Denke ich an den Rhein, habe ich zuerst eine Melodie im Kopf - die wundersame gewaltige Melodei der Loreley. Sie geht mir nicht aus dem Sinn - wie ein Märchen aus alten Zeiten ist der Name Loreley mit dem Rhein verbunden. Doch so alt, wie es der Dichter glauben machen will, ist das Märchen gar nicht. Ist es überhaupt ein Märchen? Wenn ja, wer hat es ersonnen? Waren's etwa die Brüder Grimm?
Zu Bacharach am Rheine
Immer sind die Weiber schuld, ganz besonders die schönen und feinen, die ihr güldenes Haar von felsigen Höhen in tiefe Schluchten wallen lassen. Die Lore Lay ist der Dichtung nach eine Zauberin, ein schönes Biest, sie riss viel Herzen hin... Und machte zuschanden die Männer ringsumher, dichtete Clemens Brentano: Aus ihren Liebesbanden war keine Rettung mehr.
Brentanos romantische Männerphantasie war kaum zu Papier gebracht, da griffen weitere Autoren zu der Geschichte, in der einige Ritter auf der Strecke bleiben - selbst der Bischoff von Köln, der das verführerische Weib zur Räson bringen sollte, konnte ihr kaum widerstehen. Mit Brentanos Geschichte war der Geist aus der Flasche, Heine vollendete die Legende.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
Bruchstückhaft fallen mir die Verse des Heine-Gedichtes ein. Generationen von Deutschlehrern haben sich als Dichterversteher bemüht - und mir doch nicht erklären können, warum ein Dichter vorgibt, traurig zu sein, nur weil er sich an ein altes Märchen erinnert. Egal, man weiß eben einfach nie so ganz, was das alles bedeuten soll. Am ersten Tag meiner Herbstradelei, als ich die Berge und Burgen zwischen Bingen und Koblenz passiere, stehe ich plötzlich vor dem unscheinbaren Felsen, der nunmehr Tag für Tag Hunderte oder Tausende Male fotografiert wird - vom Bord der Ausflugsschiffe, von den Fenstern der Züge und Autos, vom Sattel eines Fahrrads.
Der Dauerlärm des Verkehrs lässt das Echo des Berges in einem einzigen großen, rauschendem Jammern untergehen. Nicht ein Fünkchen Mystik ist erhalten - keine Spur von Romantik. Hunderte Wohnmobilen verschandeln die grünen Wiesen am Ufer des Rheins, der Weltkulturerbe-Status der Unesco zwischen Bingen und Koblenz mag Schlimmeres - etwa die Errichtung moderner Brücken oder die Ansiedlung großer Industriebetriebe - verhindern.
Ja, die herbstliche Luft ist kühl und es dunkelt schon zeitig, der Gipfel des Berges funkelt nicht mehr. Der wolkenverhangene Himmel wirft ein diffuses, schattenarmes Grau über den Loreley-Felsen, auf seinem Gipfel steht ein Kran und die Flagge weht statt des güldenen Haares. Es lohnt nicht ein Foto zu machen, ich mach trotzdem zwei.
Für die Schifffahrt waren an dieser Rechtsbiegung besonders die unter Wasser lauernden Felsen gefährlich - sie sind längst gesprengt und aus dem Wege geräumt. Dennoch kommt es immer wieder mal vor, dass eines der vielen Fracht- und Ausflugsschiffe strandet. Früher soll vor der gefährlichen Passage ein Priester an Bord gekommen sein, um mit der Mannschaft auf gutes Durchkommen zu beten. Darauf verlässt sich heute kein Schiffer mehr. Bei heutigen Unfällen kommen die Gefahren weder von den Untiefen des Flusses noch von verführerischen Blondinen. Radar sorgt für bestmögliche Navigation - und statt auf dem Felsen zu hocken und güldene Haare zu kämmen, steht die Blonde von heute selbst am Steuer des langen Schiffes. Mannigfaltige Ablenkungen gibt es indessen auch heute, nur sie kommen aus den Untiefen des Internets, permanent zwinkert dich was an, zwitschert eine Kurznachricht herein, vibriert das Handy.
Kurz vor Sonnenuntergang klart der Himmel im Westen auf. Vom rechtsrheinischen Ufer werfe ich einen Blick auf das Deutsche Eck, wo die Mosel in den Rhein mündet. Das monumentale Reiterstandbild Kaiser Wilhelms beeindruckt mich, im Gegenlicht der untergehenden Sonne ragt es als schwarzer Umriss in den orange glühenden Himmel. Am nordöstlichen Rande von Koblenz besuche ich einen alten Freund, wir kennen uns seit über 30 Jahren - und darauf ziehen wir uns eine Flasche Rheinwein rein.
Elektrischer Wind
Am heutigen Tag der Einheit soll es auf einen Abstecher an die Mosel gehen. Kaum sind wir einen Kilometer auf der Straße, beginnt es zu regnen, und der Himmel sieht nicht danach aus, als ob es bald wieder aufhören würde. Deshalb flüchten wir unter das Dach eines Supermarktes, wo wir uns die Regenkleidung überstreifen - erstmals seit meiner regenreichen Irland-Reise
vor zwei Jahren ziehe ich auch die Regenschuhe über. |
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Da ich das Pedelec der Frau meines Freundes nutzen kann, habe ich Gelegenheit die Vorzüge des elektrischen Rückenwindes kennenzulernen. Auf ebener Strecke an den Flussufern kommt man natürlich schneller voran, so man will... Einen erste Möglichkeit, den Elektromotor an einer Steigung zu testen, bietet die Bahnbrücke, die ans linksrheinische Ufer führt. Ja, an der steilen Auffahrt, hätte ich mit der 7-Gang-Nabe meines Faltrades bereits schieben müssen. Doch das erstmalige Anfahren an der Steigung hat auch seine Tücken. Man muss erstmal in die Pedale treten, damit der Hilfsmotor überhaupt einen Impuls bekommt. Dann geht es im Turbo-Modus ruckartig vorwärts - um auch die herkömmlichen Kettenschaltung noch nutzen zu können fehlt mir die Erfahrung. Die Brückenauffahrt ist eng und hat eine Kehre. Auf alles zugleich zu achten kann beim ersten Mal nicht gelingen.
Am Deutschen Eck queren wir die Mosel, drehen eine Runde durch Koblenz und das
Gewühl am Kaiser-Monument. Die atemberaubende Seilbahn-Fahrt über den Rhein hinauf zur Festung Ehrenbreitstein sollte bei keinem Koblenz-Besuch fehlen, empfiehlt das Tourismus-Portal. In 100 Metern Höhe in einer Gondel hocken, die an einem Drahtseil hängt? Das erfordert sowohl Vertrauen in die Unfehlbarkeit des Bodenpersonals als auch eine ungebrochene Technikgläubigkeit - beides ist mir im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Doch mir ist ohnehin nicht nach "atemberaubend". Den Atem brauchen wir gleich an der nächsten Brücke. Weil die Auffahrt gesperrt ist, müssen wir die Treppe nehmen. Immerhin gibt es am Treppengeländer eine Schiene für Räder - und die ins Rad eingebaute elektrische Schiebehilfe. Daher ist das zusätzliche Gewicht von Motor und Akku kaum zu spüren.
Zwanzig Winzerinnen aus Winningen
Ziel unseres gemeinsamen Abstechers an die Mosel ist das Winzerdorf Winningen - da gibt es natürlich etliche Winzer und Winzerinnen, die sich als WinzerInnen zusammengenderisiert haben. Und was machen die WinzerInnen? Man kann sich's schon denken: Sie stellen ihre Weine vor. 20 sind es zwar nicht, aber immerhin ein Verkäufer bietet die edlen Tropfen von den Hängen der Mosel feil - und zwar in der Vinothek im Weinhof, gleich neben dem Weinhexbrunnen. Weinhexbrunnen? Der Brunnen erinnere an die Winninger Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert, so behaupten es jedenfalls die Broschüren der Tourismusbranche - auch ein Artikel der Wikipedia übernimmt das, ohne zu hinterfragen. |
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Aber was hat ein Denkmal, das angeblich zur Erinnerung an das Leid zu Tode gefolterter Frauen und Männer erinnern soll, eigentlich mit Wein zu tun, müsste man doch fragen. Hauptschauplatz des jährlichen, spätsommerlichen Moselfestes in Winningen, so finde ich endlich heraus, ist der Weinhof, in dessen Mittelpunkt der sogenannte Weinhexbrunnen steht. Auf ihm befindet sich eine Abbildung der Weinhex. Diese Winninger Gestalt geht zurück auf eine Frau namens Kathrin, die angeblich allzu gerne dem Rebensaft zugesprochen und daher von ihrem Ehemann die Bezeichnung Weinhex erhalten hat. Somit proklamiere Winningen nicht nur eine Weinkönigin, wie andere Winzerdörfer, sondern seit über 70 Jahren auch eine Weinhex.* Na bitte!
