Fototagebuch



Warten auf den Sommer

- Gedanken übers irische Nass -





Es gibt diesen Regen in Irland, wer aber hinradelt
und trotzdem mal Sonnenschein vorfindet, hat keine Ersatzansprüche
an den Verfasser der folgenden Ausführungen.

Die englischsprachige Bezeichnung für ein sehr häufiges irisches Wetterphänomen namens Regen ist: Irish Mist. Na, das sagt doch eigentlich schon alles: Regen ist Mist, auf alle Fälle bei einer Radreise. Irgendwas Nasses liegt in Irland fast immer in der Luft. Außer wenn es richtig regnet - aber dann regnet es eben und da weiß man, was man hat. Wenn jedoch der Küstenwind die Hänge hinaufpustet, wird die Schwerkraft vom Himmel fallender Wassertröpfchen auf mystische Weise aufgehoben. Die Tropfen halten sich dann so in der Schwebe, dass ich es mit einer Ansammlung von Regentropfen auf Augenhöhe zu tun bekomme. Dann starre ich nur noch in diese vor mir herumwuselnden Regentropfen.


Im auffrischenden kühlen Wind befindet sich Regen.*



Was das wichigste Thema einer jeden Irland-Reise betrifft - den Mist mit dem Regen, so neigt man als Irophilist im Allgemeinen und als Irland-Fan* im Besonderen zu verharmlosenden bis beschönigenden, teils poetisierenden und absurden, realitätsfernen, widersprüchlichen und geradezu den Kopf auf den Nagel treffenden Aussagen. Das ist verständlich, denn man möchte ja den Blick fürs irische Große und Ganze nicht mit prosaischen Ergüssen über einige - vielleicht gelegentlich mal vorkommende, nur ganz kurz anhaltende - Regengüsse verstellen.


Der Regen ist hier absolut, großartig und erschreckend.**

Auf der anderen Seite haben wir die kleinen Übertreibungen - als gäbe es überhaupt und einzig und allein und nirgendwo sonst eine Art von erschreckendem Regen, der dem irischen das Wasser reichen könnte. Anstatt einfach nur der kühlen und nassen Wahrheit ins Gesicht zu schauen, die da vom Atlantik herankreiselt, wird der Leser mit Attributen überhäuft, die ihm einreden, irischer Regen habe etwas Erhabenes oder Heroisches, etwas Überlegenes, etwas unwiderstehlich Anziehendes. Aber die Frage ist doch: Wo kommt dieses nasse Zeug überhaupt her? Wer schon mal über den kontinentalen Tellerrand europäischer Wettervorhersagen hinausgeblickt hat, weiß: Der Regen kommt von den atlantischen Tiefs, denen an der bergischen irischen Westküste gar nichts anderes übrig bleibt als ihre nasse Fracht abzuladen.

Manchmal ähneln diese Wirbel dem Hinterkopf eines Mannes,
dessen dichtes graues Haar sich kreisförmig ausbreitet
und hinter den Ohren verschwindet.***


Sich kreisförmig ausbreitendes Haar auf dem Hinterkopf eines Mannes? Als Friseur hat man das gewiss schon gesehen. Dichterischer Kreativität zur Beschreibung von irischem Regen sind keine Grenzen gesetzt. Auf dem europäischen Festland hat es sich meist ausgekreiselt und ausgewirbelt. Man sieht ein dickes Wolkenband auf der Wetterkarte und weiß: Morgen ist es hier und übermorgen vorbei - wenn nicht übermorgen, dann überübermorgen. An der irischen Küste kreiselt es und die Westwaliser und die Südschotten können nur froh sein, dass ihnen die grüne Insel im Westen den größten Teil schon abgenommen hat.

"Auch in Irland", schreibt der Autor eines Radreisebüchleins aus dem Jahre 2006 - und der müsste es eigentlich besser wissen - seien "die Auswirkungen des globalen Klimawandels zu spüren. Schönwetterperioden mit viel Sonnenschein und Temperaturen von über 30 °C sind im Sommer keine Seltenheit mehr." Spricht der Mann wirklich von Irland? Ja, das haben mir auch andere Reisende schon erzählt. Als ich selbst das erste Mal in Irland war (1993 am Lough Derg, County Clare) wurde ich zwei Wochen lang mit schönstem Frühlingswetter verwöhnt - und das in einer Jahreszeit, in der April macht, was er will!

