Von Freiberg nach Dessau
auf dem Mulde-Radweg


Man muss die Feste radeln, wie sie fallen... Ostern fällt dieses Jahr zeitig. Dafür kommt der Winter irgendwie recht spät – und macht aus Gründonnerstag einen Weißdonnerstag. Eine regionale Tageszeitung hat an jenem 2. April, als ich zu meinem zweiten Radler-Frühling aufbreche, den Titel „Düstere Aussichten“ als Aufmacher. Keine Katastrophe der großen weiten Welt kann heute der Vorhersage des hiesigen Osterwetters den Rang streitig machen – und es gab ja wirklich einige tragische Nachrichten in den letzten Wochen und Tagen. „Morgen gibt’s in ganz Sachsen Sturmböen“, verkündet das Blatt, „dazu Graupel- und Schneeschauer und sogar Gewitter, bei gerade mal 3 bis 6 Grad.“ Morgen? Morgen bin ich schon hundert Kilometer weiter, ich fahre dem Wetter entgegen, tauche unter ihm durch...

Während der Bahnfahrt ins Erzgebirge wird es weiß – allmählich schließt sich die Schneedecke. Als ich in Freiberg aussteige, wird es gewiss, dass ich mir das Umsteigen in den Zug hinauf nach Holzau, nahe der Quelle der Freiberger Mulde, kneifen kann. Angesichts verschneiter Straßen kann es von hier aus nur talwärts gehen. Und als läge nicht schon genug Schnee herum, setzt weiterer Schneefall ein. Selbst auf den Hauptstraßen schimmert das Grau des Asphalts nur noch in den Bremsspuren an den Kreuzungen hindurch. Ich suche Schutz unter dem Dach eines kleinen Einkaufszentrums, ziehe mir eine wasserfeste Hose über die Jeans. Und jetzt? Unmöglich zu radeln! Als das Schneien nachlässt, versuche ich es trotzdem.

Talwärts kann es nur besser werden, glaube ich hoffen zu dürfen... Wegweiser zum Radweg fehlen, Ortsschilder sind eingeschneit. Noch bin ich in Freiberg, noch könnte ich umkehren. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche - das mag wohl sein, aber die Straßen sind es nicht. Es ist glatt, arschglatt. Mit kaum mehr als Schritttempo komme ich vorwärts - im noch nicht festgefahrenen Schnee auf dem Fußweg. Doch dann bin ich auf der Landstraße und der Wind treibt den Schnee querfeldein. Irgendwo müsste bald mal eine Straße talwärts führen.

Am nächsten Abzweig frage ich eine Autofahrerin. Sie kennt sich nicht aus, mit Radstrecken schon gar nicht, wünscht mir aber viel Glück - ihr Respekt ist mir sicher. Endlich geht es abwärts. Die Räder entgegenkommender Fahrzeuge drehen durch, am Berg haben sie keine Chance ohne Schneeketten. Meine Talfahrt ist eine einzige Rutschpartie. Ich setze mich auf den Rahmen herunter, so habe ich mit den Füßen Straßenkontakt und gleite vorsichtig hinunter nach Tuttendorf. Manchmal rutsche ich seitlich weg, kann mich aber immer wieder abfangen. Im Tal quere ich eine Brücke, dann biege ich links ab, das heißt: Ich bugsiere mich samt meines schweren Rades durch den Schneematsch der Autospuren. Im rechten Stiefel spüre ich, was das teure Imprägnierspray taugt... Nach gerade einer Stunde „outdoor“ ist die Nässe im Schuh.


 
Immerhin bin ich jetzt an dem Fluss, dessen Lauf zu folgen mein Plan war. Ist das noch mein Plan? Mit einem durchgeweichten Schuh? Erst mal weiter, bis zum nächsten Ort! Mein Entschluss wird belohnt, der Schneefall lässt nach - und die einsame Strecke wird zum wahren Wintermärchen.

Sind es Halluzinationen oder blitzt da ab und an ein Sonnenstrahl durch die Wolken? Es reicht nicht für ein Postkartenfoto mit Glitzerschnee, aber wozu hätte ich einen richtigen Fotoapparat mitgenommen, wenn ich ihn hier nicht zücken würde! Es ist den Versuch wert, diesen seligen Augenblick als Bild einzufangen - auf dass es die erhabene Stille des verschneiten Tales hören lassen möge.
 




Kurvenreich folgt der Weg dem munter strömenden Fluss, ich radle durch den Winterwunderwald. Nur Fuchs und Hase haben diesen Weg heute vor mir nur benutzt, so verraten die Spuren im Schnee. Wo es taut, bilden sich riesige Pfützen - ich muss mitten hindurch. Ich hab ja eh schon einen nassen Schuh – vielleicht spüre ich die Nässe nicht mehr so, wenn nachher der andere auch aufgeweicht ist. Richt’ge Männer wie wir...

