte mehr als ein Scherz sein - das lässt sich vom angeschlossenen Abflussrohr folgern.
Nach zwei weiteren Kurven bin ich in Štěchovice und damit wieder an der Moldau. Die direkt am Ufer entlang führende, stark befahrene Fernverkehrstraße 102 dürfte der Hauptgrund sein, weshalb die Streckenführung der Moldau-Route in den Bergen bei Kreprenice verändert wurde.
In einem Obstladen in Měchenice sehe ich die ersten Aprikosen dieses Jahres, sie sind so schmackhaft, so saftig, dass ich das ganze Pfund bis Zbraslav verzehrt habe. Dort geht es über die Brücke und am rechten Moldauufer gibt es endlich wieder einen Radweg. Die Strecke durch die Vororte von Prag zieht sich hin. An einer Freiluftbühne schüttelt jugendliches Publikum die Köpfe im hämmernden Takt einer tschechischen Rockband. Einige besonders verwegene Burschen spielen Luftgitarre. Warum spielt eigentlich niemand Luftschlagzeug? Oder Luftkeyboard?
Je näher ich dem Stadtzentrum komme, desto mehr Jugend, mehr Disko, mehr Lärm, mehr Imponiergehabe. Auf diese Weise kündigt sich die große Stadt an. Die Türme der St. Peter und Paul Kathedrale über den Festungsmauern der Prager Hochburg verraten mir bereits, dass mein heutiges Nachtquartier nur noch wenige Kilometer entfernt liegt. Nach dem Tunnel ist schon die Eisenbahnbrücke zu sehen, an der ich rechts einschwenken könnte, um direkt zu meinem Hotel zu fahren.
Der diesige Abendhimmel streut diffuses Licht. Es ist erst gegen acht - mein reserviertes Bett kann warten. Der Appetit auf ein Pivo an einer der Brücken am Moldauufer ist groß – ich habe es mir anständig erradelt. Einige der Bier-Ausschänke sind an diesem Donnerstagabend geschlossen, da sind die freien Plätze rar. Ich belasse es bei dem einen Bier und mache mich auf den Weg zu meiner Herberge. Dort habe ich diesmal sogar ein Nichtraucherzimmer, davon gibt es nur eins auf jeder Etage!
Nach dem Einchecken begebe ich mich hinunter in die Eissporthalle und schaue noch ein Weilchen den Hockeyspielern zu - direkt von der Auswechselbank aus, wo sich die Spieler beider Mannschaften nach einem System auswechseln, das nur Eingeweihten verständlich wird. An diesem Abend schließt sich der Kreis meiner kleinen Rundreise, aber meine Moldau-Fahrt geht weiter bis Mělník und von da heim nach Dresden.
Der Fotoapparat funktioniert wieder ohne Einschränkungen - und auch das Büchlein hat die Nässe wie das Fönen wohlbehalten überstanden. "Du bist nicht etwa bloß im Schlafe, sondern selbst im tiefsten Nachdenken gedanken- und sprachlos," schrieb Max Stirner, "und dann gerade am meisten." Im tiefen Nachdenken über den paradoxen Gedanken werde ich schwerelos und entschwebe ins Reich gedankenloser Träume.
Hotel Hasa* ist ein wahrlich unbezahlbarer Tipp für ein wahrlich bezahlbares Quartier in Prag! In einer bemerkenswert ruhigen Sackgasse südlich des Altstadtzentrums gelegen, braucht es mit dem Rad kaum 30 Minuten, wenn man die günstigste Strecke schon kennt: In unmittelbarer Nähe ist auch ein Bahnhof, von welchem die Metro wohl keine fünf Minuten bis zum Hauptbahnhof brauchen dürfte.
Freitag, 22. Mai.
Ein ausgiebiges Frühstücksbuffet lädt zum Schlemmen ein. Doch früh morgens den Bauch vollstopfen, das war noch nie mein Ding. Dennoch lasse ich mir Zeit, denn die 60 Kilometer bis Mělník sind im Vergleich zu allen bisherigen Etappen ein Klacks. Am Zusammenfluss von Moldau und Elbe will ich mich dann von der Moldau verabschieden, auf nahezu 500 Kilometern war sie dann meine - nicht immer ganz treue - Begleiterin... Erst versteckte sie sich schüchtern in den Bergen des Böhmerwaldes, in ungezählten Biegungen mauserte sich das junge Mädchen zur Prinzessin. Dann neckte mich die übermütige Jungfer einen Tag lang mit Niesel und - weil mich das wenig beeindruckte - noch einen Tage lang mit Regen. Erst auf dem Weg nach Prag hat sie ihre Zicken aufgegeben und ist jene stolze Dame geworden, die sie zur Königin Böhmens macht. Schauen wir also heute an, ob sie ihren letzten Abschnitt würdevoll zu absolvieren versteht.
Während der Dichter in mir nach weiteren Metaphern sucht, ruft mich der ordinäre Nippel eines Bremsbowdenzuges auf den Boden der Realität zurück. Der Nippel hat sich so schräg in der Lasche des Griffs verkeilt, dass ich ihn einfach nicht zu fassen bekomme. Neurotische Großstadtköter versuchen meine Reparaturbemühungen zu stören, ihre Herrchen und Frauchen versuchen ihre vierbeinigen Freunde lautstark zur Räson zu rufen - doch das nervt zusätzlich. So habe ich wohl eine halbe Stunde zu tun, um dem Nippel aus der Klemme zu helfen und alles wieder so zu richten, dass es funktioniert.
Ich folge dem mir inzwischen gut vertrauten Weg zur Eisenbahnbrücke, werfe einen Blick zurück zu St. Peter un Paul. Weiter am Moldauufer entlang bis zur Karlsbrücke. Mein Tacho-Thermo-Chronometer zeigt an, dass es auf neun zugeht. Da könnte ich noch einen Abstecher zur Astronomischen Aposteluhr machen, die ihre Figuren zu dieser Stunde erstmals am Tag aus den beiden Fensterchen blicken lässt. Hundert Schaulustige haben sich bereits versammelt und die Kameras startklar gemacht.