Mit etwas Glück erwischt man also ein beständiges Hochdruckgebiet auch an den eher regnerischen irischen Küsten. Deshalb, so untermauert der "Irland RadReiseBuch"-Autor, ziehe es nun "sogar immer mehr spanische und italienische Touristen in das Land im hohen Nordwesten Europas."
Die längste "Schönwetterperiode", die mir im Sommer 2015 in meinen 35 Tagen Radrundfahrt um die gesamte Insel zuteil wurde, dauerte etwa 24 Stunden... Ein Tag ohne Regen. Einer von 35.

Mitte Juli sagte mir eine Irin frei heraus: "We're still waiting for the summer..." Wir warten noch auf den Sommer. Während die Menschen in Mitteleuropa wochenlang unter der Hitze stöhnten, hatte ich mir offenbar gerade den regnerischsten Winkel Europas zum Radeln ausgesucht. Dabei hatte ich die ersten beiden Tage noch ziemlich Glück, Anfangsglück könnte man sagen. Im "Sunny South East", wie der irische Südosten neidisch mit etwas Neid genannt wird, kommt von den Regenwolken, die sich an den Bergen der Atlantikküste stapeln, deutlich weniger an - bis ins südöstliche County Wexford hat sich das meiste Nasse abgeregnet. Aber schon zwei Tagesetappen nach Westen hinüber geht es los. Die Begrüßung einer Postfrau im schönen Küstenort Aird Mhor an der Copper Coast im County Waterford hätte mich stutzig machen können - sie sagte zu jedem Kunden: "What a lovely day!" - Ich fragte mich: Was soll an diesem Tag so lieblich sein, dass man darüber Worte verlieren müsste?

In den kommenden Tag fing ich an zu verstehen, dass ein paar Stunden blauer Himmel und weiße Schäfchenwolken durchaus sehr lovely und jedenfalls keinerlei sommerliche Selbstverständlichkeiten sind. Am River Lee, zwischen Cork und Inchigeelah, lerne ich die Momente des Nichtregnens immer mehr zu schätzen. Ansonsten lerne ich die sich im Schoße meines Regencapes sammelnden Wassermengen während des Weiterradelns abzukippen. Und ich gewann dabei die Einsicht, dass eine gleichzeitige Windböe mir das abgekippte Wasser umgehend auf Augenhöhe transportiert, von wo sie sich teils als Wasserfall in meinen Kragen ergoss, während der Rest wieder dort sammelte, wo ich ihn loswerden wollte - im knallroten Regencape zwischen meinen Armen. Ich war klatschnass und begann am Nutzen des Regencapes zu zweifeln. Erholung boten Momente von purem Sonnenschein, etwa in Glengarriff - auf dem Weg zum Ring of Beara.

Bis auf einen einzigen, durchgängig sonnigen Tag, der mich bei meiner Radelei an der Südküste von Dingle bis in den westlichsten Zipfel Irlands verwöhnte, änderte sich anm Warten auf den Sommer nicht viel. Das regnerische bis völlig verregnete, feuchte bis völlig nasse, windige bis stürmische Wetter hielt mir bis in den August hinein die Treue. Erst als ich die nasse Insel fast vollständig umrundet hatte und in den sonnigen Südosten zurückkam, erlebte ich wieder einen überwiegend regenfreien Tag.

Auch im Black Valley gab es immer mal Momente von Nichtregen. Doch wenn die Regenwolken aufzogen, wirkte das Tal noch schwärzer, als sein Name versprach. Wie ich an einer kleinen Kirche halte, kommen zwei Frauen heraus und sehen mich zögern, ob ich mich vielleicht etwas unterstellen oder weiterfahren sollte. Eine der beiden sagt, ich solle hineingehen, man könnte sich drinnen was wünschen und das ginge dann in Erfüllung. Nie zuvor gelang es einer Frau, mir den Glauben an das Unmögliche mit so knappen Worten nahe zu bringen. Und ja, es funktionierte sogar! Na, ja, ein bisschen jedenfalls. Dann regnete es wieder.

