Alles lässt sich beeinflussen: Kleidung, Bereifung, Gepäck, Schlafsack, Zelt und Co. Nur beim Wetter ist man irgendwie aufs Klima angewiesen... Auf meiner Runde durch Island traf ich täglich und auch bei grässlichem Wetter vollbepackte Zweiräder: Belgier und Franzosen, Italiener, Spanier, Schweizer, Deutsche, sogar Australier und Kanadier - letztere haben es bis hierher näher als jeder Mitteleuropäer.
Am 18. Juni, als ich im Norden Dänemarks an Bord der unter färöischer Flagge fahrenden Norröna gehe, ist der Himmel voller grauer Wolken und die Nacht auf dem Nordatlantik ist für eine Landratte wie mich durchaus als stürmisch zu bezeichnen. Beim dreitägigen Zwischenstop auf den Färöern ist das Wetter ebenso launig - dickem Morgennebel folgt mittags Nieseln und nachmittags Regen. Erst einige Stunden vor der Weiterfahrt am 21. Juni lässt die Sonne sich sehen. Eine mitternächtliche Musikersession auf dem Außendeck verkürzt die Nacht. Die folgenden herrlich sonnigen Tage in der bergigen Landschaft Ost-Islands erfreuen auch die Waden der drei anderen Radreisenden, die im Hafen von Seydisfjördur von Bord radelten. Doch nach vier sorglosen Tagen in kurzen Hosen, deutet sich der Wetterumschwung an.
Beim Schieben eines schwer bepackten Reiserades an kilometerlangen Anstiegen zehrt das Verscheuchen lästiger Fliegenschwärme an Kräften und Nerven. Der Himmel entlädt sich schließlich zu einem kalten Regenguss, dem folgt - nach kurzem Sonnenschein um Mitternacht eine Woche Dauerregen mit Lüften unter 10 Grad. Nasse Klamotten im nassen Zelt, schäbige Unterkunft im Schlafsaal, so hatte ich mir die Reise eigentlich nicht vorgestellt.
Mit dem nordatlantischen Tief kam die Kälte des Nordens, mit der Nässe der Nebel. Anfangs hilft noch Fisherman’s Friend aus meiner Reiseapotheke, ein ganzes Päckchen lutsche ich in wenigen Tagen weg. Ich quere zwar das westliche Hochland wie geplant auf der Kjölur-Route, doch nicht mit dem eigenen Zweibeinmotor, sondern mit dem Allrad-Antrieb des einmal täglich fahrenden Linienbusses zwischen Akureyri und Reykjavík. Zunächst löse ich das Ticket nur bis in die Mitte der von Gletschern gekühlten Steinwüste - die Hoffnung auf besseres Wetter und Abklingen der Erkältungssymptome stirbt erst nach einer nahezu schlaflosen Nacht in der mehr als gut belegten Hütte von Hveravellir. Unter den Quartiergästen ein nerviger deutscher Motorradfahrer, der jedem Ankömmling mit seinen "Off-Road"-Fahrkünsten zutextet und nachts wie eine Kompanie Reservisten schnarcht... Am Morgen regnet es weiter, ich habe keine andere Wahl, als bis zum nächsten Bus am Mittag zu warten. Der bringt mich endlich zurück in die Zivilisation - nach Reykjavík.
Für die Hauptstadt Islands habe ich ein Zimmer im Hostel der Heilsarmee gebucht. Ich komme mitten im isländischen EM-Fußballfieber an - keine hundert Meter vor meinem Quartier, in der beschaulichen Altstadt, ist die Public Viewing-Leinwand aufgestellt. Bei meiner Ankunft kämpft die Mannschaft von Þýskaland (Deutschland) in der halbstündigen Spielverlängerung um ein Weiterkommen ins Viertelfinale - und schaffte es nach großem Bangen im Elfmeterschießen.
Am nächsten Abend ist es wärmer und auf dem Public Viewing-Hügel scheint die Sonne noch bis in die Nacht hinein. Doch die Hoffnung auf höhere Weihen der neuen Fußballnation Island ist spätestens zur Halbzeit erloschen, Frakkland (Frankreich) hat bereits 4 Tore, Island noch keins. Meine Erkältung lässt keine Weiterreise per Rad zu - am nächsten Morgen fällt die Entscheidung: Lässt sich mein Fährticket umbuchen, verkürze ich meine Inselrundfahrt zugunsten eines inzwischen heranreifenden B-Planes.