Nur eine halbe Minute dauert die Vorstellung, die sich zu jeder vollen Stunde wiederholt, dann sind die von der Straße aus kaum zu erkennenden Figuren einmal reihum und wieder im Turm verschwunden - noch eine halbe Minute dauern die neun Gongs für die Stundenzahl. Eine Minute alles in allem - eine Minute, die niemand dümmer gemacht hat, aber mit Sicherheit auch nicht klüger. Und doch gehört diese eine Minute zu einem Prag-Besuch wie das Flanieren auf der Karlsbrücke - und das „jedno pivo“ am Moldauufer.
Eine Oldtimerparade lenkt an der quer gegenüber liegenden Seite des Platzes die Aufmerksamkeit der Fotografen auf sich. Auch das hat man schon huntertmal und überall gesehen - trotzdem schaut man immer wieder hin. Zusehends füllen sich die Straßen der Altsatdt, schon eine Viertelstunde nach 9 stehen sich geführte Reisegruppen gegenseitig im Weg - Prag hat wahrlich einiges an Sehenswürdigkeiten zu bieten.
Die Abkürzung über die vierspurige Brücke in den Stadtteil Holesovice böte sich an, aber der lärmende Straßenverkehr schreckt mich ab - ich folge besser dem ausgewiesenen Radweg ums große Moldauknie. Unter der Eisenbahnbrücke erheben sich Obdachlose von ihren Schlafplätzen. Sie sammeln ihre wenigen Habseligkeiten in ihre Tüten und blicken, taumelnd noch, einem langen Tag entgegen, der sie bis Mitternacht von einer Sitzbank zur nächsten treiben lässt.
Erstmals auf meiner ganzen Fahrt kommt mir ein Rad entgegen, das für eine längere Tour bepackt ist: eine junge Frau im langen bunten Blumenkleid sitzt im Sattel. Da sage noch einer, ich sei „retro“! Mehr „retro“ als eine Flowerpower-Radlerin mit flatterndem Kleid und wehendem Haar ist kaum möglich. Sie lächelt mir entgegen, doch wir fliegen sehr schnell an einander vorbei. Tja, das ist dann wohl die Liebe im Vörübergehen und darum ist sie schnell vorbei - sie kann nur ganz, ganz kurze Zeit bestehn, im Monat Mai...
Noch vier Kilometer bis Troja, verrät ein Wegweiser. Habe ich es doch geahnt: Heinrich Schliemann hat sich eben doch geirrt, als er die Festung des Priamos in Kleinasien gefunden zu haben glaubte. Keine Ahnung, woher die Namensgleichheit des nördlichen Stadtteils von Prag tatsächlich stammt, jedenfalls hat sich ein Spaßvogel das sagenhafte Holzpferd der griechischen Brautjäger nachgebaut.
Das Surren der Metropole ist hier schon fast verstummt. Der Asphaltweg und etliche begrünte Abschnitte sorgen für eine angenehme Fahrt am rechten Moldauufer entlang. Über den Berghängen bei Sedlec senken sich die Flugzeuge zum Landeanflug nach Prag. Der Minutentakt der An- und Abflüge vermittelt einen Eindruck davon, dass Prag mit seinen vielen, oft so kleinstädtisch wirkenden Gassen dennoch eine moderne Millionenmetropole ist - mit all den abstoßenden Phänomenen der Urbanität. Nicht nur einige hundert Menschen bleiben in einer Stadt wie Prag auf der Strecke. Auch Hund und Katz geraten ins Getriebe, streunen umher.
Erbärmliches Jaulen und Bellen dringt aus den Käfigen eines Tierheimes. Eine weinende alte Frau, die von einer Freundin getröstet wird, lässt keinen Zweifel daran, dass ihr vierbeiniger Liebling hier nicht abgegeben wurde – noch nicht - die Hoffnung bleibt. Jeden Radler, jeden Passanten scheinen die Hunde um Erlösung anzuflehen. Manch einer von ihnen wird vergebens klagen und weinen.
In einem Gebüsch am anderen Ufer versteckt, bemerke ich ein aus Verschlägen und Zeltplanen zusammengestückeltes Eigenheim. So romantisch es aus der Ferne aussehen mag, mit dem Fernglas erkenne ich einen alten Mann, der mit Schaufel und Harke beschäftigt ist. Ein großes Pappschild soll vermutlich die Passagiere gelegentlich vorbeifahrender Schiffe auf sein Schicksal hinweisen. Ich schreibe mir den Satz auf und lasse ihn mir später übersetzen: Familie sucht Arbeit.
Bei Roztoky am gegenüberliegenden Ufer windet sich die Moldau nach links, der Wegweiser führt rechts einen steilen Berg hinauf. Auch der Radführer* rät dazu, diesen Weg zu nutzen, obgleich es auch einen trampelpfadartigen Weg am Ufer entlang gäbe - ganz ohne jeden Anstieg, aber unsicher. Ich folge der Beschilderung. Im Dorf Vodochody vermisse ich Wegweiser und frage einen Mann, ob mich der Weg durch den Wald ans Moldauufer führe. Ist möglich, antwortet er in gebrochenem Deutsch. Sein sonnengegerbtes Gesicht lässt auf südländische Herkunft schließen. „Möglich“ ist ein treffendes Wort, denn die Beschaffenheit der Straße lässt doch sehr zu wünschen übrig. Herumstehende Baumaschinen versprechen Besserung. Die Abfahrt ist unter den holprigen Straßenverhältnissen kein Vergnügen.