Immer wieder blickte ich auf das Kirchlein hinab, wo ich meinen sehnlichsten Wunsch aussprach, erbat, erbetete. Ich schnaufe die letzten Meter zum Gap of Dunloe hinauf - zumindest hoffe ich, dass der Pass nach der Kurve überwunden ist. Dass mir die Regentropfen hier plötzlich in einem anderen Winkel um die Ohren pfeifen, deute ich optimistisch als Gipfelnähe. Wenn man sein Rad schnaufend durch den Regen schiebt, deutet man andauernd die geringsten Veränderungen: Komm schon, es ist gleich überstanden, ruft die Kurve. Dann wird der Regen schon aufhören. Die Kraft, die in einer nicht einsehbaren Kurve steckt, ist eine Durchhalteparolen. Statt des erlösenden Gipfels, statt des Wind- und Regenschattens, auf den ich hoffe, kommt eine hübsche junge Radlerin um die Kurve geflogen. Sie ruft mir zu: What a lovely day, isn't it... Ist es Spott, Mitleid, Aufmunterung? Ich glaube, einen derartig kessen Spruch bekommt nur eine wachechte Irin über die Lippen. Und dabei lächelt sie noch. Ich blicke ihr nach und schon
schon ist sie hinter der nächsten Kurve entschwunden.


Diesen Regen schlechtes Wetter zu nennen,
ist so unangemessen,
wie es unangemessen ist, den brennenden Sonnenschein schönes Wetter zu nennen.**


Beim Thema Regen kann jeder Irland-Reisende mitreden. Auf dem Sattel eines Fahrrades Wind und Wetter die Stirn bieten, tagelang, wochenlang, das ist noch etwas anderes. Denn wenn dir der Regen ins Gesicht pieselt, empfindest du jeden Satz, den Nichtradler über den Regen in Irland zu schreiben wussten, als beschönigend. Im Kontrast dazu spricht eine irische Tageszeitung Tacheles, sie verspricht "the worst of the bad weather" - das Schlimmste vom schlechten Wetter. Während Dublin und der Osten nicht ganz so hart getroffen werde, erwarte den Westen und Nordwesten "the brunt of the heaviest and most persistent rainfall" - die Hauptlast der schwersten und hartnäckigsten Niederschläge... Im Westen und Nordwesten also, sososo - ich bin in Mayo und will nach Donegal, mehr Westen und Nordwesten geht in Irland nicht.

Ich bin fassungslos! Ich studiere den Artikel bis zur letzten Zeile - was bleibt mir anderes übrig, als irgendwo nach einem Schimmer von Hoffnung zu suchen. It's going to be very showery at the start of the week - es wird sehr regnerisch zum Beginn der Woche, wird der Mann vom Wetterdienst zitiert. Was ist heute? Samstag, aha - demnach ist der Dauerregen, den ich heute erlebe, nur ein Vorgeschmack auf die kommenden Tage. Passing showers - vorüberziehende Schauer? Man hüte sich, showers mit Schauer zu übersetzen - gemeint sind Güsse wie die unter einem Brausekopf in der Duschkabine. And some of them will be heavy on Monday and Tuesday - und manche davon werden heftig am Montag und Dienstag, with the possibility of thunder - mit der Wahrscheinlichkeit von Gewitter. Gibt es ein Entkommen?

Was soll ich machen? Mich eine Woche in einem Kaff von West-Mayo einquartieren und in einem Pub stricken lernen? In Heinrich Bölls Irland-Tagebuch las ich, dass Irinnen das Wetter gelassen nehmen und in Gegenwart ihrer Pfeife rauchenden und Whisky trinkenden Männer Pullover stricken. Eh ich mir mit einer Stricknadel ins Auge steche, fahre ich lieber weiter. Noch regnet es nur! Was  kann mir da schon passieren? Ich bin schon klatschnass - nasser kann ich nicht werden.


Man kann diesen Regen schlechtes Wetter nennen, aber er ist es nicht.
Er ist einfach Wetter, und Wetter ist Unwetter.
Nachdrücklich erinnert er daran, 
dass sein Element das Wasser ist,
fallendes Wasser.**


