In
der Dresdner Heide wie in den Wäldern der Westlausitz ist die
spätsommerliche Wärme gut zu ertragen, auf den Waldwegen künden einige
Pfützen von den Regenfällen der vergangenen Woche. Die Strecke zwischen
Radeberg, Pulsnitz und Kamenz wartet mit gut ausgebauten Radwegen auf.
In den hübschen kleinen Städten fehlen bisweilen Schilder und ich muss
mich durchfragen. Dieses Durchfragen führt zu Begegnungen mit Jung und
Alt. Bezüglich Ortskenntnis traue ich eher der Generation, die noch
ohne Navigationsgarät, ohne GPS, ins nächste Dorf findet. Die Auskunft
einer jungen Frau, und sei sie noch so abwegig, hat andere Qualitäten -
für ein schönes Lächeln fahre ich gern einmal im Kreise. Manchmal
entdeckt man auf den Umwegen interessantere Nebensächlichkeiten als auf
dem direkten Weg. Letztendlich gewinne ich die schöne Einsicht: Das
Leben ist die Summe aller kleinen und großen Umwege.
Kurz hinter Kamenz heißt kurz vor dem Frosch-Radweg. Der dürfte dann ausgeschildert sein. Doch hier muss ich noch auf eine überregionale Radwanderkarte schauen, die mit einem Maßstab von 1 zu 100.000 nur grobe Orientierung ermöglicht. Da kommt mir, wie gerufen, eine schöne Blonde im wehenden Flowerpower-Kleid entgegengeradelt. Ich winke ihr, damit sie anhält. Während sie die Topografie meine Karte studiert, studiere ich die Topografie ihrer Schultern. Die riesige, braun getönte, von außen undurchsichtige Jannis-Joplin-Sonnenbrille auf ihrer Nase verdeckt ihr halbes Gesicht. Ich habe keine Chance, ihre Augen zu ergründen. Sie erklärt mir einige Alternativen, zum nahen Frosch-Radweg zu gelangen. Ihre Stimme, vermutlich vom Qualm ungezählter Glimmstängel angeraut, klingt wie Musik in meinen Ohren, passt zur J.J.-Sonnenbrille. Vermutlich hat sie nebenher mein Gepäck analysiert, mein Zelt auf dem Gepäckträger ist nicht zu übersehen. Sie bekundet einiges Interesse an meinem Gesamtvorhaben. Vielleicht hätte ich sie einladen sollen, mich zu begleiten? Auf den schamlosen Einfall komme ich erst, als ich wieder in die Pedale trete... Ob sie denn wohl so spontan gewesen wäre? Mal eben schnell nachhause radeln, die Zahnbürste holen, um dann den Flügelschlägen des Silberreihers zu folgen? - Keine Fragen, keine Namen, nur ein saisonaler Wochenendausflug - so was gibt es nur im Kino.
Am Ortseingang von Hoyerswerda finde ich einen kleinen Getränkerkiosk, wo ich mir Wassernachschub besorgen könnte. Ich fahre direkt an die Theke. Doch ein alter Mann, der mit seinem großen Traumwagen in der Hofeinfahrt steht, herrscht mich an: Raus mit dem Rad! Ich frage: Wie bitte? Er wiederholt befehlsartig: Draußen abstellen!!! Der Verkäufer kommt gerade aus einem Winkel seines Ladens nach vorn - keine Ahnung, ob die beiden was miteinander zu schaffen haben, es wäre nahelieiegend. Vielleicht hätte ich den alten Sack fragen sollen, wer er ist, und was ihm einfällt, mich in diesem Tonfall anzusprechen! Aber wozu? Seine "heilen Welten" gingen vor einem Vierteljahrhundert den Bach runter, niemand kann sie ihm zurückbringen... Er steht mir im Weg, ich rangiere auf engstem Raum, um an ihm vorbeizukommen, und mache mich wieder in die Spur - ohne getankt zu haben.
Am Stadtausgang erklärt mir ein junges Mädchen, wie ich Hoyerswerda zu durchqueren habe, um wieder zum Radweg zu gelangen. Na, wenigstens versucht sie es. Wahrscheinlich ist es von diesem Standort aus kompliziert zu erklären. Was kann sie bei mir voraussetzen? Ob ich wüsste, wie man zum Zoo käme. Danach müsse ich nämlich rechts rum. Nein, weiß ich nicht. Woher soll ich wissen, wo in Hoywoy der Zoo ist. Den Zoo finde ich ohne weiteres. Dennoch verfahre ich mich bald darauf erneut. Ich frage ein aus der Gegenrichtung heranradelndes Rentnerpärchen. Da müsse ich nur umdrehen und ihnen folgen. Sie lotsen mich bis zum Scheibesee und nach Burg, während der gemeinsamen Strecke plaudern wir über dies und das und wo man sonst schon herumgekommen ist im Leben. Hinter Burgneudorf gerate ich schon wieder von der Strecke ab, ich lande in Spreewitz. Vor einem Reihenhaus pflegen deren Bewohner ihren Rasen. Freundlich erklären sie mir, wie ich wieder zum Frosch-Radweg komme: quer durch den Wald und am letzten Baum nach links.