Der Wald, in dem die Natur ein verfallenes Häuschen umwuchert und sich auf diese Weise zurücknimmt, was ihr gehörte, lässt mich gern absteigen und schieben. Wieder am Fluss angelangt verführt eine sonnige Terrasse mit Blick zur Moldau zum Verweilen – und ein Imbisstand zum Mittagessen. Das auf einer Tafel angepriesen Angebot ist mir unverständlich. Linsensuppe, empfiehlt die Köchin auf deutsch. Super, sage ich. Indessen ist die fetttriefende Wurst (Kolbas), die ein deutsch sprechender Mann bestellt hatte, abholbereit. Die Köchin weiß nicht, wie sie ihn rufen könnte, deshalb übernehme ich das für sie.
Mit dem Linseneintopf und einem Bierchen setze ich mich zu ihm und seiner Begleiterin an den Tisch. Die beiden Bayern, die etwas älter als ich sein dürften, haben ihre Tour in Dresden begonnen, kommen mir also aus meiner Heimat entgegen, wollen dann von Prag westlich nach Pilsen einschwenken und von da nach Strübing an der Donau, wo sie wohnen. Die beiden Schnittstellen unserer Unterhaltung sind zwar Dresden und Strübing, doch die Beschreibung ihrer bisher absolvierten Strecke, also jenes Abschnittes, der noch vor mir liegt, bringt sie ins Schwärmen.
Ihr Schwärmen steigert meine Erwartungen. Ihre sehr sympathische Art nimmt mir ein Stück der Distanziertheit, die ich sonst gern bewahre, nachdem schon so mancher Reisender versucht hatte, mir meine Stadt zu erklären – oder gar die Vorzüge der "ehemaligen DDR“... Hier erlebe ich jedoch einen angenehmen Erfahrungsaustausch. Und dass die Lokführergewerkschaft kurz nach der Beendigung eines Streiks schon wieder ein paar Tage die deutschen Bahngleise ruhen ließ, erfahre ich nebenher auch noch. Demzufolge ist meine Anreise nach Prag vor einer Woche also in ein sehr kleines Zeitfenster gefallen - was für ein Glück für mich.
Kaum haben wir uns verabschiedet, winkt mir der Mann zu, den ich vor einer Stunde oben in Vodochody nach dem Weg gefragt hatte. Er winkt so freundlich, dass ich nicht umhinkomme, gleich wieder von meinem hohen Ross abzusteigen und mich zu ihm auf die Bank zu setzen. Schönes Wetter heute, sagt er. Wo er Recht hat, kann ich ihm nur zustimmen. Dann fragt er mich nach meinem Namen – und ich ihn nach seinem. Mohamed. Wie der Prophet, erwidere ich. Ja, aber er sei Katholik. Die Religion könne man einfacher ändern als den Namen, erklärt er. In Köln war er verheiratet, aber es sei leider sehr normal in Deutschland, sich scheiden zu lassen... In seiner einstigen Heimat, in Tunis, läuft das sicher anders.
Auch diese kleine Unterhaltung ist eine angenehme Abwechslung auf meinen sonst so schweigsamen Wegen. Es kommt mir vor, als hätte ich allein in diesen beiden Unterhaltungen mehr Worte gesprochen als in allen vorangegangenen Reisetagen zusammengenommen. Immerhin hat die kleine Plauderei mit Mohamed auch einige menschliche Nähe - sie gibt mir eine Ahnung davon, was es heißt, entwurzelt zu sein. Während ich wieder am Ufer entlang radle, denke ich noch eine Weile über Mohammed nach. Ich frage mich, welche Umstände ihn dazu bewogen, sein Glück in Deutschland zu versuchen, eine deutsche Frau zu heiraten, die Religion zu wechseln. Und was mag ihn vom quirligen Köln in die tschechische Provinz verschlagen haben? Fern der Heimat eines neues Leben beginnen? Mit genug Geld kann das gelingen. Um sich mit Arbeit welches zu ersparen, ist das Leben zu kurz - und das Geld zu unbeständig...
In Lobeček geht es über die Brücke ans linke Ufer. Danach vermisse ich Wegweiser, halte mich instinktiv nahe am Ufer, obgleich die Wege nicht immer vertrauenerweckend sind. Hier geht es quasi über Trampelpfade ganz nah am Fluss entlang, nebenher verlaufen die Bahngleise, die gelegentlich in Tunneln verschwinden. Ansonsten
widersetzen versprengte Felsen sich der unablässigen Bauwut des Menschen - ein Stück urwüchsige Natur kann sich erhalten.
Ein Grüppchen Kinder hat beim wabenartig verwitternden Sandsteinfelsen den besten Abenteuerspielzeugplatz gefunden, den sich Jungs im Alter von 10 oder 12 Jahren wünschen können. Denn was bietet da mehr Reiz als das Klettern zwischen kleinen Felsvorsprüngen, das Rutschen durch kleine Höhlen. Früh übt sich, wer dazu Gelegenheit hat und hoch hinaus will im Leben...
Bei Hled’sebe geht es über ein rostiges Ungetüm, das den Namen Stary Most (Alte Brücke) zurecht trägt, wieder ans rechte Ufer - nur noch Fußgängern und Radlern darf sie zur Flussquerung dienen. Die ein Stück weiter zu unterquerende neue Autobrücke ist dafür um so stärker befahren, Lastfahrzeuge im 5-Sekunden-Takt. Zu meinem Erstaunen hält das keinen Freund von Zelt und Luftmatratze davon ab, auf dem nahen Campingplatz zu übernachten.
Nur wenig weiter ist wieder stille Landidylle und ich gelange an das hübsche kleine Schloss, von dem das Pärchen aus Bayern geschwärmt hatte: Schloss Veltrusy. Die Hofgestaltung erinnert an den Dresdner Zwinger, das satte Bordeaux an den Fassaden eher ans Pillnitzer Schloss. Vereinzelte Besucher spazieren durch die Parkanlage. So lange das Schloss nur über schmale Landstraßen erreichbar ist und keinen Parkplatz hat, wird es auch am Wochenende von Besuchermassen verschont bleiben...