Darauf, dass Regen nichts anderes als fallendes Wasser sei, kann man eigentlich nur kommen, solange man den Regen in einem trockenen Zimmerchen aussitzen und zum Zeitvertreib gemütlich dichten kann - etwa in einem Pub, wo die "Zunge einer Pfütze zur Tür hereinschlängelt." Ansonsten sei es gut, schreibt Böll,
"immer Kerzen, die Bibel und ein wenig Whisky im Hause zu haben, wie Seeleute, die auf Sturm gefasst sind; dazu ein Kartenspiel, Tabak..." Nicht zu vergessen: "Stricknadeln und Wolle für die Frauen, denn der Sturm hat viel Atem, der Regen hat viel Wasser, und die Nacht ist lang." Wie wahr, wie wahr! Was Böll nicht ahnt: Auch ein Tag draußen auf dem Rad hat viel Atem. Draußen, mit Wind und Regen, ist die Bibel schnell nass und aufgeweicht. Man kann ja noch nicht einmal das "RadReiseBuch" oder eine Straßenkarte aufschlagen! Gewiss, man kann es versuchen, aber danach ist sie unbrauchbar.

Regen ist nicht gleich Regen. Da sollte man, wie es Hugo Hamilton versucht, klar und gründlich differenzieren: "Es gibt Nebelregen." - Ja, den gibt es - so was in der Art, ich nannte es bisher Nieseln. Aber was, zum Kuckuck, soll jetzt "Irokesen-Regen" sein? Eine Art Regen, bei dem einem die Haare zu Berge stehen? Ja, so ähnlich könnte es gemeint sein. "Regen mit Locken wie auf einer Rinderstirn"... Hat bitte mal jemand ein Foto von einer im irischen Regen geformten Rinderstirnenlocke zur Hand? "Regen, der über eine trockene, kahle Stelle peitscht." Klar, den gibt es - wahrscheinlich nicht nur in Irland. "Regen, der vom Wind oben gehalten wird und nicht fallen will." Hoffentlich träume ich heute Nacht nicht von Regen, der über mir in der Luft gehalten wird!

Als Feldforscher in Sachen irischer Regen gehe ich mal ganz kühl an die nasse Materie heran: Empirisch gesehen gibt es eigentlich nur zwei Arten von Regen - temporäre Güsse und nicht enden wollender Dauerregen. Zur ersten Kategorie zähle ich die kurze Husche (KuHu, bis 10 Minuten), die mittlere Husche (MiHu, bis 30 Minuten) und die lange Husche (LaHu, bis 60 Minuten), über diese drei muss man nicht weiter reden, sie können täglich ein, zwei Dutzend Male auftreten, das bedeutet mehr oder minder stark vor sich hin tröpfelndes Nass oder auch mal eine kalte Dusche. Dazwischen können sich Momente von Nichtregen und Episödchen von Sonnenschein
ereignen. Zum Dauerregen gibt es eigentlich auch nicht viel zu sagen, der dauert halt - zwei Stunden, drei Stunden, vier, fünf, sechs Stunden. Oder länger.

Garstig wird es, sobald sich der Wind dazugesellt - zum Beispiel Fallwinde in den Gebirgspässen. Da wedelt dir das Regencape um die Hüften wie das Kleidchen von Marylin Monroe auf dem U-Bahn-Schacht. Einmal freute ich mich nach längerem Anstieg auf eine schnurgerade Abfahrt zur Küste hinab, doch der atlantische Äolos blies mir so stark gegens Knie, dass ich trotz des Gefälles pedalieren musste, um nicht rückwärts den Berg hinauf geschoben zu werden! An der Küste bekam ich die Böen von der Seite und stieg vorsichtshalber von meinem hohen Ross herunter.

Das interessanteste Phänomen ist jedoch treffend mit dem Begriff "Four Winds" beschrieben, so sind in diesen Gefilden einige Herbergen benannt. Beim Vier-Winde-Regen (ViWiRe) kommen die Böen entweder aus allen Himmelsrichtungen rasch abwechselnd, das macht sie völlig unberechenbar - m Extremfall kommen die Winde aus allen Richtungen zugleich. Dann hilft nur noch: Das Rad flach auf den Acker legen, sich selbst drauflegen, in die Speichen krallen, festhalten, warten, warten, warten, um nicht wie Hans Guck-in-die-Luft von dannen geblasen zu werden.