Im Wald, auf recht holpriger Strecke, lasse ich zwei junge Radlerinnen überholen. Als der Weg wieder besser befahrbar ist, hole ich sie ein. Wollt ihr auch zum Zeltplatz? Nein, nachhause: Wir kommen von der Ostseeinsel Poel, heimwärts auf dem Elbe-Radweg. Da haben die beiden also ne riesige Tour hinter sich, und auf der haben sie - wie ich auf meiner Irland-Fahrt - einige Pfunde abgespeckt. Ich könnte sie ermutigen, im nächsten Sommer weitere Touren dieser Art zu unternehmen, aber es ist besser, ich ermutige nur mich selbst... Der Zeltplatz am Halbendorfer See sei schön, behauptet eine der beiden. Dann will ich mich beeilen, damit ich noch vor der Dämmerung dort ankomme, und fahre wieder schneller. Nach den 100 Kilometern, die ich heute schon hinter mir habe, wird der Sattel jetzt ziemlich hart. Aber was soll's: Jeder Tritt macht fit.
Da
Ferien und Hauptsaison vorüber sind, ist der Zeltplatz nur noch dünn
bevölkert. Die Rezeption ist kurz vor 8 bereits geschlossen, ich suche
mir ein abgelegenes Fleckchen, ganz am Ende des Platzes, direkt am
Ufer. Nachts wird es recht windig, zeitweise stürmisch. Der Mond ist
aufgegangen, doch keine goldnen Sternlein prangen. Er leuchtet fast mit
ganzer Fläche und überstrahlt das Schwarz des Firmaments. Wie er über
dem See aufsteigt und sich im Wasser spiegelt, wird die Nacht noch
heller. Ich sitze noch lange auf der Bank am Ufer, öffne ein Fläschlein
Wein, und beobachte das Flimmern auf dem See - auf meiner fünfwöchigen
Tour durch Irland erlebte ich nur einen einzigen vergleichbar lauen
Abend. Nun bekomme ich doch noch etwas Sommer nachgereicht, schön ist
das. Mehr Romantik geht nicht. Oder nur im Kino...
28. August
Der
kompensatorische Ausgleich der regnerischen Morgenstunde: Ich muss
weder den Kromlauer noch den Muskauer Park mit Reisegruppen oder
anderen Nervensägen teilen, sondern nur mit den Motorsägen der
fleißigen Gärtner... Doch die verachten bei allem Werkeln auch die Ruhe
nicht und lassen sich ihre Zigarettenpäuschen nicht nehmen. Aber das
liegt mutmaßlich "am allermeisten an der Wendischen Faulheit, die
lieber hungert als für sich und andere arbeitet..." schrieb der "tolle
Pückler", dessen unerhört voller Terminkalender seinesgleichen sucht...
Ein
Schöngeist, ein Kavaliier, ein galanter Egomane ist der "tolle Pückler"
- ein mit allen Privilegien seines Standes und seiner Zeit gewappneter
Schürzenjäger. Mögen seine zwangsverheirateten Eltern ihrem eigenen
Zögling auch wenig Zuwendung geschenkt haben - im Alter von 7 bekommt
der renitente Bub' bei den Herrenhutern in Uhyst die Leviten gelesen -,
ein Kind von Traurigkeit wurde der Fürst deshalb, wohl gerade deshalb,
nicht. Im "Frauenzimmer" der Pückler-Ausstellung, das sich seiner
geliebten "Schnucke" und den angehimmelten Nebenfrauen widmet, gibt es
einen Briefomat, dort erhält man nach Auswahl vorgegebener Kriterien
auf Knopfdruck einen fürstlichen "Liebesbrief". Galante Korrespondenzen
waren fester Bestandteil des fürstlichen Gärtnerdaseins. Wie kann man
auch die Schmeicheleien eines Mannes verschmähen, der es fertigbringt,
seiner angetrauten "Schnucke" zu versichern, dass es der fürstlichen
Liebe keinerlei Abbruch tue, wenn er zur Aufbesserung der fürstlichen
Finanzen mal ein paar Jahre im britischen Königreich nach einer guten
Partie Ausschau halte?