Schmale Wäldchen säumen das Schloss - so konnte der Bauer dem einstigen Schlossherren nicht auf den Teller schauen... Kommt uns das aus unserer lieben Nachbarschaft irgendwie bekannt vor? Ja. Da sind die Wäldchen allerdings nur noch Hecke, Zaun, Mauer oder dergleichen "Sichtschutz"... Ein Weg schwingt sich im großen Bogen um das fürstliche Anwesen, mitten durch den Duft des blühenden Rapsfeldes. Nach links, gen Norden, führt eine schnurgerade Allee. Der Wegweiser verrät: noch 20 Kilometer bis Mělník.
Eine moderne Bogenbrücke trägt Pipelines über die Moldau. Dann geht es scharf rechts herum zum Dörfchen Všestudy, im Ort zweimal linksherum, unter einer Autobahnbrücke hindurch nach Dušniky, dann wieder rechts, zu einem Dorf mit dem für nichttschechische Augen seltsam zu lesenden Namen Dedibaby. Weiter nach Bukol, von wo man mit der Fähre ans linke Ufer übersetzen kann – sofern der Fährmann da ist.
Auf dem Schild am Anleger der Rollfähre* sind die Betriebszeiten bekannt gegeben, doch von einem Fährmann ist weit und breit nichts zu sehen. Kurz bevor ich das Warten aufgebe, bemerke ich unten auf dem grünen Schild einen Klingelknopf. Darunter mit verblassten Filzstift geschrieben: 3 sek. - Drei Sekunden drücken? Das ist einen Versuch wert...
Nach einer kurzen Weile kommt am anderen Ufer ein Mann zur Fähre geschlendert, besteigt sie und setzt zu mir über. Ich filme seine Routinen, die kleine Fähre allein mittels eines Steckruders in die Strömung zu lenken. Er hilft mir, mein Rad an Bord zu bugsieren. 25 Kronen, sagt er auf deutsch. Woher weiß er, dass ich deutsch verstehe? Diese Frage versteht er nicht, weder in deutsch noch in englisch. Am Ufer erklärt er mir wieder in fließendem Deutsch, wo der Radweg weitergeht.
Nach zwei Kilometern überspannt eine Pipeline die Moldau. An den Brückenpfeilern sind steile Eisentreppen, man könnte schon sagen: Leitern. Zwei Radler rücken dort ihr Gepäck und ihre Kleidung zurecht. Seid ihr gerade da rüber, frage ich die beiden? Ja, antwortet der Mann, und ich vermute, er hat nicht nur sein Rad, sondern auch das seiner Reisegefährtin über diese wohl 15 Meter hohe Leitertreppe geschleppt. Mit meinem Cruiser hätte ich nicht die geringste Chance gehabt.
Da hinten war eine Fähre, antworte ich dem sichtlich erschöpften Mann, dessen Begleiterin sich noch den Schweiß von der Stirn wischt. Ja, das wisse er jetzt auch, erwidert er mit niederländischem Akzent. Seine Begleierin bleibt stumm, ihrem versteinerten Gesicht ist noch keine Erleichterung zu entlocken. Ich vermute mal, dass sie beim Anblick dieser "undesired criticality" auf Zickenmodus umgestellt hatte und nun ein Weilchen braucht, dem vielleicht rechthaberischen Gefährten zu vergeben... Dann waren Sie also nur zu geizig fürs Fährgeld? scherze ich. Genau! gibt er lapidar zurück - wohl mit einer Portion Selbstironie, die nach so einer Strapaze ebenso ritterlich ist wie das Erdulden einer schmollenden Reisegefährtin.
Hinter einem Feld ist schon Mělník zu erkennen. In Horin, einem Dorf zu Füßen des Mělníker Weinberges, verleitet mich ein Eiscafé zu einer Pause. Die nehme ich gerne an. Während ich an dem süßen Zeug lecke, dessen Lila den Alchemisten tschechischer Farblabore alle Ehre macht, beäuge ich links von mir ein Mädchen - sie hat sich der Gruftyszene assimiliert, mit Punkfrisur, mit etlichen Ringen in Ohren und Brauen, in Nase und Lippen. Ich mutmaße, sie ist die Tochter des Eisverkäufers – jedenfalls erwidert sie dessen Frage nur widerwillig und ohne ihn des geringsten Blickes zu würdigen. Die jugendliche Verachtung von Abhängigkeiten war immer schon cool - zur Finanzierung von Klamotten und Mobilkommunikation muss man halt einige Kompromisse mache. Auch sonst bemüht sich die renitente Rebellenseele, jedes Anzeichen von Interesse an der Außenwelt zu vermeiden. Dazu ist ihr die Konzentration auf eines jener Mobilteile behilflich, deren Macht in heutiger Zeit so groß ist, dass man sich schon Asket nennen darf, wenn man keines hat. Keines haben zu wollen, macht uns geradezu suspekt - wer sich der elektronischen Totalität derart verweigert, muss ja was zu verbergen haben..
Hohe Mauern um eine Parkanlage zeugen davon, dass das Dorf ohne diesen Schutzwall bei Hochwasser gleich in den Fluten zweier Flüsse absaufen würde, denn hier ist die Stelle, wo sich Moldau und Elbe vereinigen. Unter dem Namen der letzteren strömt der Fluss ab hier durch die Ebene zum Böhmischen Mittelgebirge. Das Dorf liegt unter Hochwasseraspekten denkbar ungünstig – entweder wurde es an dieser Stelle von völlig ignoranten Siedlern gegründet oder aber die Ausmaße heutiger Überflutungen sind erst eine Folge der zahlreichen Siedlungen und Flussregulierungen, der Staustufen und Schleusen, welche die Moldau in ein Korsett zwingen, das sie bisweilen einfach nicht aushalten kann.
Von der Brücke, die nach Mělník führt, fällt der Blick zum Zusammenfluss von Elbe (links), Moldau (mitte) und einem Moldaukanal (rechts). Am Mělníker Ufer geht es steil am Weinberg hinauf in die Altstadt. Es ist punkt 5, vom Kirchturm über mir läuten die Glocken wie ein Willkommensgruß. Eine Serpentine bleibt noch, ehe ich ganz oben am Schloss bin. Mit jedem Höhenmeter wird die Aussicht schöner. Ich habe den ganzen Abend, den Rundblick zu genießen - zunächst soll aber erst ein Quartier gefunden sein.