Ich habe Menschen von feuchtem Regen sprechen hören,
von weichem Regen und hartem Regen, von pissendem Regen

und penetranten Regen.***


Feuchter Regen? Weicher Regen, harter Regen - Firlefanz, Schreibtischphantasien! Pisswetter ist schon das treffendste Wort. Als Radfahrer weiß man nicht nur vom Sprechenhören, wie penetrant Regen sein kann, sondern man bekommt die Pisse manchmal direkt ins Gesicht penetriert. Wenn einem der Wind die Tropfen in die Nasenlöcher drückt, muss man durch den Mund atmen - aber dazu muss man dann wieder den Mund öffnen und dauernd Regen zu trinken, löst das Problem auch nicht.

Ich rede von Regen, von Wasser, von H2O. Ich sinniere über einen Aggregatzustand. Flüssig fühlt Wasser sich besonders nass an. Das englische Wort für nass (wet) ist die erste Silbe des deutschen Wortes Wetter, das sollte zu denken geben. In Bölls "Betrachtungen über den irischen Regen" kommt das Wort "nass" kein einziges Mal vor - kein einziges Mal! Und im gesamten Irischen Tagebuch taucht das Wort gerade achtmal auf. Zum Vergleich: Zigarette taucht darin 39mal auf, Whiskey 27mal... Auch in Hamiltons gleichnamigen Essay über den irischen Regen ist das schlichte Wörtlein "nass" nicht zu finden. Nein, das stimmt nicht ganz - immerhin lese ich einmal: "Zum Iren gehört es, dass er klitschnass wird."***

Während meiner Anreise nach Irland erlebte ich im walisischen Swansea einen Guss, der könnte es mit jedem verdammten Guss sonstwo auf der Welt aufnehmen, auch mit einem irischen. Ich quälte mich gerade einen Berg hinauf zu einem Ort mit vielen L im Namen, zwei davon gleich am Anfang - ich meine ohne Vokale dazwischen! Es war finster und es goss sintflutartig. Es goss die ganze Nacht und es zwang mich zur Umkehr - zum Bahnhof, wo ich den Rest der Nacht auszuharren vorzog, nass biss auf die Knochen - mehr zu diesem nassen Vorzeichen meiner Reise findet sich in meinem
Irischen Fahrtenbuch.

Manchmal erfährt man gar nicht, wie das Wetter in Irland ist,
weil einige Fernsehsender in Großbritannien immer noch glauben,
es halte an der Grenze Nordirlands, ungefähr so, wie das Wetter
früher hinter der anderen Seite der Berliner Mauer verschwand.
"***

Politik hat zweifellos auch irgendwie Einfluss aufs Wetter - oder wenigstens auf das, was man davon erfährt. Wenn man als deutsch-irischer Schriftsteller in Zeiten von Sateliten-Übertragungen und Internet auf den Spuren Bölls durch Irland reist, hätte man neben dem Wetterbericht der übrigen britischen Sender einfach den des irischen Fernsehens empfangen können. Auf der anderen Seite der Mauer gab es jedenfalls "Westfernsehen", ab Ende 1990 sogar bis ins Dresdner Tal der Ahnungslosen. Dass es auf der grünen Insel öfters regnet, hatte sich allerdings allerorten auch schon vorher herumgesprochen.


Und wieviel Wasser sammelt sich über viertausend Kilometer Ozean,
Wasser, das sich freut, endlich Menschen, endlich festes Land erreicht zu haben,
nachdem es so lange nur immer ins Wasser, nur in sich selbst fiel.
Kann es dem Regen schließlich Spaß machen, nur immer ins Wasser zu fallen?**

Nein, immer nur in sich selbst zu fallen, das wäre auf die Dauer langweilig - dem Regen macht es gewiss einen Heidenspaß, radfahrende Aktivurlauber zu durchnässen... Ihm, dem Regen, menschliche Eigenschaften und Sehnsüchte anzudichten - Lüste und Früste - ist wunderbar metaphorisch. Hamilton wandelt Bölls Ergüsse über den Spaß an der Freude des Regens ein wenig ab: "Der vom Ozean kommende Regen ist froh, nach einer so langen Seereise endlich auf Land zu stoßen. Hier fühlt er sich heimisch und trommelt aus Leibeskräften auf die Häuser."*** Ach, ja, man kann sich den Regen wahrlich schöndichten. Auf dem Regencape eines Radlers fühlt sich das Trommeln des Regens nur ein klein wenig weniger schön an.