Seine
in ungezählten Schmachtbriefen erprobte Fähigkeit, Eindrücke und
Erlebnisse mit blumigen Worten zu schildern, macht ihn zum
erfolgreichen Reiseschriftsteller - die Nachfrage gelangweilter
Bürgersfrauen nach süffisanten Reiseepisoden eines deutschen Paschas
dürfte zum Ausklang der Romantik im Zenit gestanden haben. In
politisch-weltanschaulichen Fragen offener als es seinem Stande gemäß
ist (Pückler erkennt die Ausbeutung Irlands durch das britische Empire
als Grund für die Armut und Rückständigkeit der gälischen Bevölkerung
und begeistert sich für die Ansichten der utopischen Sozialisten), kann
er für den "bunten Spaziergang durch die Welt", der ihm dennoch
vergönnt ist, nur dankbar sein...
Es sind die tiefsinnigen Sprüche, die es mir angetan haben - die kleinen Weisheiten, die schmeichlerischen und poetischen Zeilen, Gedanken zwischen Hochmuth und Demut, mal bissig ironisch, selbstironisch, mal einfühlsam, mal standesgemäß selbstgefällig. Beim Verlassen des Ladens habe ich - im völligen Widerspruch zu meiner velophil begrenzten Transportkapazität - drei Bücher im Gepäck! Und eine CD, die ich verschenken will. Und eine Radwegkarte der Niederlaussitz, die auch den Weg zum Branitzer Park, dem fürstlichen Zweitwohnsitz, kennt. Die Lektüre der Bücher mag meinen ersten oberflächlichen Eindruck von der zwielichtigen Persönlichkleit jenes Mannes, dem Bad Muskau heute so manchen Arbeitsplatz, Unesco-Weltkulturerbe-Status und Kurtaxe verdankt, revidieren oder vertiefen. In jedem Fall wird die radfreie Winterszeit damit schnelll vergehen.
Das
Pücklersche Gartenreich, heute durch die Neiße-Grenze in einen
deutschen und einen polnischen Teil zerschnitten, ist wieder so
gepflegt und gehegt wie zu besten Zeiten "wendischer Faulheit". Wegen
des heutigen Nieselwetters ist es jedoch wenig verlockend, den Park zu
erforschen - bei Nieselregen macht es einfach keine Freude, über die
Schotterwege zu schlürfen. Wie gut, dass Bad Muskau nicht nur am
Frosch-Radweg, sondern auch am Neiße-Oder-Radweg liegt - der steht noch
auf meiner Radler-Agenda. Also soll des Fürsten Wunsch, wer ihn kennen
lernen wolle, müsse seinen Garten kennen, eine zweite Gelegenheit
erhalten - dann hoffentlich bei Sonnenschein.
Das vergnügliche Radeln über die asphaltierten Radwege des Neißetals wird nur durch die gelegentlichen Regenschauer getrübt. Erfreulicherweise gibt es öfters Hütten, wo ich mich unterstellen kann - so bei Sogar, da muss ich einen länger anhaltenden Guss aussitzen. Mein Magen erinnert mich knurrend daran, dass ich bisher weder Frühstück noch Mittag hatte. Gastronomische Angebote für Radler, auf Werbetafeln am Wegesrand platziert, wecken daher zunehmend meine Aufmerksamkeit. Doch bei mir isst nicht nur das Auge mit, sondern auch das Ohr! An einer von Ölverbrennern befahrenen Straße, zu der ein Schild mich entführt, drehe ich gleich wieder zum Radweg um. In der kleinen Siedlung Werdeck wird meine Beharrlichkeit belohnt. Ein alter Mann, der im Eingang einer gemütlich wirkenden Imbisshütte steht, lobt den daselbst erhältlichen Mohnkuchen. Zunächst halte ich ihn für den Betreiber der kleinen Gaststätte, der mal eben sein besonderes Angebot anpreist. Doch dann fragt mich eine junge Frau nach meinem Begehr, rank und schlank wie ihr hübsches Töchterlein. Die Auswahl ist überschaubar: Für mich bitte die Kartoffelsuppe - und wenn es alkoholfreies gibt, ein Bier, bitte.
Der
Alte ist mit seiner Alten unterwegs, beide noch drahtige Radler, aber
nicht asketisch darbend. Ein Bierchen und Gläschen Korn zum Nachspülen
des Mohnkuchens, wer will das verwehren. Die angeblich stolze 80 kaufe
ich ihm nicht ab. Na gut, aber wir gehen auf die 80 zu - sie ist 73,
ich bin 74! - Seine Munterkeit nährt sich nicht nur aus dem Mohnkuchen,
sondern vor allem aus dem Aufenthalt in seiner geliebten alten Heimat.