Die Umbuchung klappt, aber leider ohne eine Kabine, die meinem schwächelnden Zustand angemessen wäre - umgerechnet 350 Euro für zwei Nächte zu zahlen, um dem „Couchette“-Loch im tiefsten Deck der Fähre zu entkommen, ist mir einfach zu happig. Nach zwei Bus-Etappen an der Südküste Islands erreiche ich die Hafenstadt Seydisfjördur, wo ich mich in einem wiederum vorausgebuchten B&B erholen kann. Dort gibt es ein warmes Bad und die freundliche Wirtin spendiert mir Medizin und selbstgebackene Plätzchen.
Auf dem Schiff treffe ich einige Reisende wieder: die zwei radelnden Holländer, die einen Freund mit Wohnmobil im Tross hatten; die netten Bremer Wohnmobilisten, die ich im warmen Pool von Heiðarbær kennenlernte; den tramper-freundlichen Arzt mit seinem VW T3, in dem ich kurz vor den Serpentinen der Fjarðarheiði-Hochebene Platz fand. Weitere Passagiere erkennen in mir den mit der Ukulele wieder, der bei der Hinfahrt ein paar Shanties mitsang.
Am Abend der Seereise verlässt die „Schweinsteiger-Mannschaft"das Fußballerglück im Spiel gegen Frakkland. Alle starren auf den Bildschirm, während ich draußen in den Wellen für einen „Augnablik“ - ein Wal springen sehe. Gegen zwei in der Nacht scheucht das Personal die Schlaflosen auf, um die Räume zu reinigen, anschließend bleiben die Bereiche verschlossen. Wie war die Nacht? fragen mich die Bremer beim Frühstück. Schrecklich, antworte ich. Sie geben mir ihren Kabinenschlüssel. Ich kann duschen und ein paar Stunden schlafen.
Am Mittag des 9. Juli betrete ich im dänischen Hirtshals wieder europäisches Festland. Ich bin halbwegs auskuriert, einigermaßen erholt, mache mich an der Westküste auf den Europa-Radweg 12, der mich meinem Plan B zufolge südwärts ins heimatliche Þýskaland bringen soll. Doch erneut spielt das Wetter nicht mit. Erst Plan C - einmal an die ostfriesischen Waterkant und zurück zur Elbe, die mich endlich heimführt - kann ich vollenden. Das ist aber eine Geschichte für sich ...
Tipps für wagemutige Pedalritter
Wer sich trotz oder gerade wegen meiner Schilderungen mit dem Rad nach Island aufmachen will, sollte folgende Hinweise nicht nur überfliegen...
Anreise
Die Schiffspassage ist die einzige Alternative zum Flug. Die etwa 50-stündige Seefahrt findet nur einmal wöchentlich (samstags ab Hirtshals in Dänemark) statt - und sie ist deutlich teurer als Fliegen. Gemächlich an den Küsten Norwegens, der Shettland-Inseln und mitten durch die Färöer zu schippern, hat durchaus seine Reize. Ein weiterer Vorteil der Christlichen Seefahrt: Wenn der Eyjafjallajökull - wie zuletzt im Sommer 2010 - mal wieder riesige Aschewolken in den Himmel schleudert, so dass wegen des Feinstaubs der gesamte Flugverkehr Europas tagelang lahmgelegt ist, kommen Schiffsreisende dennoch heimwärts...
Die als "Couchette" bezeichneten Kabinen der Norröna, die sich zwei Decks unter dem Auto-Deck befinden und in die man den eigenen Schlafsack mitzubringen hat, sind jedoch alles andere als "couchelig". Neun Erwachsene, je drei übereinander, auf zwei mal zwei Metern Grundriss.