Das findet sich in der Altstadt gleich beim ersten Anlauf.*
Das barock eingerichtete Schlossrestaurant mit dem herrlichen Ausblick ist leer. Hier zu tafeln versetzt dich in andere Zeiten - die Räume könnten einem Historienfilm als Kulisse dienen. Am Tresen finde ich endlich einen Kellner - ich nehme eine Kostprobe vom hiesigen Rotwein. Ein Gemälde preist den Genuss von Speise und Trank an, das links wehende Spruchband verkündet: Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, bleibt ein Narr sein Leben lang.
Die Aufforderung zum geselligen Zeitvertreib hat wenigstens für den hoch zu Rosse sitzenden Fürsten zu gelten, der sich auf einem Gemälde verherrlichen ließ, und für die von ihm geführte Entourage. Ein Lautenspieler umsäuselt das junge Paar, das auserwählt ist, künftig kleine Fürsten nachfolgen zu lassen. Der Galan, mit einem Weinkelch in der Hand, umschmeichelt das holde Fräulein und die treue Dienerschaft trägt Speisen und Getränke – schöne heile Märchenwelt. Doch wehe dem, der es wagt sich anzueignen, was ihm nicht zusteht! Wehe dem Dieb! Und wehe dem Fälscher! Den treiben die Soldaten vor sich her. Am Schlafittschen gepackt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, muss der Frevler die lange Nase hinnehmen, die ihm die frechen Kinder der Höflinge zeigen - das Spruchband über ihm verrät seine Vergehen: Der Wein ist eine Gottesgabe, doch wer ihn fälscht ein Unglück tut.
Moral ist das Gebot des Adels, das Gebot für die Untertanen. Meine Zunge hat eben einen winzigen Schluck der Gottesgabe vom hochfürstlichen, 1753 gegründeten Weingut Lobkowicz getestet und für unverfälscht befunden. Nun will ich das „Suffenir“ zu meinem Quartier bringen, um anschließend unbeschwert die alte Stadt weiter erkunden zu können. Doch ich komme nicht so weit. In einem kleinen Park sitzen zwei junge Männer auf einer Bank, einer von ihnen hat eine Gitarre auf dem Schoß. Da will ich einen Moment hinhören – oder auch länger, je nachdem. Doch sie sprechen mich sofort an, fragen mich, ob ich Gitarre spielen könne... Was soll ich mich da rausreden: ich kann es.
Ohne Zögern drücken sie mir die schwarz lackierte Klampfe in die Hände. Es dauert nicht lange und ich greife in die Saiten, zunächst zum Nachstimmen. Vielleicht beeindruckt sie meine Art, konventionell nach dem Gehör zu stimmen, ich bin eben "retro"... Der Besitzer entschuldigt sich sofort für die Minderwertigkeit seiner Gitarre, er habe sie mit 12 Jahren geschenkt bekommen - quasi zum Probieren. In der Tat ist es ein armseliges Wimmerholz, die fette E-Seite rutscht vom Hals, sobald man etwas beherzter zupft.
Die beiden sind sichtlich beeindruckt, welche Klänge ich dem Teil dennoch entlocken kann. Wir freunden uns schnell an. Bei einem Denkmal zu Ehren von Viktor Dyk* bekomme ich eine kurze Lektion über den bedeutenden tschechischen Schriftsteller, der sich in der Zeit der Emanzipation vom Habsburger-Reich auch politisch engagierte. Dann führen sie mich aus dem Altstadtkreis hinaus zu einer Kneipe, in der sonst Bands spielen. Heute aber nicht - oder noch nicht. Wir trinken ein Bier, ein junger Mann am Tisch schließt sich unserem Gespräch an und empfiehlt, in das Irish Pub am Marktplatz zu wechseln, wo man draußen an frischer Luft um einen großen runden Tisch sitzen kann. Mit jeder Bestellung dort wird dann die Runde größer: Schwestern und Freundinnen gesellen sich dazu.
Wer englisch kann, überhäuft mich mit Fragen – es ist wie ein Interview mit einem Weltreisenden. Wie ein Guru, um den sich eine Schar von Jüngern versammelt, komme ich mir vor. Mit jedem Bier wird meine Zunge lockerer - zu jeder großen Stadt, von der sie träumen, fällt mir eine Reiseanekdote ein. Könnte ich doch wenigstens auch ein paar Sätze auf Tschechisch sprechen. Die Aussprache sei das Schlimmste am Tschechischen, tröstet mich einer der Jungs. Das fängt schon bei der Aussprache des „í“ in Mělník an – nach dem 20. Versuch gebe ich auf.
Nach einer Woche, in denen meine Kommunikation auf Quartiersuche und gastronomische Belange reduziert war, nach all den schweigsamen Tagen in den Bergen ist der geschwätzige heutige Abend eine angenehme Abwechslung. Spätestens heute kann ich auch sagen: ich habe Land und Leute kennengelernt... Immerhin habe ich verstanden, dass diese jungen Tschechen, die erst nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht in die Welt kamen, die gleichen Träume haben, wie ich sie in jungen Jahren hatte: sie sind wissbegierig und sie wollen die Welt erfahren.
Das erinnert mich an meine eigenen Reiseträume. Lange musste ich damals mit dem Finger über die Landkarte fahren, bis sich meine Träume erfüllten, bis ich, mit einer Umhängetasche als einzigem Gepäck und einem bescheidenem Tagesbudget von 10 Dollar ausgestattet, durch die USA trampte - in mancher großen Stadt schlief ich auf einer Parkbank, immer auf der Hut vor Stadtstreichern und Polizisten... Damals hatte ich, wie diese jungen Tschechen, ferne Ziele. Ein halbes Leben musste ich auf die große Reise warten. Und beinahe ein halbes Leben später begnüge ich mit Wanderwegen durch böhmische Wälder!