Da die ortsansässige Betreiberin der Zwei-Tische-Gaststätte auf all
seine von Nostalgie bestimmten Fragen eingehen kann, sprudeln
historische Jahreszahlen nur so aus ihm heraus, besonders viele aus
jenen Zeiten, da wir jüngeren noch Quark im Schaufenster waren. Dem
latent rechthaberischen Gatten kann nur die rüstige Gemahlin bsiweilen
Widerspruch entgegensetzen, dann lenkt er ein und beginnt ein neues
Thema: Wir reisen nur noch durch Deutschland! - Warum nur Deutschland?
Heimat ist Heimat - da weiß man, was man hat. Das lässt sich nicht
leugnen. Nicht alle seiner Begründungen kann ich teilen, aber ich
gestehe: Auch mir gefällt nicht alles, was übern großen Teich kommt,
gerade wenn ich ans Kulinarische denke... Da lobe ich mir doch so eine
hausgemachte Lausitzer Kartoffelsuppe und das Schöfferhofer Weizenbier.
Im dicht bewaldeten Abschnitt zwischen Klein Priebus und Steinbach hat sich die Neiße ein Knie mäandert, um sich nur wenig weiter wieder in ihre Süd-Nord-Achse zu strecken. Eine der zahlreichen Informationstafeln über Flora und Fauna verkündet die Rückkehr des Wolfes. Seit den 90er Jahren streifen wieder einige Rudel durch die Wälder - und Felder. Das spricht einerseits für ein gelungenes Zurück zur Natur. Doch des Einen Gewinn ist des Anderen Verlust: Der Wolf aus Rotkäppchens Märchenwald hat längst auch die Weiden der Bauern besucht - er ist kein böser Wolf, aber er ist eben weder Vegetarier noch vegan geworden. So manches Schaf, so manche Ziege hat der Wolf gerissen, beklagen die Betroffenen. Auch dem Jäger machte er die Beute streitig. Die Bauern hatten sich daher für das für sie geringere Übel entschieden, für den Jäger, der allen Gesetzen zum Tierschutz zum Trotz dem Wolf nachstellte. Daher kamen die polizeilichen Ermittlungen nicht vorwärts. Um der Verschwiegenheit von Zeugen und Mitwissern einen Anreiz zum Plaudern entgegenzusetzen, brachten Naturschutzverbände und Vereine (NABU, WWF, die Gesellschaft zum Schutz der Wölfe und der Freundeskreis freilebender Wölfe) eine Kopfprämie in der beachtlichen Höhe von 10.000 Euro auf und hofften auf diese Weise zur Ergreifung des Täters beizutragen, der im Landkreis Görlitz, der wolfreichsten Gegend Deutschlands, schon etliche Wölfe demonstrativ hingerichtet hat - ein regionales Blatt, das sich in Sachen Schlagzeilen am deutschen Marktführer orientiert, titelte damals: "Ökos jagen jetzt den Wolfsmörder" - Immer diese Ökos!
Auf dem Zeltplatz des Neiße-Camp, gleich am Ortsausgang von Rothenburg, nieselt es wieder. Unter diesen Bedingungen ein Zelt aufbauen, am frühen Abend nass in seinem Innern hocken und warten, bis es Nacht wird? Muss nicht sein. Nicht, wenn es denn Alternativen gibt. Der Platzwart - oder wahrscheinlich der Betreiber höchstpersönlich - empfiehlt mir das Brüderhaus, einen Kilometer zurück, im Martinshof Rothenburg. An der Rezeption checkt gerade ein anderer Radler ein, der Rentner erhält direkt im Haus ein Zimmer und freut sich, dass es einen Fernseher hat. Als ich dran bin, frage ich, ob es auch ein Zimmer mit bescheideneren Komfort gäbe... Das machen wir dann gleich, sagt der Mann hinterm Tresen leise, er hat meine Bescheidenheit verstanden. Als wir unter uns sind, bietet er mir ein Ziimmer im Haus 23 - Haus Martha, eine Baracke. Selbst für meine bescheidenen Ansprüche steht dort ein Fernsehapparat bereit, ein etwas älteres Modell. Die Nachrichten drehen sich fast ausschließlich um das akute Flüchtlingsdrama in Europa, um die Randale in Heidenau -um einen betrunkenen, sich in blinden Hass steigernden Mob, dem nichts Besseres einfällt, als das Nötigste an Hilfe gewaltsam zu verhindern. "Schon wieder in Sachsen!" poltern die Ansager der öffentlich-rechtlichen Nachrichten. Endlich hat das Staatsfernsehen lokalisiert, wo das Böse zu hause ist.