Der Weinhexbrunnen hat mit dem unrühmlichsten Kapitel der Winninger Dorfchronik nichts zu tun. Zu jener Zeit genügte der Neid eines Nachbarn, die Raffgier einiger Dorfbewohner, um unschuldige Menschen unter dem Vorwand der Hexerei vor Gericht zu bringen. Galt es, einen Mitbewerber um ein Stück Land aus dem Wege zu räumen, habe ich gelesen, war es ein Leichtes, den Konkurrenten oder seine Frau der Hexerei beschuldigen. Die Abergläubigkeit von damals ist die Leichtgläubigkeit von heute - am rücksichtslosen Egoismus hat sich bis heute nichts geändert, in den Köpfen viel zu vieler Zeitgenossen lebt die Lust an Brutalität weiter, glaube ich. Tausende Schaulustige ergötzen sich in jedem Frühling an den symbolischen Hexenverbrennungen der Walburgisnacht. Die Ordnungsämter genehmigen derartige "Volksfeste"...
Für den Weg zurück an den Rhein nehmen wir eine Abkürzung über die Berge am nördlichen Moselufer - und hier kann der Pedelecmotor endlich seine Kraft und der Akku seine Ausdauer unter Beweis stellen. Hier kann ich auch das Wechselspiel zwischen Gangschaltung und den vier Stufen des Hilfsmotors probieren. Fazit: Wir erklimmen den Gipfel in 20 Minuten - mit meinem Faltradel hätte ich gewiss eine Stunde gebraucht oder länger, den größten Teil hätte ich schieben müssen. Wenn man die Leistung des Akkus nicht im flachen Gelände verplempert und die Restanzeige gut im Auge behält, lässt sich so eine Tagestour bewältigen, ohne mit "leerem Tank" liegen zu bleiben. Man kommt so viel entspannter an...
Erstmal bauen
Bei der Abfahrt fällt der Blick auf den Kühlturm der "Anlage Mülheim-Kärlich" - hinter dem nichtssagenden Begriff Anlage verbirgt sich, man ahnt es schon, ein Kernkraftwerk. Nach 11 Jahren Bauzeit ging es für eineinhalb Jahre in den Probelauf. Nach exakt 100 Tagen im Regelbetrieb musste es 1988 wieder ausgeschaltet werden - aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichtes, in dem erkannt wurde, dass ein - wenn auch nur leicht - erdbebengefährdetes Gelände wie das Neuwieder Becken* kein günstiger Standort für ein Kernkraftwerk sei.* Ein AKW für 100 Tage? Na wenn sich das nicht gelohnt hat! Aber keine Sorge: Der ehemalige Betreiber RWE ist deshalb nicht pleite...
Natürlich konnten wir im Winzerdorf Winningen nicht einfach an der Vinothek vorbei. Wir hatten ja in den Gepäcktaschen reichlich Platz. Für einen abendlichen Schluck Moselwein, der im Glas ein Bouquet von leicht "radio" bis "aktiv" entfaltete, war somit gesorgt.
Kein Film im Apparat
An diesem Mittwochmorgen passiere ich nochmals das einstige AKW, sogar
aus nächster Nähe, denn die "Anlage" befindet sich direkt am Radweg, nur 100 Meter vom Rhein entfernt. Bereits vor 30 Jahren wurde die "Anlage" abgeschaltet - zwei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl. Dennoch habe ich im Schatten eines Kühlturms immer ein beklemmendes Gefühl - Augen zu und nichts wie weg von hier.
In der Fußgängerzone von Andernach höre ich Orgelklänge, ich folge ihnen - in die spätgotisch geprägte Christuskirche. Ich halte Ausschau nach der Orgel, kann den Musiker aber nicht sehen. Da außer mir niemand da zu sein scheint und den Klang stört, reizt es mich zu testen, wie mein Handy die ziemlich laute Orgelmusik verarbeitet. Ich lege es auf eine Bank und lasse die Aufnahme laufen. |
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Mit meiner Westentaschenkamera versuche ich die Orgel zu knipsen - und kontrolliere die Aufnahme im Display. Dabei stelle ich fest, dass das Foto nicht gespeichert wurde - und auch keines von gestern. Beim Öffnen des Kartenfachs schnippst mir die SD-Card entgegen. Ich lege sie wieder ein und teste mit weiteren Versuchen - alles funktioniert, nur weiterhin wird kein Foto wird gespeichert. Gut, dann ist es nicht zu ändern - man kann auch mit dem Handy Schnappschüsse hinkriegen.
Anschiss von der Kindergärtnerin
Kurz vor dem historischen Stadttor kommt mir eine Gruppe Vorschulkinder entgegen, ich halte an und warte, damit die Kleinen weiter so tun können, als seien sie allein auf der Straße... Eine der Kindergärtnerinnen warnt vorsichtshalber dennoch vor dem Radfahrer. Die andere ruft: Der kann absteigen, hier ist Fußgängerzone! Bringt sie das jetzt ihren Schützlingen bei. Oder wollte sie gar nicht die Kinder, sondern mich belehren, erziehen, maßregeln? Wahrscheinlich. Mit welchen Worten hätte wohl Charles Bukowski, der in diesem Kaff das Licht der Welt erblickte, diese Kröte, die meine Enkeltochter sein könnte, beschrieben? Der Dichter, der für seinen freizügigen Stil bekannt wurde, hieß damals noch Heinrich Karl - daraus wurde in Los Angeles, wohin seine Eltern zogen, als er drei war, Henry Charles.
Die Wasserburg
Im Andernacher Ortsteil Namedy passiere ich das gleichnamige Schloss, das den Infos zufolge als Wasserburg errichtet wurde. Zuletzt besaßen es Abkömmlinge der Hohenzollern. Nach Jahren des Verfalls ließ es der letzte Prinz wieder auf Vordermann bringen und für Ausstellungen und Konzerte nutzen - das ist eine gute Idee. Eigentlich wäre es auch langweilig, mit einem so großen Anwesen nichts weiter zu veranstalten als nur Prinz zu sein. Dass allerdings der Gärtner mit einem Motorgebläse herumlärmt und die Luft verpestet, nur um das Laub von den Wegen zu pusten, wäre ein Thema für sich.
Die Wagenburg
Am Berghang thront Schloss Arenfels über Bad Hönnigen, über den Rhein - und über die Blechlawine auf dem Campingplatz. Wäre ich der Herr der 12 Türmchen, der 52 Türen und der 365 Fenster des "Jahresschloss" genannten Anwesens, was bedeutete mir der Ausblick, wenn er mir doch durch Hunderte Wohnmobils verunstaltet ist. Dauernd müsste ich von oben herab auf diese Möchtegern-Schlossherren herabsehen. Gut, man kann nicht alles haben: ein Schloss und dann auch noch den Blick in unverstellte Landschaften. Der Homo romanticus ist durch den Homo wohnmobilius vertrieben - kilometerlange Campingplätze säumen den Rhein in dieser Gegend. Die Reisenden wollen nahe an den romantischen Refugien verweilen und verschandeln sie zugleich mit ihren Wohnmobilen - die Menschheit ist unverbesserlich.
Trockenen Fußes über den Rhein
In Remagen setze ich mit der Fähre ans rechtsrheinische Ufer über, von der einstigen Ludendorff-Brücke stehen nur noch die Pfeiler. Nur einige Wochen vor Ende des Weltkrieges, am 7. März 1945, stand die Eisenbahnbrücke noch - die Soldaten aus den USA freuten sich, dass sie "trockenen Fußes über den Rhein" kommen würden...
Vom rechten Ufer fällt der Blick auf einen Berg, auf dem im 13. Jahrhundert Reliquien des Heiligen Apollinaris gelangt sein sollen. Die nach dem Mönch benannte, neugotische Kirche wurde 1857 geweiht - und überstand die Kriege. Seither ist sie das Wahrzeichen von Remagen.* |
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In Unkel ist gut Unkeln
Bereits halb vier treffe ich im hübschen alten Städtchen Unkel ein. Von der Rhein-Promenade biege ich in die Kirchstraße ein, passiere das PAX-Gästehaus, wo während der Nazi-Herrschaft der seines Amtes verwiesene Kölner Bürgermeister Konrad Adenauer Zuflucht fand - nach dem Weltkrieg ging er als erster Bundeskanzler der neu gegründeten Republik in die Geschichte Deutschlands ein. Auf dem Brunnen am Ende der Gasse finden sich drei Figuren, eine ist ihm gewidmet; die zweite Figur gedenkt Ferdinand Freiligrath, der hier im Revolutionsjahr 1848 seinen Lebensmittelpunkt hatte und seine schriftstellerische Laufbahn begann; die dritte ehrt Willy Brandt, der hier ab 1979 seinen "Ruhestand" verbrachte. Wegen ihm bekam das beschauliche Fachwerkstädtchen regelmäßig hohen Besuch aus Bonn - von einem weiteren Bundeskanzler, der Geschichte schrieb: Helmut Kohl. Und aus Moskau, denn Kohl brachte Gorbatschow nach Unkel mit.