Die untergehende Sonne färbt den Himmel in sattes Orange, wie in einer Abendstimmung von Caspar David Friedrich - es fehlen nur noch die geisterhaften Figuren, die heimlichen Selbstbildnisse... Aus der weiten Ebene ragt ein imposanter Berg auf, der sagenumwobene Říp.* Auf seinem Gipfel habe der Urvater Tschech einst das „gelobte Land“ gefunden und eine Siedlung gegründet. Seither steht der Berg im Mittelpunkt der nationalen Selbstfindung.Wäre der Říp nicht wie eine Käseglocke gerundet, könnte man ihn für einen Tafelberg halten - wahrscheinlich ist er vulkanischen Ursprungs. Fern am Horizont sind Kegelberge zu erkennen, die ihre vulkanische Herkunft jedenfalls nicht leugnen können. Alexander von Humbold bezeichnete den Ausblick vom Milleschauer,* der größere der beiden Kegel, als den drittschönsten der Welt. Bekanntlich ist der berühmte Naturforscher um die ganze Welt gereist, so dass man seinem Urteil keine Übertreibung unterstellen muss. Es fragt sich aber, ob unter seinen drei Spitzenreiten auch der Blick vom Mělníkerer Schlossberg ist. Für mich ist das hier und heute Abend der allerschönste Blick der Welt.
Bevor ich mich zu meiner Herberge auf den Weg mache, will ich am Schloss nochmals den Blick ins Tal und in die Nacht genießen. Dabei lasse ich meine Reise etwas Revue passieren. Die Goldene Stadt Prag durfte ich von ihren goldigsten Seiten erleben, einmal abends und einmal morgens, aber Mělník ist mir das i-Tüpfelchen, die Perle Böhmens. Und falls es einen allgemeinen Charakterzug, eine nationale Mentalität Tschechiens geben sollte, dann war ich heute vielleicht nahe dran - nahe an der Seele, nahe am Mythos der Tschechen. Hier erlebte ich einen Hauch von Bohéme und hier wird meine Reise also eine böhmische Rhapsodie, ohne Pauken und Trompeten, aber immerhin mit Gitarre...
Mit dem Fernglas ist die Beleuchtung an der Schleuse des Kanals gut erkennbar, der zwischen Vraňany und Mělník parallel zur Moldau verläuft. Aus der Ferne blinzeln die Lichter vieler kleiner Ortschaften, durch die ich noch vor einigen Stunden geradelt bin. Hier und jetzt bin ich nicht der einzige, der die nächtliche Landschaft bestaunt - und fotografiert. In mein Foto schreitet von links ein Geist mit Sonnenbrille - nichts entgeht dem scharfen Auge meiner Kamera. Irgendwie kommt mir die transparente Gestalt bekannt vor...
Meine heutige Herberge* scheint am Wochenende abends ein beliebter Treffpunkt zu sein, so für die – sagen wir mal: 40+Jugend. Aber trotz der Geräuschkulisse aus lebhaftem Geschwätz und Musikkonserven der 1970er (u.a. Led Zeppelin), nehme ich in meinem kleinen Zimmer, das nur eine Treppe höher und nur um einen Ecke herum liegt, kaum etwas davon wahr - vielleicht auch deshalb, weil ich nach meinem eigenen "Kneipenbummel", nach dem Abend mit einigen wissbegierigen jungen Leuten ziemlich müde und schwer bin...
Samstag, 23. Mai.
Frühstück um sieben? No problem! Obgleich der Wirt am Abend der letzte in der Kneipe gewesen sein dürfte, ist er heute so zeitig auf den Beinen. Wahrscheinlich auch weil Markttag ist. Auf dem am gestrigen Abend so ruhigen Marktplatz regt sich schon halb acht sehr geschäftiges Treiben. Bretterbuden werden errichtet, Marktstände mit Waren bestückt. Eine Händlerin, die ein buntes Tuch eng um den Kopf geschlungen trägt, hat ihr Textilienangebot auf mehreren Decken auf der Straße ausgebreitet. Alles sieht danach aus, als ob ein orientalisches Markttreiben unmittelbar bevorsteht.
Doch so lange will ich nicht warten, denn nach der kurzen Etappe von gestern steht mir heute die längste Strecke bevor. Ich will es in einem Rutsch bis nachhause schaffen. Das sind schätzungsweise 140 Kilometer auf mehr oder minder ebener Strecke an der Elbe entlang, dennoch ziemlich viel für einen Tag. Aber mit der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass mir zuhause niemand mein Bett streitig machen wird, kann ich es wagen.
Bei der steilen Abfahrt am Weinberg genieße ich nochmals die schöne Aussicht. Auf der Landzunge zwischen der Moldaumündung und dem Vraňany-Kanal sind schon wieder ein Dutzend Angler versammelt, wahrscheinlich die selben, die schon am Abend dort hockten. Mit dem Fernglas ist zu erkennen, dass es ausschließlich ältere Männer sind. Haben sie die letzte Nacht gleich dort geschlafen, um morgens als erste den besten Platz zu haben? Oder ist die Angel nur ein Vorwand, sich vor der Arbeit zuhause zu drücken? Von hier oben sieht es erstmal nicht danach aus, als hätte da unten schon jemand das Mittagessen für seine Familie gefangen.
Moldau oder Elbe ist hier die Frage. Der kleinere und auch deutlich kürzere Fluss mündet in den größeren, so ist das doch sonst überall und immer schon gewesen, oder? Für mich persönlich beschließe ich hiermit, die hiesige Labe weiterhin als Vltava anzuerkennen, die Elbe weiterhin Moldau zu nennen. Der schöne Zwielaut im Wort Moldau assoziiert natürlich auch die Donau, von der ich im vorigem Sommer die ersten tausend Kilometer kennenlernte durfte. Und von daher wage ich behaupten zu können, dass viele Landschaften der Moldau denen der jungen Donau ebenbürtig sind. Die vom tiefsten Waldesgrün gesäumten Flussauen, alte Steinbrücken, vom großen Ansturm des motorisierten Verkehrs noch verschonte Städtchen, über hohen Felsen triumphierende Burgen und Schlösser, da kann Frau Moldau mithalten.