Als
es zu regnen aufgehört hat, drehe ich noch einen Runde zu Fuß durch die
weitläufige Wohnanlage der Diakonie. Beim Spaziergang fliegt mir in
hohem Bogen ein Plastikfeuerzeug entgegen. Es stammt von dem
Rollstuhlfahrer, den ich schon bei meiner Ankunft begegnete. Er
entschuldigt sich von weitem, es sei nicht gegen mich gerichtet
gewesen. Ich hebe es auf und bringe es ihm zurück. Es funktioniert
nicht mehr, obgleich noch Gas enthalten ist. Dann war sein Wurf also
eine reine Verzweiflungstat - ein kleiner Wutausbruch? Nein, nein,
Entschuldigung, mit einem Biker würde ich mich niemals anlegen, sagt
er, mit einem Augenzwinkern - zu mir und einem anderen Mann.
Nebel
steigt nur zaghaft auf. Ich passiere wieder das Neiße-Camp und danke im
Stillen für den Hinweis auf den Martinshof. Andernfalls hätte ich jetzt
ein nasses Zelt einzupacken gehabt, was nicht nur Zeit gekostet,
sondern mit der Nässe auch zusätzliches Gewicht bedeutet hätte. Frisch
und munter radelt es sich auf der asphaltierten Allee durch die
Auenlandschaft, die bereits einen Vorgeschmack auf den nahenden Herbst
bietet. Der Wetterbericht versprach für heute einen warmen Sommertag,
die Sonne blinzelt schon ein wenig durch den weißen Schleier - das
spricht dafür, dass die Wetterfrösche für heute richtiggelegen haben
könnten. Und wenn ich Ende August spüre, dass sich schon wieder ein
Sommer verabschiedet, spricht das für einige Erfahrung im Erfahren.
An dieser Stelle dürfen Sie noch nicht einmal nachdenken
Ein Bürgermeister versucht seinen lieben Bürgerinnen und lieben Bürgern
mit ironischer Überspitzung ins Gewissen zu reden. Ob das hilft? Als
notorischer Umweltschänder frage ich mich jetzt, ob ich an allen
anderen Stellen, wo ein solches Schild nicht steht, darüber nachdenken
darf, Müll abzuladen. Nicht minder ambivalent scheint mir die grafische
Umsetzung des Nachdenkverbots zu sein: Parkverbot für augenzwinkernde
Mülltonnen? Oder wendet man sich mit dem Verkehrszeichen einfach nur an
den knöllchenfürchtigen Verkehrsteilnehmer? Und mit der
Walt-Disney-Mutation einer Mülltonne an den infantilisierten
Menschenrest? Ein im Hintergrund platzierter Verweis auf eine
(angeblich) installierte Überwachungskamera soll dem Ernst des
Anliegens vermutlich etwas Nachdruck verleihen. Ob das die gewünschte
Präventionswirkung entfaltet? In Irland sind auf solchen Schildern
einfach die saftigen Strafgebühren der jeweilig zuständigen Kommune
angegeben...
Wenn man nur wüsste, was hier los ist Nachdem
ich eben erst zwei spezielle Ausprägungen Lausitzer Humors
kennengelernt habe, halte ich jetzt auch die Variante "Sinnfreies
Wortspiel" nicht mehr für ausgeschlossen. Vielleicht soll einfach ein
maroder Gartenzaun verdeckt werden, vielleicht findet sich der Sinn des
Spruchbandes irgendwo um die Ecke. Jedenfalls wüsste ich schon ganz
gern, was ich glauben würde, "was hier los wäre, wenn mehr wüssten, was
hier los ist!" Ebenso wissenswert wäre, welcher modernen
Grafikerschmiede sich die beiden geschickt aufeinander abgestimmten
Schriftfarben blau ud rosa verdanken. Während ich ein Foto des
Gesamtkunstwerkes versuche, holt mich ein Mann mit seinem Dackel ein
und klärt mich auf: Kupferfracking! Es sei überhaupt noch nicht
ausreichend erforscht, welche Folgen das habe, erläutert der Mann. Da
kann ich ihm nur zustimmen. Und ich ergänze: Die Erde stöhnt noch unter
den Folgen des "volkseigenen" Raubbaus an der Natur, da kommen schon
die nächsten Wühlratten! Morgentau perlt in den Spinnenetzen, in emsiger Fleißarbeit über die Wiesen gespannt - tödliche Fallen für unachtsam fliegendes Gesumms. Wie Milliarden von Menschen in ihren asozialen Netzwerken, so verfängt sich das kleine Gesumms des Waldes in den klebrigen Netzwerken der Spinne. Schrecklich muss der Überlebenskampf in einer solche Falle sein! Man zappelt und strampelt, sich zu befreien, und macht damit doch nur um so mehr auf seinen eigenen Nährwert aufmerksam. Nur wenigen gelingt es zu entkommen, der Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden ist unerbittlich, gnadenlos. Die Spinne selbst ist verdammt zu ihren Listen - und wenn es dem Wind gefällt, wird ihr Fadenwerk seine Beute. Wie ein langes, graues Haar schwebt ein einzelner Faden über dem Weg - der Altweibersommer beginnt.