Kaum vorzustellen, welche Sicherheitsvorkehrungen es zu Zeiten der hohen Staatsbesuche in den engen Sträßchen der 5000-Seelen-Gemeinde am Rheinufer gegeben haben muss. Gleich um die Ecke befindet sich das noble Rheinhotel, von der Veranda weitet sich der Blick auf den Fluss und die Berghänge - hier dürften die hohen Staatsgäste damals logiert haben. Vielleicht dinierten Gorbi, Kohl und Brandt auch im Unkeler Hof - und spülten mit guten Unkeler Rebensäften nach. Oder mit Champagner. Und mit Wodka.
Ukulelen gibt es auch
Doch all die historischen Fakten ergoogle ich erst abends in meinem Zimmer im Gästehaus Korf mithilfe meines Westentaschen-Computers. Mein erster Blickfang in Unkel war eigentlich das Relief eines viersaitigen Instruments an der Fassade eines Musikalienladens. Trotz aller kritischen Distanz kann ich es nur als etwas deuten, wovon ich mittlerweile einige Ahnung habe, wenigsten bezüglich seines Gebrauchs. |
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Im Laden mache ich, nichts ahnend, eine Art Selfie... Immerhin sechs verschiedene Ukulelen hängen in dem kleinen Laden. Die Gewa im Vordergrund habe ich auch, ich bekam sie geschenkt und nutze sie seither als abschreckendes Beispiel. Die dahinter hängende wirkt solide, ich nehme sie aus der Halterung und stimme sie nach - dann zupfe ich eine Melodie, um den Klang der Einzeltöne beurteilen zu können. Der ist auf den ersten Eindruck in Ordnung, aber ich bin verwöhnt... |
Mein Zimmer liegt in einem Dreiseitenhof zu ebener Erde, direkt gegenüber dem Willy Brandt-Forum, dem einzigen Neubau inmitten der Fachwerk-Idylle. Und wie das mutmaßliche Ukulelen-Relief zeigt, ist Unkel auch der Marktplatz für die in der Umgebung angebauten Weine. Die Verkäuferin eines Lädchens für alles Mögliche empfiehlt mir, die edlen Tropfen in einem der Restaurants zu probieren. Ich folge ihrem Rat und komme kurz vor Ladenschluss zurück, um mir eine Flasche zu kaufen - der Abend ist noch lang. Das Zimmer hat einen Fernseher - und sogar die Fernbedienung funktioniert. In Katalonien gab es während des Unabhängigkeitsreferendums am Montag Unruhen - das war zu erwarten. In Las Vegas hat ein Amoktäter viele Menschen erschossen. Der Wettervorhersage für morgen sieht katastrophal aus: Sturmtief Xavier ist im Anmarsch, Ausläufer könnten auch meine Strecke erreichen.
Xavier pustet und pieselt
Der Donnerstagmorgen ist noch ruhig, doch es regnet. Laut Wetter-App soll es in einer Stunde aufhören. Daher lasse ich mir beim Frühstück Zeit, bestaune ein antiquarisches Barometer. Es funktioniert noch, erklärt mir die Wirtin. Beim Zahlen meines Zimmers bekomme ich 5 % Radlerrabatt - was es alles gibt! Als ich mein Rad aus der Garage hole, darf ich mir noch einen Apfel von den Ranken am Haus pflücken. |
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Die Wetter-App stimmt: der Regen hört auf - vorläufig. Die Wettervorhersage des Fernsehens bestätigt sich ebenfalls: der Wind wird stärker, heftige Böen lenken meine Fahrt. Ich muss den Lenker gut festhalten, über eine Decke von Zweige fahren, die Xavier aus dem Geäst gefegt und auf den Wegen verteilt hat. Vor jedem Baum blicke ich skeptisch zu den knarrenden Ästen. Und zum grauen Himmel sowieso...
Am Horizont ist die Burgruine auf dem Drachenfells bei Königswinter zu erkennen. Doch bis dahin liegen noch sturmumtoste Kilometer. Dass der Rhein nicht nur für die römischen Legionen eine Respekt einflößende natürliche Grenze bildete, wird hier besonders sichtbar. Den Rest haben die tiefen Wälder besorgt, in denen zweikampferprobte germanische Krieger sich gut verstecken und tückische Fallen stellen konnten. Die vom Regen aufgeweichten Pfade, Schlamm und Morast, dürften jeden Schritt zur Schinderei gemacht haben.
Ich kann überwiegend auf asphaltierten oder akzeptabel gepflasterten Wegen radeln, doch die sind voller nassem Laub, abgebrochene Zweige knacken unterm Rad. Im stürmischen Wetter verpasse ich einen Wegweiser und lande auf einem Campingplatz, der sich als Sackgasse erweist. Sturmtief Xavier pustet mal von seitwärts, mal von hinten - zum Glück selten von vorn. Schaue ich zum nordwestlichen Himmel, kann ich ermessen, dass die Regenpause nur kurz sein wird.
Wohin? Woher?
Das nächste Städtchen ist Bad Honnef. Doch wie komme ich vom Radweg am Rhein ins Stadtzentrum? Zwischen dem Radweg und der Stadt liegen Bahngleise und es ist kein Übergang zu sehen. Ich frage eine Frau, die unter einem Baum Walnüsse aufsammelt. Sie zeigt mir die Richtung - und merkt an, dass es eigentlich nichts von Interesse in dieser Stadt gäbe - ein Abstecher in den Park auf der Rhein-Insel sei lohnenswerter. Vielleicht ist sie von einigen Bewohnern enttäuscht, da mag man dann die ganze Stadt verfluchen... Oder sie hat recht und es lohnt tatsächlich nicht, die im Radführer gepriesene Kleinstadt zu besuchen.
Dem Rat der Frau folgend will ich zunächst auf die Insel einschwenken, finde aber die Brücke nicht. An der Bahnhaltestelle frage ich eine andere Frau. Sie sei erst seit ihrer Rente nach Bad Honnef gezogen und wisse noch nicht so genau, wie man da fährt - mit dem Rad. Dann fragt sie mich nach meinem Wohin und Woher. Nach Köln? Aber das sei doch viel zu weit, ich möge das nicht unterschätzen. Aus Dresden? Was für eine schöne Stadt! Nach der Wende habe ihr Sohn da eine Kanzlei gegründet, zeitweilig da gelebt, deshalb sei sie damals öfters zu Besuch gewesen.
Warum, fragt sie, sind die Menschen in Dresden nur immer so unzufrieden? - Ich weiß, was sie meinen, antworte ich, aber ich glaube nicht, dass alle Menschen in Dresden - etwa 500 Tausend Einwohner - unzufrieden sind. Wenn die Medien durch einseitige Darstellungen diesen Eindruck erwecken und die Bevölkerung ganzer Regionen verunglimpfen, dann sollte das, meines Erachtens, der eigentliche Grund zu Besorgnis sein. Abgesehen davon gibt es in den Biographien vieler Alteingesessener allerdings beachtliche Benachteiligungen und Enttäuschung - ein Ohnmachtsgefühl, nach zwei Jahrzehnten der Hoffnung noch irgendwas gegen die Ungerechtigkeit ausrichten zu können.
Diesen Unmut kanalisieren einige Populisten, die Wortführer und ihre Mitläufer werden in den Medien quasi als repräsentativ vorgeführt. Auf diese Weise wird ein Teil des Landes gegen den anderen ausgespielt - das ist das eigentliche Problem, behaupte ich. Aber die Menschen seien doch alle versorgt, erwidert die Frau. - Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, halte ich dagegen. Und es geht auch nicht ums Versorgt-Sein und was dafür überhaupt das angemessene Maß sein kann... Die Menschen empören sich über etwas, das sie bereits aus der Ost-Diktatur kennen: Politisch gesteuerte, mediale Bevormundung.