Nach der Mělníker Elb-, pardon, nach der „Moldau“-Brücke, da findet sich ein Radwegweiser nach Usti nad labem, 69 Kilometer gibt er als Distanz an. Ich denke, das ist etwa der halbe Weg, meine geschätzte Gesamtstrecke könnte einigermaßen hinkommen. Nun aber auf und los, sonst komme ich erst spät nachts an. Doch eine Tschechin hält mich auf. Erstmals fragt mich auf meiner Fahrt auch einmal jemand nach dem Weg. Weil ich gerade den Wegweiser gelesen habe, kann ich ihr sogar Auskunft geben – stellvertretend für ihren 11-jährigen Sohn, der zur Oma nach Roudnice nad Labem radeln will. Da hätten wir ein Stück gemeinsame Strecke gehabt. Doch kaum zeige ich die Richtung an, ist der kleine Mann mit seinem Mountainbike schon auf und davon. Und genau das wollte er sicher auch: einmal ohne Aufpasser den Fluss entlang radeln. Das gefällt mir. Und wenn er dann von Oma zuhause anruft, wird auch die sorgsame Muttii ganz stolz auf ihren Sohnemann sein.
Ich bin noch keine halbe Stunde im Sattel, schon lässt mich links am Weg eine imposante Säule mit historischen Hochwasserständen innehalten. Die Marke vom August 2002 fehlt. Sie müsste sehr weit oben sein. Dann traue ich meinen Augen kaum! Bei genauerem Blick entdecke ich unterm Schatten der Dachpyramide eine Marke, es ist Rekordmarke des Jahres 2002. Da dürfte das kleine Schlösschen, das links am Hang liegt, reichlich umspült gewesen sein. Kaum vorstellbar, wenn ich rechts vom Weg auf die jetzt so harmlos dahinfließende „Moldau“ blicke.
Das "Cyklo Kemp" bei Roudnice hat vermutlich schon bessere Tage gesehen... Die Hinweise auf Übernachtungsmöglichkeiten sind aber entlang des gesamtes Moldau-Radweges mit Skepsis zu betrachten. Erfolgversprechend ist die Quartiersuche eigentlich nur in Städten, Unterkünfte auf dem Lande sind Glückssache. Die marktwirtschaftliche Aufbruchstimmung der Kleinunternehmer ist dem real existierenden Kapitalismus gewichen - und wie so manches andere vom Winde verweht...
In Roudnice unterquere ich die „Moldau“-Brücke, biege links in die Stadt hinauf, wo mich die samstagmorgendliche Geschäftigkeit, der ich sofort wieder entfliehen möchte, gleich scharf nach links auf die Brücke einschwenken lässt. Am anderen Ufer schaue ich den Kanuten zu. Für deren Slalomstrecke wurde vom träge fließenden Strom ein Kanal abgezweigt, dessen Gefälle verschafft den Sportlern Wildwasserbedingungen. Erinnerungen an meine Kindheit, als ich selbst eine Weile in einem Kanuverein paddelte, werden wach.
Im Dorfladen von Černěves kaufe ich etwas Brot und Wasser. Unter dem Vordach des Lädchens ist ein azurblauer Münzfernsprecher an der Wand befestigt. Zur Erläuterung für jüngere Leser: Ein Münzfernsprecher, das ist so was wie ein iPhone, aber ohne Foto- und Videokamera, ohne mp3-Player, ohne Spiele und so Zeug. Man kann damit telefonieren, falls man das nötige Kleingeld oder eine Telefonkarte parat hat. Allerdings muss man während des Gespräches am Standort dieses Gerätes verweilen. Das an der Außenwand verlegte Kabel ist, falls es mal reißt, leicht zu flicken... Fals das Gerät von jemand anderem benutzt wird, muss man warten, bis derjenige fertig ist und den Hörer (das schwarze Teil links der Tastatur) auflegt.
In der Flussbiegung bei Křešice, wo ein Schotterweg ganz dicht am Fluss entlangführt, wird am anderen Ufer, hinter Bäumen versteckt, eine kleine Kirche sichtbar. Die Kegelberge des nordböhmischen Mittelgebirges sind die Kulisse für dieses malerische Flecken Erde. Wegen einer Staustufe bei Třeboutice geht die „Moldau“ hier beachtlich in die Breite. Ein Imbissstand, von dem der Blick über den himmelblau schimmernden Strom schweifen kann, lädt zur Mittagspause ein. Wie ich auf einem bequemen Lehnstuhl meine Beine in die Sonne strecke, kommt aus der Gegenrichtung ein Radler aus der Kurve, dessen Statur ich schon aus der Ferne einem Bekannten aus Laubegast zuzuordnen wage.
Obgleich er mit seiner dunklen Sonnenbrille im Gesicht selbst aus der Nähe noch nicht ganz sicher identifizierbar ist, scheint sich meine Zuordnung zu bewahrheiten. Er erkennt mich seinerseits ebenso bereits aus der Distanz - und staunt nicht schlecht, mir so fern der Heimat zu begegnen. Für ihn und seinen beiden Radlerfreunde ist Mělník das heutige Ziel. So können wir uns zunächst über die Beschaffenheit der vor uns liegenden Streckenabschnitte austauschen. Ich schwärme von meinem gestrigen Aufenthalt in Mělník, sie schwärmen vom nahen Leitmeritz, von wo sie heute aufgebrochen sind.
Der Empfehlung folgend, nehme ich den steilen Anstieg über eine gepflasterte Gasse in Kauf und sehe bestätigt, dass Litoměřice eine Besichtigung wert ist. Malerisch sind die Gässchen am Hang, der Blick zum Fluss überwältigend. Mit akribischer Liebe fürs Detail sind die Fassaden und Giebel im Zentrum der Altstadt restauriert.