Bei
Biehain, in einem Wäldchen versteckt, drängen sich lauschige kleine
Wochenendhäuschen um einen lauschig kleinen See, die meisten hübsch aus
Holz, einige aus grauen Betonfertigteilen - das lässt auf
Entstehungszeiten schließen, in denen das rechteckige Wochendglück
auserwählter Werktätiger noch Datsche genannt wurde. Draußen, vor dem
Zaun, ruft mir ein Bube von drei oder vier Jahren zu: Wie heißt du? -
Alexander, antworte ich im Vorüberfahren. Ich bin um eine Kurve
gefahren, der Kleine ist längst außer Sichtweite, da höre ich ihn
rufen: Der Mann heißt Alexandra! - Vielleicht ist ja etwas dran, wenn
es heißt, Wissen sei Macht. Dann wäre Halbwissen die halbe Macht - und
verdrehtes Wissen macht auch nichts. Oder doch? Man weiß es nicht, man
weiß es nicht. Wer könnte der unbekannte Mann gewesen sein? Bisher
steht nur eines fest: Der Mann heißt Alexandra.
Endlich hat die Sonne den Nebel in Wölkchen verwandelt. Das Gelb auf den Feldern leuchtet wie Raps und es riecht wie Raps, es gehört wie Raps zur Familie der Kreuzblütler und ist wie Raps vierblättrig. Im Gegensatz zum Raps, der im Frühling blüht, blüht diese Pflanze jedoch im Spätsommer, also muss es wohl doch etwas anderes sein... Was ist es? Sinapis alba, zu deutsch: Weißer Senf. Und der blüht gelb und wird daher auch Gelbsenf genannt.*
Da
ich einen Wegweiser, an dem ich hätten abbiegen müssen, falsch
interpretiert habe, erreiche ich statt Ober Horka das Dörfchen
Mückenhain. Vorsichtig überhole ich eine alte Frau, die ihren Rolllator
schiebt - vielleicht hört sie schwer, ich will sie nicht erschrecken.
Vor ihr wende ich und frage sie sodann nach dem Weg. Sie erklärt mir
die Alternativen ausführlich. Über das Dörfchen Särichen fahre ich
querfeldein nach Ödernitz, biege danach rechts auf eine Landstraße, die
nach Niesky führt. An der nächsten Kreuzung treffe ich wieder auf den
Frosch-Radweg, in den ich links einbiege. Niesky lasse ich dadurch aus.
Südwärts, nach Jänkendorf und Ullersdorf, geht es zwischen größeren
Teichen entlang.
Jetzt führt der Weg durch ein dichtes Wäldchen. An der ersten Biegung kürze ich über einen beinahe zugewachsenen Forstweg ab, da muss ich schieben. Bei der kleinen Siedlung Altendorf tauche ich aus dem Dschungel auf und gelange nach einer Rechtskurve nach Baarsdorf, dann bergan über einen Feldweg nach Diehsa. Am Ausgang des Dorfes bin ich einige Meter zu zeitig abgebogen und gelange deshalb statt nach Kollm ins Dörfchen Thräna, wo ich mich gleich nochmals verfranse und dadurch nach Jerchwitz gelange. An einer Kreuzung erklärt mir ein junger Bauer, dass ich nicht der Einzige sei, der sich hier verfährt. Die Verwirrung liegt für mich auch in der "Eingemeindung" kleinerer Dörfer zu den größeren begründet - man wähnt sich in dem Ort, der auf dem Ortseingangsschild angegeben ist, und vergleicht das mit dem Eintrag auf seiner Straßenkarte, wo diese Eingemeindung nicht stattgefunden hat. Daraus ergeben sich falsche Folgerungen.
Es
ist nicht viel los am Strand des Olbasses, hier lässt es sich ein
Weilchen aushalten. Ich springe ins kühle Nass, dann lasse ich mich von
der Sonne trocknen. Eine Gruppe Männer mittleren Alters hockt am
schattigen Wiesenrand, man ist sich über die Ursachen des anhaltenden
Flüchtlingsstromes einig: die finanziellen Anreize in Deutschland. Die
kommen nur zu uns, um hier zu kassieren. Was die Kriegsflüchtlinge
angeht: Die Kinder können aufgenommen werden, aber die Männer sollte
man zurückschicken. Jemand müsse ja ihre Länder wieder aufbauen. Sagt
sich leicht so beim Bierchen am friedlichen Baggersee, wo noch das
einzige akute Problem ist, sich und seine Handtuch gelegentlich in den
wandernden Schatten nachzurücken. Die Kinder könne man ja aufnehmen?