Dann kommt die Bahn, von der sie ihre Verwandten abholen möchte. Wir haben wohl nur 10 Minuten geredet, doch bei solchen Themen ist das gefühlt eine Stunde. Ich trete wieder in die Pedale - und hänge noch etwas dem Gespräch nach: Wird die alte Dame ihren Eindruck von den unzufriedenen Bewohnern meiner Heimat relativieren? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls kann sie nun erzählen, dass sie heute einen halbwegs zufriedenen Ossi getroffen hat. Irgendwie erinnert mich die Begegnung an die sinnlosen Gespräche in den ersten Jahre nach dem Ende der Mauer - und besonders an den Satz: Aber ihr hattet doch alle Arbeit - und Kindergartenplätze...
Die teuerste Mandarine der Welt
Vorwärts! Zunächst folge ich dem Rat der Frau vom Walnussbaum und radle auf die Insel - ein herrlicher Park mit einer großen Wiese. An Sommerwochenenden wird man hier nicht allein sein. Auf der Wiese werden sich Sonnenanbeter tummeln, Kinder werden umherspringen, Jugendliche ihre Bluetooth-Boxen einschalten, Hunde bellen. An der heute geschlossenen Terrasse wird gastronomisches Gedrängel herrschen, vielleicht auch Beschallung. Doch heute, an diesem herbstlich kühlen Donnerstagvormittag lässt sich die Ruhe genießen.
Bad Honnef ist tatsächlich ernüchternd, gepflegte Villen und Vorgärten säumen die Straßen in die Stadt, doch die Fußgängerzone im Stadtzentrum ist ohne jeden Reiz - immer die gleichen Geschäftchen: Klamottenladen, Schuhladen, Taschenladen, Schmuckladen. Ich suche einen Laden, wo ich eine Flasche Wasser bekommen könnte, werde aber nicht fündig. Bei einer Auslage mit Obst will ich eine Mandarine kaufen - einen Euro fordert der Verkäufer! Vielleicht ist das der Sonderpreis für Ungläubige... Woanders gibt es dafür jedenfalls ein ganzes Netz Mandarinen.
In dieser Stadt sollte ich besser keine weiteren Besorgungen machen... Aber eine Flasche Wasser brauche ich noch. Abseits der Shoppingmeile findet sich ein Supermarkt. Die Kassierer und Kassiererinnen sind freundlich, viel angenehmer als in meiner Heimat - sie sind dann wohl nicht so unzufrieden. Sogar die Bettler sind freundlicher, ein lächelnder Mann streckt mir vor dem Eingang die leere Hand entgegen. Es beginnt zu regnen. Die Regenhose und die wasserabweisende Jacke hatte ich vorsorglich schon am Morgen übergestreift. Nun muss ich nur noch die Kapuze überziehen, leicht gesagt - das Bändel ist in den Saum gerutscht.
Ich drehe meine Wendeschleife an dem von Fachwerkhäusern flankierten kleinen Platz bei der St. Johann Baptist-Kirche, wahrscheinlich die beschaulichste Ecke des Städtchens, nicht ohne Grund ist sie im Radführer bebildert. Die Tische vor den Restaurants, an denen auf dem Foto lauter Gäste sitzen, sind noch angeschlossen - es sieht auch nicht so aus, als würde sich daran heute etwas ändern. Dann treibt mich der Regen aus der Stadt. Und draußen auf der Piste treibt mich der Sturm. Ich muss aufpassen, dass ich nicht unters Rad komme.
Unterm Rad
In Königswinter will ich die Fähre nach Bad Godesberg nehmen. Doch die ist noch weit drüben am anderen Ufer. So bleibt Zeit für eine kleine Runde durch das zu Füßen des Siebengebirges liegende Kaff. Eine alte englische Telefonzelle, knallrot, zieht meine Aufmerksamkeit an. Statt eines Telefons enthält die Zelle Bücherregale, gebrauchte Bücher stehen darin, offenbar zur kostenlosen Selbstbedienung. Das ist eine gute Idee. Ich entdecke ein Taschenbuch von Hermann Hesse, das ich noch nicht gelesen habe. Ein Buch mit dem Titel "Unterm Rad" gehört für einen Radler sicher zur Pflichtlektüre, glaube ich. Davon abgesehen ist Hesse ohnehin mein Lieblingsautor. Ob die feinsinnige Erzählung Siddharta oder all die Reisebeschreibungen, alles von ihm ist so voller Poesie, das Lesen ein Genuss für die Seele.
Doch zunächst ist die Fähre dran. An Bord gibt es zwei Autospuren und sogar eine Rad-Spur. Einem Schild, das Auskunft über die Belastbarkeit der Fähre gibt, entnehme ich, dass die maximale Personenzahl mit 500 angegeben ist. Das erscheint mir viel für die verfügbare Fläche. Als der Schaffner mir gegenüber steht, spreche ich ihn darauf an. Und er antwortet ausführlich.
Früher, als Bad Godesberg noch Wohnsitz von Politikern war, sei hier viel mehr los gewesen, ein mehrfaches Fahrgastaufkommen. Königswinter, müsse man wissen, sei damals ein beliebtes Vergnügungsviertel gewesen. Auch Bonzen müssen sich mal vergnügen können, kommentiere ich zwinkernd. Nein, das waren Diplomaten, betont der gute Mann, der hier schon 30 Jahre das Personal der Regierungen aus aller Welt übersetzt, und wie mir scheint, sagt er es mit einem Anflug nostalgischer Wehmut. Gab es damals auch mal ein hübsches Trinkgeld von den diplomatisch Vergnügten? hätte ich fragen können. Auch in einem Vergnügungsviertel - oder gerade da - kann man unters Rad kommen.
Der Blick hinauf zum Drachenfels mit dem Schloss und der Burgruine entschädigt für die Tristesse der betonierten Promenade von Königswinter. Die Überfahrt über den hier sehr breiten Rhein war dank der Unterhaltung mit dem Fährschaffner kürzer als kurzweilig. Am anderen Ufer lädt eine Imbissbude zum billigen Mittagessen. Ich begnüge mich mit einer Portion Pommes. Dann folge ich dem Rat des Schaffners und bleibe noch einen Kilometer lang auf der verkehrsfreien Uferstraße, ehe ich in die City von Bad Godesberg abbiege.
Ich bin beeindruckt von den schicken Villen, alles in sehr gepflegten Zustand - möchte nicht wissen, was man für eine Wohnung in diesen prächtigen Gemäuern an Miete zu zahlen hätte. Für Normalsterbliche ist hier sicher nichts Bezahlbares zu mieten. Um so mehr überrascht mich, dass ich im schicken Stadtzentrum mit seinen vielen Geschäften und Restaurants tatsächlich sehr viele Leute asiatischer und afrikanischer Herkunft sehe. "Ungeordnetes Chaos" nannte der Fährschaffner Bad Godesberg, ich möge doch besser Bonn besichtigen, da sei das Chaos wenigstens noch geordnet.
Natürlich ist es eine Definitionsfrage, was man als ungeordnet oder als Chaos bezeichnet. Auf mich wirkt die Stadt durchaus aufgeräumt, ja geradezu schick. Die Geschäftigkeit läuft wie am Schnürchen, nicht anders als in anderen Städten. Gewöhnungsbedürftig ist die muslimische Kleidung. Ein Drittel der Frauen trägt Kopftuch, einige sogar Niqab. Wie Gespenster laufen sie umher. Wie mag sich eine schwarze Ganzkörperverhüllung dieser Art bei hochsommerlichen Temperaturen machen? Nur der Sehschlitz lässt Luft ein und aus - es muss wie eine Dunstglocke sein.
Diese armen Frauen dürfen den Propheten des Islam verehren, wie es ihnen ihre Imame eintrichtern - und mit der Gnade ihrer Väter oder Gatten den Rest der Welt durch einen Sehschlitz betrachten. Was sollen diese Schikanen mit Religion zu tun haben? Mit Glaubensausübung oder Glaubensfreiheit? Wer sich diese patriarchalische Repression als kulturelle Vielfalt erträumt, ist so abgründig naiv wie jene "68er", die für eine Kulturrevolution nach maoistischem Vorbild demonstrierten. Warum wünschen sich junge Leute, die in liberalen Gesellschaften aufwachsen, so einen Irrsinn?
Das Gedränge in der Innenstadt ist mir zuviel. Das exotische, orientalische Flair scheint hier schon lange Alltag zu sein. Ich verzichte auf eine direkte Weiterfahrt ins Zentrum des geordneten Chaos, nach Bonn, und fahre den selben Weg, den ich kam, zurück - ans Ufer des Rheins. Der leichte Regen beginnt, sich zu einem heftigen Guss zu verwandeln. Ich stelle mich an einer Imbissbude unter. Ein kleines Mädchen mit einem kunterbunten Schulranzen setzt sich auf die Bank neben mir. So ein Scheißwetter! sage ich zu der Kleinen - mich interessiert, ob es hier auch Kinder gibt, die - noch oder schon - deutsch verstehen und sprechen... Sie antwortet ausführlich. Ihr Ranzen sei zum Glück wasserdicht, ihre gelbe Jacke ebenso, verkündet sie stolz. Und dass es auf der Fähre eine windgeschützte Kabine gäbe, ist heute auch besonders passend. Dann landet die Fähre und die Kleine verabschiedet sich - an der Anlegestelle dreht sie sich nochmals um und winkt freundlich.