Die Vielfalt der Baustile sucht ihresgleichen. Wäre der Marktplatz heute kein Parkplatz für Autos könnte man sich nach Venedig versetzt fühlen. Bei der Schlossburg findet sich ein Denkmal zu Ehren von Karel Hynek Mácha,* einem Dichter der tschechischen Romantik, der hier im legendentauglichen Jugenalter von nicht ganz 26 Jahren starb.
Im Dörfchen Velké Žernoseky vernehme ich den Klang von Geigen, Bass und Zymbal – das klingt wie eine ungarische Zigeunerkapelle. Diese Musik zieht mich seit meiner Kindheit an, seit den Sommern in Ungarn. Sie kann so fröhlich sein und das Tanzbein antreiben - und sie kann wie alle traditionelle Musik ebenso in Melancholie schwelgen, die „weinenden Geigen“ sind eine Garantie dafür. Schon am ersten Abend in Prag fiel mir auf, dass es zwischen ungarischer und tschechischer Folklore, in der Musik wie bei den Trachten, einige Gemeinsamkeiten gibt.
Die Band soll hier jedoch weder zum Tanzen noch zu Rührseligkeiten bewegen, sondern vor allem zu einer Weinverkostung, die im Saal eines Weinguts stattfindet. Der Saal ist quasi zur Messehalle umfunktioniert - einige Hundert Menschen tummeln sich darin. Ich koste auch, aber wohl gerade an einer Sorte, die nach einem mittelmäßigen Versuch schmeckt. Schnell bin ich wieder draußen bei der Kapelle, vier junge Männer in weißen Hemden, teils zierlich bestickt. Alle vier tragen Brillen, wohl keine Lesebrillen: Notenblätter sind keine zu sehen. So wunderbar ist diese Musik, doch außer mir und den Musikern selbst schenkt ihr niemand Aufmerksamkeit.
Usti nad labem naht. Schon aus der Ferne ist der 100 Meter hohe Monolith zu sehen, auf dessen Gipfel sich der nordböhmische Adel eine weitere Burg errichten ließ: Střekov. Die Maler der Romantik waren fasziniert von dieser einsam in der Landschaft stehenden Felsenburg. Doch da, wo Ludwig Richters Gemälde „Überfahrt am Schreckenstein“ um 1837 ein voll beladenes Boot den Fluss queren lässt (samt Liebespaar und Harfenspieler, was sicher schon damals nostalgischen Wunschträumen entsprach), verunstalten ein Jahrhundert später eine Staustufe und die dazugehörige Schiffsschleuse die romantische Kulisse – der brutale Funktionalismus der 1930er nahm keine Rücksicht auf romantische Malerseelen.
Unterhalb der Felsenburg findet sich ein kleines Gartenlokal – besser gesagt: das Provisorium eines Gartenlokals. Hier lässt sich die Nachmittagsonne genießen - und ein erfrischendes Hopfengetränk. Doch lange darf ich mich nicht aufhalten, bis nachhause liegen schiätzungsweise noch 70 Kilometer vor mir, immerhin noch die Hälfte meiner heutigen Etappe.
Auch jenseits der großen Berge, in den weiten Ebenen Nordböhmens, führt der Radweg nicht immer am Ufer entlang. Manchmal fehlen Wegweiser. Manchmal ist die Beschilderung nicht eindeutig. Manchmal sind die Schilder versteckt angebracht - oder auch mal so "geschickt" von ordinärer Reklame überklebt, dass man den Pfeil nach links erst beim zweiten oder dritten Blick erkennt.
Gegen 19 Uhr erreiche Děčín. In der Abendstimmung erlebe ich die Stadt, in der ich früher höchstens mal kurz auf einem Parkplatz anhielt, und ihre Bewohner erstmals so nahe. Essen und Trinken, so ausreichend vorhanden, ist offensichtlich auch in Tschechien die vorherrschende Lieblingsbeschäftigung. Der Siegeszug von Plastikbecher und -besteck ist auch hier unaufhaltsam. Künstliche Beschallung beim kleinen Stadtfest, wo man ohne Lautsprecher genauso gut auskäme, gehört auch hier zum Standard der Moderne. Ansonsten geht es jedoch vergleichsweise beschaulich zu. Das genieße ich ein Weilchen - als letzte Pause vor dem Endspurt.
Ab Dolní Žleb, kurz vor der deutschen Grenze, bin ich wieder auf vertrauter Strecke – und die zieht sich, denn sie hat mir wenig Neues zu bieten - so oft bin ich in den letzten Jahren hier entlang geradelt. Die Sonne steht tief, nur in manchem Winkel lugt sie nochmals zwischen den Felsen hervor und blendet mich mit aller Macht. Dann färbt sich der Horizont gelb, orange. Mein Zuhause erreiche ich im letzten Dämmerlicht. Vielleicht sollte ich den Fluss vor meinem Fenster nun auch wieder Elbe nennen...
Am Anfang hatte ich meine Zweifel, ob ich für die hohen Berge des Böhmerwaldes überhaupt genug gerüstet bin, einerseits konditionsmäßig, andererseits ob es mit meinem großen, schweren Rad überhaupt zu schaffen ist. Ich habe es geschafft, aber ich begann schnell zu verstehen, wofür es Mountainbikes gibt! Und ich weiß hinterher auch, dass es andere, geeignete Räder für solche Bergtouren gibt. Bei der nächsten Bergtour sollte es eines sein, mit dem ich auch dann auf Augenhöhe bleibe, wenn die Berge ringsum überwältigend sind.
Manchmal muss man erst durch die halbe Welt gereist sein, um gleich im Nachbarland so viel Sehenswertes entdecken zu können. An vielen Orten war es still genug, um die kleinen, die leisen, die unauffäligen Dinge bemerken und schätzen zu dürfen. Eine großartige Fahrt liegt hinter mir. Ich werde mich etwas ausruhen, bevor es auf die nächste Tour geht. Aber nicht lange...