Ohne Eltern? Wie großzügig, wie barmherzig, wie kinderlieb...
Bei
Lömischau verlasse ich den Frosch-Radweg und schwenke südwestlich auf
den Spree-Radweg ein, der mich nach Bautzen führt. Zwischen Malschwitz
und Burk führt der Weg erneut durch ausgedehnte Teichlandschaften, in
denen der Schwan der unbestrittene König
allen Gänsevolkes ist. Sein sanftes Gleiten, seine Stille inspiriert
jeden Betrachter. Wie Rilke bin ich fasziniert, wo immer der Schwan "unendlich still und sicher immer mündiger und königlicher und gelassener zu ziehn geruht".
Bautzen habe ich schon oft besucht, heute erreiche ich die größte Stadt der sorbischen Lausitz erstmals von dem idyllisch anmutenden unteren Stadtteil, durch den sich die junge Spree windet. Ich folge einer Baustellenumleitung und so gelange ich gar nicht in die prächtig restaurierte Altstadt, sondern an die westliche Peripherie. Nahe bei der Autobahnbrücke frage ich eine Frau, die in ihren Vorgarten werkelt, nach dem günstigsten Weg zur Bundesstraße 6, Richtung Bischofswerda. Sie reicht die Frage locker an ihren Mann weiter: Wo 'lang schicken wir ihn? - Über Salzenforst, antwortet der kurz und bündig. Weil die Straße steil bergan geht, muss ich alsbald schon verschnaufen und werfe dabei einen kritischen Blick in meine Umgebungskarte, in der ich meinen jetztigen Standort zu finden versuche. Ein anderer Gärtner bemerkt meinen suchenden Blick und fragt mich nach meinem Ziel. Auch er hällt den Weg über Salzenfort für alternativlos. Während ich nach meiner Wasserflasche greife, bietet er mir eine Alternative anderer Art: Wie wär's mit einem Bier? - Kann ich da widerstehen? Klar kann ich das!
Muss ich widerstehen? Ich könnte es jedenfalls... Wenn ich vom schweißtreibenden Schieben am Berg dürste und mein mitgeführter, längst lauwarmer Wasservorrat schon zur Neige geht, fällt das Widerstehen ziemlich schwer. Ich folge dem Mann in seinen Garten. Er wischt den Staub von einer Bank, wir setzen uns, stoßen mit den Flschen an, reden ein Weilchen, zuerst übers Radeln und dann über die viele vertane Zeit, die man sich im Leben mit Arbeit versaut hat, Zeit, die man nicht zurückdrehen könne, nur weil man endlich erkenne, dass jeder irdischen Existenz Grenzen gesetzt sind - auch der eigenen. Wir haben unsere Flaschen geleert - zur gleichen Zeit, nach einer Zeit, die man sich nehmen kann und nehmen muss, für ein Päuschen, für ein Schwätzchen. Doch jetzt ist Zeit für Abschied. Die Sonne neigt sich schon zum Horizont und ich habe noch einiges vor mir - bis zu meinem heutigen Ziel.
Als ich auf die B6 einbiege, dämmert es schon. Lieber wäre ich querfeldein über die Dörfer geradelt, doch in den Tälern folgt der Dämmerung schnell die Dunkelheit. Deshalb bleibe ich zunächst auf der ziemlich geradlinigen B6, an der ein gut ausgebauter Radweg entlangführt, wenigstens bis zu der Baustelle ab Großhartau. Beim Abzweig nach Kleinrennersdorf ist es schließlich finster, im anschließenden Wald sogar schon stockfinster. Zwei jugendliche Radler, die mich vor einer Minute überholt hatten, warten am finstren Straßenrand und halten mich an: Ob ich ihnen voraus fahren könnte, sie hätten kein Licht am Rad. Da fühlt sich meine neue 40-Lux-Lampe geschmeichelt - erstmals erhält sie hier ihre volle Bestätigung. Die beiden Jungs - einer fährt wegen des Bierkastens, den er rechts hält, einhändig neben mir - wollen zum Jahrmarkt nach Dürrröhrsdorf, da haben wir ein Stück gemeinsamen Weg. Allerdings verpasse ich mal wieder einen Abzweig, das merke ich erst, als sie sich, ein Stück hinter mir, verabschieden. Ich kehre um, hole sie aber nicht mehr ein, denn ab hier ist die Landstraße beleuchtet - und auch der Vollmond steigt hinter einem weiten Feld am Horizont auf.