Kaffeekränzchen am Rhein
Ich mache mich auch wieder auf den Weg, doch kaum bin ich zwei Kilometer geradelt, schüttet es erneut aus vollen Kannen. Glücklicherweise radle ich direkt auf einen der hölzernen Pavillons zu, derer es hier einige gibt. Auf einer der beiden Bänke sitzt ein Radler, er hat sein Gepäck darauf ausgebreitet - unter anderem zwei Schlafsäcke. Die halten auch bei kühlen Temperaturen warm, sagt er - zwei billige sind besser als ein teurer. Dann zeigt er mir den kleinen Gaskartuschenkocher, den habe er für nur sechs Euro erstanden - im Globetrotter müsse man dafür bestimmt 40 hinblättern. Und er bietet mir an, einen Kaffee für mich zu kochen. Da kann ich nicht nein sagen. Zuhause sei er in Leer, Ostfriesland, habe da zwar eine kleine Wohnung, halte es es aber zuhause nicht lange aus.
Da wir ohnehin schon beim Thema Minimalisieren von Reisekosten waren, erzähle ich ihm von meiner diesjährigen Sommertour* durch Böhmen und Mähren, wo man auch mit geringen Mitteln unterwegs sein kann. Das mag sein, erwidert er, aber er habe da seine Ressentiments - der Osten ist ihm generell etwas suspekt. Draußen schlafen sei eigentlich kein Problem für ihn, sagt er, aber letzte Nacht sei er von einer Gruppe junger Immigranten aggressiv belästigt worden. Um von den Kerlen nicht als Obdachloser empfunden und schikaniert zu werden, habe er dann immer nur auf englisch geantwortet - damit man ihn für einen Reisenden halte und als solchen vielleicht eher respektiere, erklärt er mir. Nach einer Weile sei die Gruppe tatsächlich weitergezogen.
Ich kann schon wegen des Lärms kaum noch im Freien schlafen, antworte ich. Wenn ich dann auch noch Angst vor Belästigungen haben müsste, könnte ich gleich gar nicht mehr schlafen - die Nacht wäre nur noch permanentes Wachehalten. Früher, als ich jünger war, hatte ich das auch noch drauf, 1991, auf meiner Tramptour durch die USA habe ich viele Nächte im Freien verbracht, sogar in den Parks großer Städte wie New York. Aber heute? Nein, danke. Wir reden noch ein Weilchen über die Gefahren des Alleinreisens - und werden uns schnell auch einig darüber, dass die Debatte über die Integration von Zuwanderern realitätsfern geworden ist, wenn soziale Muster aus einer so fremdartigen kulturellen Verwurzelung gleich millionenfach mitgebracht und beibehalten werden.
Der Regen hat aufgehört, der Kaffee ist getrunken. Falls du trotz deiner Vorbehalte mal die Elbe südostwärts radeln magst, sage ich zum Abschied, dann google einfach Ukulele und Alexander - Ukulele und Dresden reicht wahrscheinlich auch. Du findest mich - und ich finde eine sichere Übernachtung für dich. Jetzt muss ich aber los, bevor es wieder zu regnen beginnt. Die alte Dame, die mich bei Bad Honnef nach den unzufriedenen Menschen Dresdens fragte, hatte Recht - in Bezug auf das Unterschätzen der Strecke bis Köln. Wegen der durch heftige Regenschauer erzwungenen Pausen, aber auch wegen meiner Abstecher in die Innenstädte der am Wege liegenden Ortschaften bin ich zeitlich etwas in Verzug.
Bitte nicht die Bank bemalen
An der Rhein-Brücke im Bonner Stadtzentrum frage ich eine junge Radlerin, welche Seite des Rheins von hier nach Köln den besseren Radweg habe. Sie ist sich nicht sicher, weil sie noch nie nach Köln geradelt ist, glaubt aber, dass der Weg am anderen Ufer besser ist. Wir fahren ein Stück gemeinsam und plaudern dabei. Sie fährt auch noch ein Stück rechtsrheinisch mit, dann biegt sie ab. Am nordwestlichen Horizont, von wo das Wetter kommt, lockert sich die Wolkendecke auf. Es sieht ganz danach aus, als ob Xavier inzwischen abgezogen ist. Er pustet noch etwas, aber er hat seine nasse Fracht verloren - hier jedenfalls.
Auch die Wetter-App ist zuversichtlich, dass hier heute nichts Nasses mehr vom Himmel fällt. An einer Bank raste ich, um die Regensachen auszuziehen: Ein Spaßvogel hat auf die Lehne der Bank gekritzelt: Bitte nicht die Bank bemalen. Ein angefügtes Smiley soll bedeuten, dass das ironisch gemeint ist. Wer hätte das gedacht... |
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Am späten Nachmittag kommt am Himmel sogar noch Blaues zum Vorschein. Der Wind hat nachgelassen. Und es geht streckenweise schön durchs Grüne. Daher komme ich doch wieder zügiger voran und kann noch eine Pause einlegen. In Zündorf, direkt gegenüber der kleinen Rhein-Insel, stehen ein paar Tische vor einem Lokal. Es ist ruhig, kein Verkehr - das ideale Plätzchen für ein Kölsch, für mich das erste meiner gesamten Bier-Vita.
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Zwei Kleine sind ein Großes
Ein Großes? fragt mich die Kellnerin. Ja, bitte! Während ich meine Karte studiere, um die restliche Strecke abzuschätzen, serviert mir die Kellnerin das Kölsch - ich staune nicht schlecht, was man hier unter einem großen Bier versteht. Keine Sorge, sagt die Kellnerin, die meinen skeptischen Blick schon deutet: Ich bring dann noch eins - zwei kleine sind bei uns ein Großes.
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Den Tag nicht vor dem Abend tadeln
Kurz vor der Abenddämmerung wirft die Sonne noch eine wundervolle Flut aus Licht und Schatten in einen Park, der trotz der voranschreitenden Laubfärbung noch viel Grün zu bieten hat. Der Tag, der so nass und grau begann, zeigt sich am Abend noch von seiner schönsten Seite. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber, so viel habe ich heute gelernt: auch nicht vor dem Abend tadeln!
Am Horizont kommt die Skyline von Köln in Sicht. Während das rechtsrheinische Ufer noch einige ländliche Refugien zu bieten hat - Schafe grasen auf den Wiesen, Drachen steigen in den Abendhimmel -, wird am anderen Ufer schon die urbane Modernität der Rhein-Metropole sichtbar. Drei winkelförmige Hochhausklötzer dominieren dort die Bebauung. An bautechnischer Finesse mag das architektonische Ensemble punkten, doch das Wahrzeichen Kölns ist und bleibt der berühmte Dom im Stadtzentrum, den ich im Hintergrund zu sehen bekomme. 25 Jahren ist es her, als ich den Dom erstmals und zuletzt sah - ein Bob Dylan-Konzert war damals der Anlass für einen Kurzbesuch in Köln.
Als wollte mir die Sonne einen speziellen Abendgruß erweisen, schickt sie durch eine Wolkenlücke ein Bündel Lichtstrahlen in die Spitzen der Domtürme. Bis zu meinem Quartier liegen noch etwa 10 Kilometer vor mir. Ich erreiche es kurz vor der Dunkelheit, werde von einer einstigen Brieffreundin erwartet. Nach etlichen Jahren ohne Kontakt gibt es viel zu auszutauschen.
Nur Langes lässt sich kürzen
Der Freitag beginnt mit einem Bummel durch die Kölner City, zunächst schlendere ich durch die Altstadt, wo das Leben der Millionenstadt erst in den Nachmittagsstunden erwachen dürfte. Die kleinen Lädchen - Souvenirgeschäfte, Tätowierstudios - haben sich auf Touristen aus aller Welt eingestellt. Und weil die eher am Abend durch die Gassen spazieren, öffnen die Lädchen erst nachmittags. Als ich Richtung Dom zurückgehe, beginnt es stärker zu regnen - und ich frage mich, was ich bei dem Wetter unternehmen kann.