Schon bei einer KuHu, spätestens bei der MiHu dringt das Nass durchs Regencape - zuerst durch das Loch fürs Gesicht, dann auch durch Nähte an Ärmeln und Taschen. Das Pedalieren erzeugt eine gewisse Wärme, alsbald dampft es unter dem Cape wie im Gewächshaus. Im Cape verteilt sich das durchgesickerte Nass und mischt sich mit den kondensierten Ausdünstungen - sodann klebt das Ganze auf den nackten Armen und Händen.

Schauen wir uns die - aus Sicht ihrer Hersteller erwähnenswürdigen - Vorzüge eines Regenponchos der Marke "Deluxe" mal im Detail an: "Nylon mit PU-Beschichtung" - bei windfreiem Nieselwetter bleibt man tatsächlich für ein Weilchen trocken. Die angeblich so wichtigen "Reflektorstreifen" verleihem dem Radler die Anmut eines fahrenden Verkehrsschildes. Die "universelle Größe" macht alle Menschen gleich groß, gleich lang, gleich breit - dank Regenponcho Deluxe werden alle Radler Brüder im Geiste. Die "Kapuze mit seitlichen Sichtfenstern und Kordelzug" hält im Wind, solange man sie so eng zukordelt, dass nur noch die Nase im Freien bleibt. "Reißverschluß mit Windschutz" und "2 Halteschlaufen innen" und "Durchgrifföffnungen mit Klettverschluß"und "große Außentasche" - vermutlich zum langsameren Einweichen der Straßenkarte und anderen Dingen aus Papier, die man jederzeit mit nassen Händen anfassen möchte. Dazu "mit Reißverschluß und Regenabdeckung" - schön für den Reißverschluss! Doch das Allerbeste zum Schluss: "waschbar bis 40 °C". Es darf bezweifelt werden, das dieses "Deluxe"-Produkt vor dem Verkauf von keinem Radler getestet wurde. Eines meiner Capes entsorgte ich vorschriftsmäßig, eine Regenjacke hatte ich in Reserve, einen Regenmantel erwarb ich in Dublin dazu.

Der "Wild Atlantic Way", der sich an der gesamten Westküste Irlands entlangwindet, heißt nicht ohne Grund "wild". Atlantischen Tiefs kreiseln an Irlands Küsten mit wilder Lust am wilden Kreiseln. Statistisch gesehen sind von 31 Julitagen sage und schreibe 24 Regentage, auch im August ist das nicht viel anders, nur die Regenmenge ist dann noch etwas größer. Im Wesentlichen ähneln sich die Zahlen in den übrigen Monaten. Zum Vergleich, Dresden hat in den Sommermonaten nur 9 bis 10 Regentage, selbst die regenreichsten Städte Deutschlands überbieten das nur um einen Tag. Also, ja, Irland ist eine regenreiche Insel. Punkt.

Ich war in einem besonderen Sommer in Irland, im Sommer, 2015, der auf Irland so viel Regen regnen ließ, dass fürs europäische Festland, wo sämtliche Hitzerekorde seit dem Beginn der Aufzeichnungen gebrochen wurden, kaum noch Wasser übrig blieb. Aber es gab Momente und manchmal Stunden, die waren so was von lovely, dass ich die schönsten Bilderbuch-Fotos machen konnte.


An einem verregneten Nachmittag "in Dublin's fair city where the girls are so pretty" besuche ich die National Gallery of Ireland. Am Souvenirstand am Ausgang fällt mir neben einem Bändchen Yeats-Gedichte im radreisetauglichen Westentaschenformat ein Buch zum wichtigsten aller irischen Themen in die Augen: LOOKS LIKE RAIN - 9,000 Years of Irish Weather. Ich blättere ein wenig darin und bekomme einen Eindruck davon, wie sehr die Geschichte Irlands vom Wetter  - "generally bad" - geprägt war und wie dieser nasse Umstand Mitte des 19. Jahrhunderts die katastrophale Kartoffelfäulnis herbeiführte. Ich lese weiter, dass irische Meteorologen ihre Vorhersage für den nächsten Tag aufs gesamte übrige Jahr übertragen könnten! Und dass Oliver Cromwell mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Mückenstich starb. Als grausamer Eroberer Irlands an einem Mückenstich erlegen gestorben... Armer Cromwell! Leider ist das Hardcover-Buch 20 cm hoch, 13 cm breit, 3 cm dick - also von allem zu viel fürs minimalistische Radlergepäck.