Der dörfliche "Jahrmarkt", wie könnte es anders sein, ist heute auch nur noch ein Rummelplatz voller moderner Karussells, mit Diskozelt, nervigem Gedöns, Fressbuden. Es ist Sommer, es ist warm, es ist Samstagnacht, da zieht es die Jugend zur Jugend und der gelangweilte Menschenrest rotiert um seine eigene Drehachse. An bunten Lichtern und Geflacker mangelt es nicht. Ein bisschen abseits ein Bierstand, der zieht mich an wie ein Brunnen in der Wüste. Bevor ich den letzten Anstieg über Elbersdorf nach Porschendorf angehe, tanke ich ein letztes Mal. Ich schiebe ein Weilchen, dann hole ich den Mann ein, den ich unten bei der Tränke nach dem Weg gefragt hatte, und der nun mit seinen beiden großen Töchtern auf dem Heimweg ist. Was für ein Glück! sagt der Mann, heute sei sogar die Straßenbeleuchtung in Betrieb, sonst ist es in diesem Wald stockfinster. Aha! Weil heute Jahrmarkt ist, spendiert der Bürgermeister eine Runde Straßenbeleuchtung - da lassen sich nachher die Schnappsleichen besser auflesen. Wir teilen uns noch ein Stück des Weges - bis es wieder talwärts geht. Gegen halb 10 erreiche ich meine heutige "Destination", bei einem alten Freund, der viele Jahre lang mein Nachbar war.
Wir haben uns lange nicht gesehen, es gibt einiges zu erzählen. Jeder von uns geht aber auch gern seinen eigenen Gedanken nach, deshalb finden wir einen guten Zeitpunkt, Gutenacht zu sagen. 120 Kilometer habe ich an diesem Tag zurückgelegt, das sollte für ausreichend Bettschwere sorgen. Ich lese noch ein paar Seiten in den Sprüchen des Muskauer Obergärtners - und beim Sinnieren über einen Satz werde ich müde: "Wie wenig ist man imstande vorherzusehen, welche unbegreifliche heterogenen Folgen die Handlungen der Menschen haben - ja in der moralischen wie in der materiellen Welt sieht man nur zu oft da, wo Weizen gesät wurde, Unkraut aufgehen und dem hingeworfenen Mist Blumen und duftige Kräuter entsprießen."
30.8.
Ich bin den holprigen Weg durch die romantische schon manches Mal gegangen, lasse ihn diesmal links liegen - nicht aus Furcht vor Wagner und seinen Gralshüterinnen, nein! Das Bedürfnis, den von Mücken geraubten Schlaf nachzuholen, ist heute mächtiger als die Romantik. Ich nehme den kürzeren Weg über die Straße nach Liebethal, biege vor Pirna Richtung Pillnitz ab.
Am Imbissstand auf dem Schlossparkplatz kann ich dem Frühstücksangebot, ein Stück Stachelbeerkuchen und eine Tasse Kaffee, nicht widerstehen. Eine Runde alter Männer, Passagiere einer Stadtrundfahrt, die das Abklappern all der vielen Sehenswürdigkeiten offenbar schon satt haben, kann dem frisch gezapften Radeberger nicht widerstehen - auch verständlich. Und: Die Preise hier im Osten - so was von ein Schnäppchen... Als Nachtisch hole ich mir zwei Kugeln Eis, Erdbeeere und Zitrone, die wahrscheinlich größten Eiskugeln der Welt - das muss einfach mal erwähnt werden!
Die Schlossfähre bringt mich hinüber ans Kleinzschachwitzer Ufer. Auf den letzten zwei Kilometern bis Laubegast kommen mir ganze Geschwader entschleunigter Radfahrer entgegen: Familien, Reisegruppen, Spaziergänger. Die von der allgemeinen Entschleunigung ständig ausgebremsten Rennradler zeigen Anzeichen von Abgenervtheit... Die große weite Welt ist verdammt klein an einem sonnigen Sonntagvormittag, an einer der beliebtesten Flaniermeilen des Elbtales - und diese kleinen Welten, in denen jeder sein Heil, sein Glück, seinen Kick, seinen Rausch, seinen Frieden sucht, werden noch kleiner werden - das ist abzusehen.
Die Kolonne zieht ostwärts, hinaus aus der Stadt - so ist wenigstens in meiner Richtung noch kein Stau. Kurz bevor ich zuhause bin, frage ich mich: Wo waren eigentlich die Frösche vom Frosch-Radweg? An so vielen Teichen bin ich entlang und nirgends hörte ich ein Quaken. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob da nicht doch einmal etwas vor mir durchs Laub hüpfte - vielleicht war es eine verwunschene Prinzessin. |