Das Römisch-Germanische Museum direkt neben dem Dom bietet sich an, bei besserem Spazierwetter hätte ich es sicher ignoriert.. Doch so komme ich zu interessanten Einblicken in den antiken Alltag jener Siedlung, welche die Römer unter der langen Bezeichnung Colonia Claudia Ara Agrippinensium auf dem Boden einer germanischen Siedlung errichteten, abgekürzt CCAA. So steht es denn auch auf den ausgestellten Grabsteinen - das dürfte damals auch preislich wesentlich günstiger gewesen sein als die volle Bezeichnung. Was blieb von der Claudischen Kolonie und Opferstätte der Agrippinenser sprachlich noch übrig? Nur eine Silbe: Köln. Und weil das nun gleich wieder etwas zu kurz ist, mögen es waschechte Kölner dann doch wieder ein Silbchen länger: Kölle heißt es auf Kölsch.
Ausgetrickste Drückebergerei
Irgendwo in Kölle wird immer irgendwas gebaut, gebaggert, gegraben - bisweilen findet sich dabei manches, was nicht gesucht wurde. Noch heute werden Münzen und Scherben aus der Römerzeit geborgen - teils gut erhaltenes Geschirr. Einzigartig ist ein Glas mit der Darstellung eines griechischen Mythos. Der Sage nach wollte Mutti Thetis ihren Sohn Achilles vor der Rekrutierung zum Kriegsdienst bewahren, indem sie ihn in Mädchenkleidern unter den Töchtern von König Lykomedes versteckte. Als aber der listige Odysseus die Kriegstrompete blasen ließ, habe Sohnemann Achilles instinktiv zu Schwert und Schild gegriffen - anstatt wie die erschrockenen Königstöchter davonzurennen. So sei die Tarnung aufgeflogen.
Warum aber steht der todesmutige Achilles deshalb gleich völlig nackt herum? Kam er gerade aus der Dusche? Wahrscheinlich ist es so: Wenn Mutti ihren Sohn unter lauter Königstöchtern versteckt und dabei vergisst, die Hausordnung zu erklären, kommt einfach nur mythischer Nonsens heraus. |
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Elektrosmog
Aus meinem Handy erklingt leiser Harfenklang - ein Radlerfreund ruft mich an. Sofort schreitet der Museumswächter ein und macht mich darauf aufmerksam, dass das Telefonieren hier verboten sei. Ich entschuldige mich bei meinem Freund, lege auf - und frage den Mann: Warum ist es verboten? - Um andere Besucher nicht zu stören und wegen des Elektrosmogs... Obgleich außer ihm im ganzen großen Raum gerade niemand anwesend ist, den ich durch ein leises Gespräch stören könnte, kann ich Teil eins der Begründung gut verstehen. Der gelangweilte Kerl, der nach einer Abwechslung sucht, belehrt mich allerdings lauter, als ich telefonierte - wahrscheinlich hat er schon zu viel Elektrosmog abbekommen...
Trotz des Regenwetters sind nur wenige Besucher im Museum. Doch das ändert sich schlagartig - eine Schulklasse stürmt die Treppen herauf. Die Mädchen spielen Verstecken hinter den Grabsteinen und zwischen den Vitrinen, die Jungs rennen ebenso aufgeregt umher, zücken ihre Handys und knipsen und filmen und rufen und lachen - ihre Lehrer haben ihnen den Unterschied zwischen einem Spielplatz und einem Museum noch nicht erklärt. Bemerkenswert: Der Museumswächter sieht jetzt wortlos zu - verliert keinen Ton über Störung andere Besucher und über Elektrosmog...
Mich stört die Ausgelassenheit der Kinder nicht - im Gegenteil, teils amüsiert mich ihre Neugier. Ein Grüppchen von drei Mädchen hält inne vor einem Grabstein, die acht- oder neunjährigen Gören staunen kurz darüber, wie viele Tausend Jahre alt das Grab sein mag. Rennt eine von ihnen weiter, rennen die anderen hinterher - das war gewiss schon bei den alten Römerinnen so... Man übernimmt nämlich die Eigenheiten derer, mit den man Umgang hat, schrieb Seneca - eine Binsenweisheit und doch ist sie bis auf den heutigen Tag aktuell, mehr denn je vielleicht. Mit der Größe der Volksmenge, in die wir geraten, wächst die Gefahr. Wo sollte man das besser gelernt haben als auf der Domplatte, die sich mit einem Blick durch das Fenster überschauen lässt.
Etwas schlechte Manieren
Die umherrennenden Jungs kreuzen bisweilen nur eine Schrittlänge vor mir. Nun wird es mir doch etwas zu hektisch und ich verlasse das Obergeschoss, um in den unteren Räumen etwas Ruhe zu finden. Doch die Führung einer Latein-Klasse kommt mir in die Quere. Ich weiche in einen anderen Raum aus und gelange zum Dionysos-Mosaik. Das an seinem archäologischen Fundort belassene Mosaik wurde im Krieg beim Bau eines Bunkers entdeckt, vorsorglich wieder verschüttet, 1946 wieder freigelegt. Das 1974 eröffnete Museum wurde quasi als schützendes Dach über dem Mosaik errichtet. Die Latein-Gruppe folgt mir als sich ihr Museumsführer - dann verteilen sich die Jugendlichen um das Mosaik, das vertieft unter ihnen liegt, wie ein leeres Schwimmbecken.
Die Museumsführerin erklärt der Klasse die aus Millionen Steinchen zuammengesetzten Darstellungen. Im Zentrum des Mosaiks wird Bacchus (so dürften die römischen Siedler den griechischen Weingott genannt haben) gehuldigt, am Rande ist das üppige Menü an Speisen bebildert, das die Bewohner für standesgemäß hielten. Ich warte nur noch darauf, dass man uns Vorgekautes serviert, klagte Seneca über die kulinarische Dekadenz der römischen Küche. Zwischen dem zur Schau gestellten Luxus dürfen Silene dreist an den Kleidern zu Diensten stehender Mänaden zupfen - Begrabschen junger Frauen galt als Ausdruck von Sinnenfreude. Es habe eben schon damals Leute mit etwas schlechten Manieren gegeben, erklärt die junge Museumsführerin den Jugendlichen.
Von draußen, von der Domplatte, wo in der Silvesternacht von 2015 der altgriechische Gott der Trunksucht und Zügellosigkeit wieder einmal die Herrschaft übernahm, lässt sich das Mosaik mit den leicht anzüglichen Szenen gleichfalls beäugen. Touristenansammlungen drücken sich die Nasen an den Glasscheiben platt und fotografieren wie besessen ins Museumsinnere - auch die nüchternen Zeitgenossen sind durchgeknallt. Zückt einer die Kamera, tun es alle - da steht die deutsche Reisegruppe der japanischen nicht nach. Im Zeitalter der Globalisierung ist auch Herdentrieb globalisiert.
Nun dürfen die Schüler Fragen stellen. Die Mädchen interessieren sich für Mädchen-Themen, die Jungs für Jungs-Themen - ob das Metallgeländer um das Mosaik auch schon 2000 Jahre alt sei, will einer wissen. An einem Großbildschirm erklärt ein sich gelehrt gebender Rentner einer jungen Frau das antike Köln. Vielleicht war er früher Archäologe - oder Museumsführer und nun kennt er die Erläuterungen, die ich gern selbst lesen würde, auswendig. Ich staune immer über Simultanübersetzer, denn ich kann weder reden noch lesen und zuhören zugleich. Auch hier muss ich schließlich das Feld räumen - nach gut zwei Stunden in der Ausstellung, die meiste Zeit ungestört, kann ich das ohne Gram.
Im Foyer stöbere ich durch die Buchauslagen - ich möchte noch so viel über das Leben in der Antike wissen. Seit meiner Jugend - seit ich erstmals Homer, Platon, Aurelius, Seneca las - fasziniert mich diese geistreiche Epoche der Menschheit. Doch als Radreisender muss ich in Sachen Mitbringseln äußerste Zurückhaltung üben. Meine in Jahren perfektionierte Gepäckminimalisierung lässt wenig Platz für Extras. Doch das Blättern in einem Büchlein, das in die Westentasche passen würde, lässt mich nicht los. Unter dem Titel Der Weise ist sich selbst genug - Gedanken für alle Lebenslagen hat Reclam eine handliche Sammlung Seneca-Zitate herausgebracht. Ich lege das Büchlein immer wieder in die Auslage, doch sobald ich mich entferne, ruft es: Alexander, so viel Platz hast noch! Und bedenke auch: Du hast eine lange Bahnfahrt bis nachhause. Da kannst du viel mehr aus meinen Weisheiten lesen!