Nass pappt der Schnee an jeder Speiche, das glaubt dir keiner ohne Foto. Hier werden Regenjacke und Regenhose von Tschibo, dem Outdoor-Ausstatter für radelnde Ukulele-Lehrer, einem ultimativen Schneetest unterworfen. Auch die Tschibo-Wollhandschuhe kommen nun zum Einsatz, nachdem das vermeintlich regenfeste Paar von Aldi bereits durchnässt ist. Die neue Thermoskanne aus dem Kaufland bewährt sich, nach zwei Stunden im Winterwald ist mein Tee noch schön warm.

Hinterm Dorf Hohentanne rangiert ein LKW, ich frage den einheimischen Fahrer nach dem Weg, der rät mir von dem Weg am Waldesrand ab - so viel Schnee wie heute habe er den ganzen Winter nicht gesehen. Er empfiehlt mir, über die Dörfer zu fahren. Das ist zwar ein großer Bogen und es geht bergan, aber wenigstens ist da schon eine getaute Reifenspur, in der ich schieben kann. Auf dem Bergkamm gerate ich erneut in dichtes Schneetreiben, Meter um Meter kämpfe ich gegen Wind und eisige Böen an. Dann geht es wieder bergab, die Schneedecke lichtet sich, eine Andeutung von Osterspaziergang ist zu sehen: Im Tale grünet Hoffnungsglück.

Bei Siebenlehen gilt es, dem matschigen Pfad der Mulde entlang zu trauen. Wenig erinnert hier an einen Radweg, Äste und Zweige kreuz und quer - das Sturmtief Niklas hat vor zwei Tagen auch hier seine Spuren hinterlassen. Hundert Meter über mir dröhnt Verkehrslärm. Die Autobahn quert die dunkle Schlucht in luftiger Höhe. Nach der Brücke, wo sich der Fluss weitet und die Landschaft lichtet, ist der Weg zunehmend schneefrei, teils geschottert, teils asphaltiert - und nun sogar beschildert!

Der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in raue Berge zurück... Gar so alt und schwächlich wie im Gedicht wirkt er auf mich noch nicht, aber ich komme nun gut vorwärts – und bald passiere ich die Städtchen Nossen, Roßwein, Döbeln. Die Nachmittagssonne lugt wärmend durch die Wolken, lädt zu einer Pause an einer Holzhütte. Auf die Bretter haben Minderjährige ihre „Kontaktgesuche“ gekritzelt, sie zu lesen vertreibt alle Poesie. Manche sind unverblümt obszön, andere erschreckend naiv: „Bin 13, grüne Augen, blonde Haare, bin süß und will einen Boy, der mich glücklich macht und beschützt, aber nicht so ein Weichei wie Pierre.“ Welche Ansprüche hatte ich in dem Alter? Hatte ich da Schutzbedürfnisse? Manchmal hatte ich zumindest Gründe, mir einen großen starken Bruder zu wünschen - daran erinnert man sich ein Leben lang.

Ein Blick zum Himmel stimmt mich optimistisch. Ich stelle mich auf sonnige letzte Kilometer bis zu meinem Quartier ein. Doch auf dem freien Feld zwischen Westewitz und Klosterbuch verdunkelt sich der Horizont, rasch sinkt die Temperatur und nur Minuten später wird die Osterspazierfahrt nochmals schaurig: Ohnmächtige Schauer körnigen Eises hängen aus grauen Wolkenschleiern herab, sie ziehen in Streifen über die grünende Flur – mir entgegen und mit aller Wucht ins Gesicht. Dem eisigen Wind biete ich die Stirn, doch dann peitschen mir Sturmböen mit Graupel ins Gesicht, ich muss mich abwenden, muss stehenbleiben, mich auf den Beinen halten, bis es vorbei ist.