Dass die Geschichte Irlands ohne Cromwell, besonders aber ohne Regen, einen anderen Lauf genommen hätte, ist naheliegend. Irgendwann ist auch ein Feldherrenhügel mal durchgeweicht und dann wollen alle Krieger nur noch ins heimische Pub. - "Der Regen kann tagelang fallen, aber erhöht das nicht den Wert der guten Tage? fragt Hamilton. Das könnte ich unterschreiben. Ist dieser gelegentlich von Nichtregen unterbrochene Dauerregen "nicht der Grund, weshalb die Iren den fehlenden Sonnenschein seit jeher durch Musik, Geschichten und Volksaufstände ersetzt haben?"

Der Osteraufstand von 1916 jährt sich 2016 zum 100. von ein paar frisch mit Kugeln durchsiebten Verkehrsschildern an Antrims schöner Küste muss man sich heute nicht beeindrucken lassen. Auch durch Derry und Belfast kann man heute gefahrlos spazieren. Nur am Wetter hat sich vieleicht seit 100 oder gar 9000 Jahren nichts geändert. Und so wird Irland wohl noch lange die grüne Insel bleiben, die wir so sehr umschwärmen und allen Schauern zum Trotze bereisen und beradeln.

Was mich nicht nasser macht, macht mich trocknener.


An dieser Stelle überlege ich, was berühmte Autoren über den irischen Regen gesagt hätten, wenn sie ihn erlebt hätten. Zum Beispiel Rilke: Du musst den irischen Regen nicht verstehen. - Mark Twain: Der irische Regen ist bei weitem nicht so schlimm, wie man über ihn erzählt, solange er nur in Irland bleibt und irische Köpfe beregnet. - Ebenso Woody Allen: Ich habe keine Angst vor dem irischen Regen, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn er regnet. - Nietzsche wäre ohne Zweifel zu der Schlussfolgerung gekommen: Wenn du nach Irland gehst, vergiss den Regenschirm nicht!- Descartes: Ich werde nass, also regnet es. - Knifflig wird es bei Sloterdyk: Nichts kann den in und um Irland herum zirkulierenden Velopedalisten zwingen, regnerische Monaden auf seinsphilosophische Hochlagen zu beschränken...


Auch das steht fest: Ohne Regen gäbe es keine Philosophie! Wer denkt schon über das Nichtsein nach, hätte er angesichts einer Woche Regens nicht auch den Wunsch danach! Plus Müßigang und Griesgrämigkeit dafür. Niemand käme auf die Idee, Betrachtungen über den irischen Regen anzustellen, wäre die Welt nur voller Sonnenschein. Statt der Wolken hätte die Natur unterirdische Bewässerungssysteme hervorbringen können - eine Million über die gesamte Erde verstreute Meteorologen müssten dann arbeiten gehen! Der einsam durch die Welt radelnde Pedalritter bewertet nicht, was ihm auf den Kopf fällt, was ihm ins Gesicht peitscht, was ihm den Nacken hinuntersuppt. Und wenn ihm die Nässe noch so die Waden und Schenkel hinauf und bis in den Schritt kriecht: er jammert nicht, er nörgelt nicht! Kein Seufzen und kein Maunzen ist von seinen Lippen zu vernehmen. Der wahre Held der Straßen verachtet das Postkartenblau.






Obligatorisches:
* Norbert Kulawik: Tagebuch 2014> irlandfan.de
** Heinrich Böll: Irisches Tagebuch; 1957
*** Hugo Hamilton: Die redselige Insel. Irisches Tagebuch; 2007

Ethnographisches:
Tomás O'Crohan: Die Boote fahren nicht mehr aus. Bericht eines irischen Fischers; 1983

Geschichtsmeteorologisches:
Damian Corless: Looks like rain - 9,000 Years of Irish Weather; 2013

Velopedalistisches:
> Key Wewior: Das Irland RadReiseBuch. Ein Fahrrad-Tourenführer; 2006/2008 - übersichtliche Streckenbeschreibungen, sämtliche Angaben zu Unterkünften etc. sind jedoch hoffnungslos veraltet - auch deshalb empfiehlt sich noch was...

Eigenes:
> Irisches Bilderbuch - gut 200 Fotos
> Irisches Fahrtenbuch - gut 200 Sätze

Sonstiges:
> Unterwegs mit der Ukulele


alles-uke.de