Nur ohne Hut ist gut
Ich kaufe das Büchlein, wende mich den Hockern bei der Garderobe zu - lese da einige Seiten. Der Regen hat aufgehört. Ich gehe hinaus, diagonal über die Domplatte, zum Eingang des Doms. Ein Straßenmusiker scheppert auf der Blechtrommel. Die Führer der Reisegruppen halten ihre Nummernschilder in die Höhe, labern ihre Ansagen herunter. Mein Blick schweift hinauf zu den beiden Turmspitzen des Doms - wie konnte man vor 200 Jahren schon so gigantische Türme errichten? Nach wieder gefundenen Bauplänen aus dem Mittelalter! Vor dem Eingang gibt es einiges Gedrängel. Mönche in Kutten kontrollieren die Taschen und Rucksäcke der Besucher. Ich werde aufgefordert, meine Schirmmütze abzunehmen. Welches religiöse Gebot verlangt eigentlich die Hutlosigkeit in einer Kirche? Sind nicht gerade die katholischen Bischöfe Träger der extravagantesten Kopfbedeckungen? Und warum fordert niemand die islamischen Besucherinnen auf, ihre Kopftücher abzunehmen?
Ich betrete das beeindruckende Gebäude unbehütet. Weil Gottes Bodenpersonal es so will, muss der Allmächtige mein grauer und lichter gewordenes Haupt ertragen. Während die grau bis schwarz verfärbten Außenfassaden unter der grauen Wolkendecke verblassen, werfen die großen farbigen Fenster Lichtkegel ins Kircheninnere. Als wolle mir die Sonne die Darstellungen in den Fensterscheiben in ganzer Pracht präsentieren, hat sie einige Wolken beiseite geschoben und leuchtet nun durch jedes einzelne Glas.
Beim Altar, wo sich Längs- und Querschiff kreuzen, flutet das Licht besonders intensiv - die alten Baumeister haben jeden Effekt kalkuliert. Zwei Asiatinnen, vielleicht Japanerinnen, in schwarzen Gothic-Kleidern nutzen die Kulisse zum gegenseitigen Posieren vor ihren Kameras - eine lässt ein silbernes Kreuz an einer Kette vom Finger baumeln. Zwei Mönche in knallroten Kutten tragen hölzerne Spendentaschen - Kostüme wie auf Gemälden der Renaissance. Man lebt in Scheinwelten - und zückt an der nächsten Ecke das Handy, um Fotos vom Schein der Scheinwelt zu verschicken. |
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Weil die Kölner City im Krieg schwer bombardiert wurde, entstanden viele Lücken, die mit unschönen Betonklötzern aufgefüllt sind. In den Einkaufsmeilen herrscht große Geschäftigkeit. Eine ältere Dame kommt mit großen Papiertüten vom Shopping. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum kaufen zu viele Dinge, die bald wieder in der Mülltonne landen. Der Verkehr in den Hauptstraßen ist nichts für mich - Lärm und Abgase ersticken die Fußgänger. Aber die Großstädter aller Herren und Damen Länder haben sich daran gewöhnt - und tragen ihren Anteil bei.
Die ewige Macht der Romantik
Ein liebestoller Brauch, den ich vor etlichen Jahren erstmals an Geländern in Florenz wahrnahm, hat sich nach Norden ausgebreitet - und vermehrt und vermehrt. Die Bekundung gegenseitiger Treueschwüre in Gestalt eines verschlossenen Vorhängeschlosses, auf das die Liebenden ihre Namen schreiben, scheint eine so romantische Anziehungskraft zu besitzen, dass ihr jeder Optimist und jede Optimistin erlegen ist. Man geht dahin, wo alle hingehen, schließt sein Schloss an, wirft den Schlüssel in weitem Bogen in den Fluss. Im hiesigen Fall hängen die Schlösser zu Tausenden an der Bahnbrücke im Zentrum Kölns. Es müssen Tonnen sein! Ungezählt die Schlüssel, die im Grunde des Flusses versanken...
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Während das Geländer an der südlichen Innenseite des Fußweges keine einzige Lücke mehr zeigt, sind auf der anderen Seite noch freie Plätze, der zweifelhaften Romantik des Nachahmens zu frönen. Romantische Treuegelöbnisse in Gestalt von Vorhängeschlössern werden hoffentlich keine Bürgerpflicht... Sonst stürzt die Brücke eines Tages unter der Last der Versprechen zusammen. |
Am Samstagmorgen spaziere ich im Norden der Rhein-Metropole durch die Flittarder Flussauen. Am hiesigen Rhein-Ufer ist Schluss mit der Romantik, hier regiert die Industrie. Unweit, bei Leverkusen, hat der Industriestandort Deutschland eine seiner hässlichsten Seiten. Kilometerweit verunstalten die Chemielabore der Bayer AG das rechtsrheinische Flussufer, Schornsteine ragen in den Himmel, Rohrsysteme spucken Dampf aus, Hafenanlagen, Kräne. Rund um die Uhr lärmen die Maschinen der Industrienation und verpesten die Luft, heizen das Klima auf, zerstören die Natur...
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Linksrheinisch, am Nieler Ufer, sieht es nicht besser aus: die Maschinen der Ford-Werke
dröhnen Tag und Nacht - die permanente Lärmkulisse wird nur durch eine Reihe hoher Pappeln leicht gedämpft. Die Bewohner der Umgebung haben sich daran gewöhnt, ihr Gehör ist abgestumpft - anders wäre der Lärm nicht zu ertragen. |
Südlich von hier bietet der Stammheimer Park etwas Grün. Einst stand hier ein romantisches Schlösschen, bei einem Bombenangriff der Alliierten wurde es 1944 zerstört. Das an gleicher Stelle später errichtete Altenheim ist ungenutzt, die Stadt ließ es später von Studenten bewohnen, seit 2001 fällt es dem Verfall anheim - mit Brettern vernagelte Fenster, mit Sprüchen besprühte Mauern. Eine Reihe von Klanginstallationen, die sich harfenähnlich "zupfen" lassen, lenkt vom urbanen Hintergrundrauschen der Zivilisation ab.
Als ruhige - oder eben weniger laute - Oase in der Millionenstadt am Rhein erweist sich der Botanische Garten Kölns, in dessen Mitte ein Palais namens Flora protzt. Palmen und andere exotische Pflanzen stehen noch im Freien, doch die Tage draußen sind gezählt. Im großen Gewächshaus bestaune ich die verschiedensten Arten von Fuchsien. Trotz des Samstagnachmittags, an dem man Andrang erwarten könnte, spazieren nur vereinzelt Besucher umher - einige Jogger nutzen die Parkwege zum Laufen, Hundehalter führen ihre vierbeinigen Freunde aus.
Schlussakkord
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Am letzten Tag meiner Woche am Rhein geht es ins Bergische Land - erstes Ziel ist der Altenberger Dom. Hunderte Kirchgänger strömen nach dem Hören katholischer Predigten aus dem prachtvollen Dom und genießen es sichtlich, wieder selbst reden zu dürfen - die Kinder freuen sich nach dem langen Stillsitzen, ihrem Bewegungsdrang wieder freien Lauf lassen zu können.
In der Kirche wabern noch Wolken von Weihrauch, nur etwa drei Dutzend Besucher sitzen noch in den Bänken und warten auf das heutige Mittagskonzert unter dem Titel Morgenglanz der Moderne. Der Münchner Organist Tobias Skuban erläutert die Zusammenstellung seiner Auswahl: Werke von Dietrich Buxtehude, Oskar Lindberg, Max Reger - ein spannender Bogen vom Barock in die Moderne. Bei den leisesten Flötentönen ist das Klappen der Ventile zu hören, doch der Organist zieht sprichwörtlich alle Register. Im gewaltigen Schlussakkord entlädt sich die gesamte musikalische Inbrunst des Virtuosen, der seit einer Stunde auf nichts anderes als auf diesen gewaltigen, finalen Akkord hinzuarbeiten schien... |
Während der Stunde des Konzerts hat draußen in der Natur auch der Herbst einige seiner Register gezogen - ein Regenguss hat das welkende Laub aus den Bäumen gespült und auf dem in der Nässe glänzenden Straßenpflaster verteilt. Im Umfeld des Doms laden Restaurants zum Verweilen im idyllischen Dörfchen. Nach einem kurzen Weg entlang der Dhünn stachelt der Märchenwald Altenberg die Phantasie der Kinder an - und lockt ihren Eltern noch ein paar Scheine für den gastronomischen Zeitvertreib aus der Tasche.