Geld
Beim Bezahlen wird man das meiste Geld los... In Island ist fast alles so viel teurer, dass selbst Reisende aus der Schweiz ins Stöhnen kommen. Bei der Reise durch euro-freie Länder und sehr unterschiedliche Wechselkurse (1 Euro = 1350 Isländische Kronen = 700 Färöische/Dänische Kronen) den finanziellen Überblick über sein Budget zu behalten, ist ohnehin nicht ganz einfach. Da die skandinavischen Länder bei der Abschaffung des Bargeldes bereits weit fortgeschritten sind, wird überwiegend mit Karte gezahlt, aber das macht die Kontrolle übers eigene Guthaben nicht leichter.. De facto ist das bargeldlose Bezahlen selbst bei Kleinstbeträgen die Norm, der Zeltplatzwart kommt mit dem Kartenlesegerät zum Zelt. Dennoch braucht es manchmal Bares, denn es kommt auch mal vor, dass die Internet-Verbindung zur Bank gestört ist.
Radwege, Straßenkarten und Streckenprofile
Radwege gibt es keine. Das geringe Verkehrsaufkommen in den östlichen Landesteilen erfordert auch keine separaten Wege. Anders sieht das im sogenannten Goldenen Ring aus, der von unzähligen Reisebussen und Kolonnen von Mietwagentouristen befahren wird. Dort wären getrennte Radwege sinnvoll, denn viele Wohnwagen- und PKW-Reisende haben ihre Augen irgendwo in der Landschaft statt auf der Straße.
Deutschsprachige Radlerliteratur über Island war anno 2016 nicht erhältlich. Der 2001 veröffentlichte Island-Radführer von Ulf Hoffmann ist längst vergriffen, eine Neuauflage vorläufig nicht vorgesehen - nach Auskunft des Verlages wegen Diskrepanzen zwischen Autor und Verleger. Mit der jährlich aktualisierten Cycling Map, die in den Agenturen der isländischen Tourist Information kostenfrei erhältlich ist, kommt man gut um die Insel. Campingplätze, Hostels, B&B
Die Preise der Campingplätze liegen entgegen allen sonstigen Preisen nicht über denen, die man aus Mitteleuropa kennt. Allerdings ist es ungerecht, dass ein Radler mit seinem kleinen Zelt die gleiche Summe zahlt wie der Fahrer eines Wohnmobils! Die in Reiseführern angepriesenen Schlafsack-Hostels sind schäbig und vergleichsweise teuer. Statt Bettwäsche nutzt man seinen eigenen Schlafsack. Und in einem Gemeinschaftsraum im Hostel von Reykjahild breitete sich eine Busladung Chinesen aus, die ihre Tischmanieren noch bei Mao Tsetung persönlich gelernt haben. Am Morgen gibt es in der Küche keinen Strom, kein Toaster lässt ich einschalten, noch nicht einmal ein Käffchen kochen. Nur die Alarmanlage tutet unaufhörlich. Bed & Breakfast ist zwar noch erschwinglich, aber die sind rar und das namenstiftende Breakfast ist meistens gar nicht dabei.
Ernährung
Nicht nur die Quartierpreise sind überzogen. Fast Food hat daher Konjunktur. Wie kann ein Land mit gerade mal etwas über 300.000 Einwohnern so großartige Fußballer hervorbringen, dass es für einen Sieg gegen England reicht? Ganz einfach, witzeln die Isländer: Ziehe von der isländischen Gesamtbevölkerung alle Frauen und alle Übergewichtigen ab - und schon kommt man auf die 23 Mann, die eine Fußballmannschaft braucht... Die McDonaldisierung Islands hat tatsächlich schwergewichtige Folgen, besonders unter jüngeren Menschen.
Sprache und Demografie
Die Bevölkerung Islands geht auf die Nachfahren norwegischer Wikinger zurück. Die moderate Zuwanderung wird derzeitig von Migranten beherrscht, die das kühle Klima bereits kennen: überwiegend Skandinavier oder Heimkehrer, die ihr Arbeits- oder Liebesglück mal in Norgur, Danmörk oder Þýskaland versuchten. Der geografischen Abgeschiedenheit Islands verdankt sich, dass die isländische Sprache im Kern ein Überbleibsel des Alt-Norwegischen ist. Historisch bedingt gibt es Lehnwörter aus dem Dänischen und anderen germanischen Idiomen. Mein isländisches Lieblingswort lernte ich beim häufigen Zahlen mit der Vias-Card: "Augnablik" - das bedeutet so viel wie: Warte mal, es geht bestimmt gleich weiter... Wein (teuer) kann man nur in der "Vinbude" einkaufen - und die gibt es nur in Städten.