Mich und meine Kölner Brieffreundin lockt der richtige Wald - wegen des vielen Regens der letzten Tages ist die Dhünn ein wildes Flüsschen geworden, das gelegentlich auf den Waldweg schwappt. Daher ziehen wir es vor, ein Stück die Landstraße entlang zu gehen, bevor wir auf die breiten Wanderwege im Dhünn- und Linneftal abbiegen. Auch hier gibt es noch ein kleines Konzert - es kräht und zwitschert von den Ästen, es raschelt im Laub. Nahe der Staumauer, hinter der die Dhünn einen See mit etlichen Buchten bildet, beginnt es wieder zu regnen. Wir drehen daher eine Wendeschleife und stapfen über nasse Pfade zurück zum Altenberger Dom.
In den Abendnachrichten des Fernsehens heißt es, die infolge des Sturmes erforderlichen Streckensperrungen der Deutschen Bahn seien weitgehend aufgehoben - nur zwischen Hannover und Magdeburg gäbe es noch vereinzelte Ausfälle, die im Verlaufe des Montags aber wieder planmäßig befahren würden - das betrifft dann auch meine Strecke. Die DB-App verkündet ebenfalls Zuversicht, es gäbe keinen Grund, meine morgige Verbindung umzubuchen - man möge sich kurz vor Reiseantritt nochmals vergewissern...
Kurz vor Reiseantritt
Gleich nach dem ich aufgewacht bin, konsultiere ich die Bahn-App nach aktualisierten Infos über meine Bahnverbindung nach Dresden. Doch immer wieder lese ich nur die alles und nichts sagende Empfehlung, Informationen kurz vor Reiseantritt einzuholen. Was ist kurz vor Reiseantritt? Eine Stunde vorher? Da muss ich mich bereits auf den Weg gemacht haben, um rechtzeitig auf dem Bahnhof zu sein. Wer will aber dann auf dem Bahnhof herumlungern und erst dort gesagt bekommen, dass der Zug ausfällt? Ich sehe mich vorsorglich nach anderen Verbindungen um. Dabei erfahre ich gleich von weiteren Störungen im Kölner Stadt- und Vorortbereich. Es gäbe Verspätungen wegen des Andrangs im Zusammenhang mit der Eröffnung der Anuga, einer Fachmesse der Ernährungsbranche. Wegen eines Notarzteinsatzes sind die S-Bahnen aus Richtung Leverkusen blockiert - meine Anfahrtsstrecke zum Kölner Hauptbahnhof ist demnach ganz sicher nicht nutzbar. Ich muss die 10 Kilometer zum Hauptbahnhof radeln, nun auch ziemlich flott.
Auf den Straßen staut sich der Berufsverkehr. Nach einigem Zickzack im Stadtteil Mühlheim finde ich die Brücke, über die ich zur Dom-Seite der Stadt gelange. Dann kann ich, verschont vom hektischen Berufsverkehr, auf dem Radweg am Rhein-Ufer entlang. Ich begegne einigen Fußgängern, deren träges Umherschleichen dafür spricht, dass sie kein spezielles Ziel haben. Rucksack, Schlafsack und Isomatte führen die müden Gestalten mit sich, doch nach Reise sieht das übrige Gepäck - zerschlissene Plastiktüten - nicht aus. Hier, in den Parks, sind die Nachtlager der Obdachlosen, der Hoffnungslosen, der Stadtstreicher, deren Nächte wenig erholsam sind und deren lange Tage ein ewiges Suchen nach einem trockenen Fleckchen bleiben, nach einem lukrativen Platz, wo sich etwas Geld für Nahrung, Alkohol und Zigaretten erbetteln lässt, wo Gesellschaft und Zerstreuung zu finden ist - und Lebenssinn.
Eisenbahn fahrn
Mein Zug fällt tatsächlich aus. Daher nutze ich die bereits in Betracht gezogene alternative Verbindung über Frankfurt am Main - das Bahn-Ticket behält in solchen Fällen seine Gültigkeit, nur die Platzkarte ist umsonst gekauft. Der Zug ist überfüllt - ich stehe die Stunde bis Frankfurt im Gang. Erfreulicherweise muss ich in Frankfurt nur auf die andere Seite des Bahnsteiges und kann nach wenig Wartezeit in den ICE nach Dresden umsteigen. Ich finde einen Platz im Kleinkinderabteil, wo sich auch mein Klappradel einstellen lässt. Bis Leipzig habe ich meine Ruhe, dann steigen viele Reisende zu - auch mit Kindern. Die Schaffnerin führt die Kinder ins Kleinkindabteil - schließlich habe ich die Gesellschaft von fünf Schulkindern: Ich bin schon zweite Klasse! prahlt eines der Mädchen.
Während sich die Kinder untereinander bekannt machen
und nebenher in die von der Bahn bereitgelegten Ausmalhefte kritzeln, spendiert ein Vater noch ein elektronisches Hörbuch dazu. Neben den Gesprächen der Eltern und Kinder rieselt nun auch noch Herr Fuchs und Frau Elster auf mich ein. Mit Lesen ist es für mich nun definitiv vorbei - ich muss mich dem elektronischen Unterhaltungsprogramm eines Erziehungsberechtigten unterordnen. Einen Satz über die Erziehung von Kindern hatte ich vorhin noch bei Seneca gelesen: Es ist leicht die noch zarten Gemüter zu bilden, wohingegen sich Fehler, die mit uns herangewachsen sind, nur schwer ausrotten lassen. Als einstiger Erzieher des späteren Kaisers Nero dürfte Seneca sehr gut gewusst haben, was das bedeutet. - Und die Kinder der Kinder werden ihre Kinder später ebenso mit elektronischen Geräuschkulissen berieseln und abstumpfen lassen.
Welche Fehler sind mit mir herangewachsen? Einige habe ich erkannt, andere nicht. Manche gehören einfach zur Natur des Menschen, trotzdem will ich mich eigentlich immer bessern. Ich könnte damit gleich mal anfangen aufzuhören, immer besser wissen zu wollen, was für fremde Kinder gut ist... Zwar bin ich im Laufe der Jahre von Berufes wegen auch etwas Kinderversteher geworden und daher zu der Auffassung gelangt, dass Kinder viel kreativer sein könnten, wenn sie nicht dauernd "beschäftigt" oder "unterhalten" würden, schon gar nicht mit Berieselungsmedien und mit so vielem zugleich, aber hier - im Kleinkinderabteil des ICE - habe ich mich herauszuhalten. Ich könnte den Erziehungsberechtigten allerdings in meinem eigenen Interesse bitten, die elektronische Märchenberieselung abzuschalten. Aber wie stehe ich dann da? Als jemand, der Kindern im Kleinkinderabteil des ICE das Märchen wegnehmen will? Ganz böse würde das aussehen. Nein, das riskiere ich nicht. Ich übe mich in stoischer Gelassenheit, lasse mich zwangsweise von Herrn Fuchs und Frau Elster berieseln - statt von Seneca.
Die Moral von der Geschicht'
Am Ende der sechsstündigen Bahnfahrt bin ich sogar etwas eher als mit der ursprünglich gebuchten Bahnverbindung daheim - trotz der verfallenen Platzkarte konnte ich den größten Teil der Strecke entspannt sitzen, etwas lesen, etwas nachdenken. Was hat mich der Herbst am Rhein gelehrt? Der Oktober kann stürmisch sein, man kann vom Weg gefegt werden - unters Rad kommen. Ohne einen Ge-fährt-en zu reisen kann ge-fähr-lich sein, und doch ist das einsame Fahren die intensivste Er-fahr-ung, die eine Reise zu bieten hat. Auch wenn der Weise sich selbst genügt, möchte er trotzdem einen Freund haben, schrieb Seneca, sei es auch bloß, um sich als Freund zu üben und um eine so wichtige Fähigkeit nicht brachliegen zu lassen. Ich hatte Gelegenheit, zwei alte Freunde zu besuchen, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse aufzufrischen - zu reflektieren, was aus den Vorstellungen der Jugend geworden ist.
Was ist mit der Männerphantasie namens Loreley? Nüchtern betrachtet nicht mehr als ein großer grauer Fels ist? Heines Gedicht gehört zur schulischen Pflichtlektüre, man lernt es auswendig, trägt es vor der Klasse vor, erhält eine Zensur, darf sich wieder setzen... Und hat fürs Leben was gelernt? Dass es einen Dichter namens Heine gab, der ein Gedicht namens Loreley schrieb.
Ich wollte kein Museum besuchen, hatte nicht vor, umherrennenden Schulklassen auszuweichen, wollte kein neues Buch - wo ich doch schon kaum dazu kam, das mitgenommene Büchlein weiterzulesen. Wir verschwenden unseren Scharfsinn
an überflüssige Fragen, sie machen uns nicht besser, bloß gelehrter... Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir, bemerkte der weise Pädagoge Seneca. Schule war also schon vor 2000 Jahren ein gewagtes Unternehmen.
Unterwegs mit der Ukulele
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