Baden
Auch wenn Island noch lankge kein Mallorca des Nordens genannt sein kann, sollte man Bikini und Badehose mitnehmen.
Dank der geothermischen Aktivität, die unter Islands Erde brodelt, gibt es viele Bademöglichkeiten. An den Geruch schwefliger Dämpfe, der auch aus dem Brausekopf einer Hoteldusche entweichen kann, gewöhnt man sich.
Das Hochland
Mit dem Rad durch die Steinwüste der Kjölur-Route ist möglich, aber sinnlos... Ein Gemisch aus steinigem Geröll, festgefahrenem Schotter und losem Sand macht auf der etwa 180 Kilometer langen Strecke sogar das Schieben zu einer kräftezehrenden Herausforderung. In der Hochland-Oase Hveravellir auf halber Strecke gibt es zwar ein Fastfood-Restaurant und Wasser, aber das war’s dann auch, was die Ernährung betrifft. Die Ringstraße
Der den größten Teil Islands umfassende Hringvegur ist mit der Nummer 1 beschildert - in der Nähe von Reykjavík wird die Straße teils vierspurig und ist sehr stark befahren, ansonsten gleicht sie einer Landstraße. Für eine Runde auf der ingesamt 1400 Kilometer langen Ringstraße reichen bei Tagesetappen von durchschnittlich 60 bis 70 Kilometern drei Wochen. Mit einer Hochland-Passage über die Kjölur-Route oder sonstigen Abstechern, etwa zur Halbinsel Vestfirdir im Nordwesten, wie ich es vorgesehen hatte, waren die von mir kalkulierten fünf Wochen wahrscheinlich realistisch geplant.
Der Goldene Ring Gullni hringurinn heißt die Schnellabfertigung nach dem Motto "Island an einem Tag" - mit Bus oder Auto lassen sich per Tagestour von Reykjavík aus zwei der berühmtesten Naturspektakel Islands, die 70 Meter hohe Kaskade des Gullfoss und die kochend heißen Fontänen von Geysir abhaken, der Nationalpark Þingvellir ist aber auch für die Historie Islands von Bedeutung. In englischen Reiseführern findet sich neben "Golden Circle" die vielleicht trefferndere Bezeichnung "Golden Triangle". Auch der tägliche Linienbus der Kjölur-Hochlandroute, auf den ich infolge meiner Erkältung angewiesen war, macht hier ausreichend lange Foto-Stopps.
Beleuchtung
In den Wochen um die Sommersonnenwende kommt man in Island ohne Taschenlampe aus, selbst im Zelt konnte ich noch nachts gut lesen. Besonders im Norden der Insel, wo kein Berg die Mitternachtssonne verdeckt, ist es immer hell oder nur leicht schummrig. Wer nur im Finstern schlafen kann, sollte eine Augenbinde mitnehmen. Wer Fotos mit intensiven Farben machen will, muss die Nacht zum Tag machen.
Resümee
Die geologischen Extravaganzen Islands sind für Reiselustige aus aller Welt immer attraktiver geworden. Die Infrastruktur ist auf der Höhe der Zeit, die berühmtesten Naturschauspiele sind über asphaltierte Straßen erreichbar - und nirgends wird fürs Bestaunen von Geysiren und Wasserfällen Eintritt verlangt - vielleicht noch nicht. Das Land war (Stand 2016) schlecht auf den Ansturm des zunehmenden Tourismus vorbereitet. Für mich war mein Island-Besuch trotz nachteiliger Umstände ein besonderes Erlebnis - die großartigen Kulissen und Schauspiele der Natur flößem jedem Betrachter Respekt ein. Dennoch war diese Reise wahrscheinlich mein einziger Island-Besuch. Warum? Zu kalt, zu nass, zu teuer...