Gleich beim Ortseingang zu Paudritzsch entdecke ich an einem Haus die Aufschrift "Pension La Provence", dort steht für heute Nacht mein Bett. Doch das Haus mit der Aufschrift ist nicht die Pension. Die sei ein Haus weiter, erfahre ich von einer schönen Bewohnerin des beschrifteten Hauses. Also ein Haus weiter. Ich klingle am Namensschild, aber niemand reagiert. Ich rufe den Wirt übers Handy an: Ich stehe jetzt direkt am Haus. - Er könne mich nicht sehen, sagt er. - Ich entgegne: Ich stehe direkt vor der Tür, im Hof! - Nein, da sei ich nicht zu sehen. Vielleicht sei ich ja im Nebenhaus, da verirre sich mancher hin wegen der Beschriftung. - Ich: Nein, da war ich zuerst, aber jetzt stehe ich hier an der Tür im Hof! - Ach so, hinten? - Na ja, sag ich doch, im Hof. - Nein, der Hof sei auf der anderen Seite! Da müsse ich einmal ums Haus herum. - Also nach vorne? - Ja, in den Hof! - Dann ist der Hof also vor dem Haus, an der Straßenseite? - Ja, genau. - Na endlich! Ich checke ein, das Zimmer ist stilvoll eingerichtet, a la Provence. Erstmal eine Dusche nehmen - und die Heizung einschalten!
Falls ich noch was vom Rad holen müsste, die Schlüssel von der Garage seien dort im Schlüsselkasten. Ist da auch ein Hausschüssel drin? Nein, aber für den Moment könne ich die Haustür einfach auflassen.

Ich gehe kurz zur Garage, um noch meine Teekanne vom Rad zu holen. Mit der Tür handhabe ich es wie besprochen, lasse sie angelehnt und prüfe, dass sie nicht von selbst zufallen kann.
Als ich wieder ins Haus will, ist die Tür zu. Wo ist die Klingel? Ach da, an der anderen Tür. Aber niemand reagiert... Ich klingle wieder und wieder, klopfe an die Fensterscheibe. Ich stehe in Badelatschen und Pyjama am Hintereingang meiner Unterkunft, niemand öffnet mir. Mir ist kalt, ich habe nasse Haare, ich habe keinen Bock auf "Versteckte Kamera" - und überhaupt: Was soll der Unfug jetzt? Jemand Fremdes öffnet, erklärt, ich sei an der falschen Tür. - Aber an der anderen Tür ist keine Klingel. - Ja, okay, er sage seinem Bruder bescheid... Das dauert eine gefühlte Stunde. Endlich kommt der Wirt und öffnet mir, er habe die Tür wohl versehentlich zugemacht. - In meinem Zimmer hat sich die Temperatur inzwischen auf 15 Grad erwämt. Wohlfühlen ist was anderes, aber wenn man gerade 10 Minuten im Pyjama vor der Tür gestanden hat, ist alles, was wärmer als drei Grad ist, schon gemütlich. Ich lasse die Heizung die halbe Nacht laufen, bis ich merke, dass das regelmäßige Schnaufgeräusch von eben jener verusacht wird. Das konnte ich zunächst nicht von den Fahrgeräuschen der Autos unterscheiden, aber jetzt, nach Mitternacht, als der Verkehr nachlässt, stört mich das Schniefen doch sehr. Ich stelle die Heizung ab und - krieche schnell wiede runter die Bettdecke.

Und so komme ich zur Bilanz der ersten Etappe: Ich war durchaus auf nasses und kühles Wetter eingestellt, auf Schneetreiben am Morgen und die eisigen Graupelschauer am Abend aber nicht. Den Start in Holzau abzusagen, schon in Freiberg talwärts zu radeln und somit die Strecke um 30 Kilometer zu verkürzen, das war die einzige Chance, überhaupt das Tagesziel zu erreichen. Die Kälte des ersten Tages steckt in meinem Knie, es schmerzt arg. Das Radeln durch den verschneiten Winterwunderwald im Erzgebirge hatte seine Reize. Was das erste Quartier betrifft, vielleicht ist es doch eher provinziell als provenzialisch... Vereinbarungsgemäß hatte ich von unterwegs aus, meine geschätzte Ankunftszeit präzisiert. Ist es da sehr vermessen, ein vorgewärmtes Zimmer zu erwarten? In Badelatschen und Pyjama mit nassen Haaren vor der Haustür stehen, das steht bei Winterwetter eher nicht auf der Wunschliste erschöpfter Radwanderer. Ruhige Lage? Na ja, das definiert jeder anders. Ohropax hat der Profi dabei, ist aber auch nur leichte Geräuschdämpfung - und drückt im Ohr. Positives? Die Kombination aus Steh- und Nachttischlampe bietet lesetaugliches Licht.




Ach, wenn's doch erst gelinder und grüner draußen wär!



Karfreitag

Es ist genauso kalt und nass wie gestern. Aber immerhin: Das tiefe Tal duldet kein Weißes. Die Schutzkleidung muss ich dennoch überziehen, denn es nieselt so sehr, dass ich Leisnig links liegen lasse und auch nicht das geringste Interesse entwickle, den kurzen Abstecher nach Sermuth zu fahren, wo sich Freiberger und Zwickauer Mulde vereinen. Ganz zu schweigen von einem Abstecher ins „hübsche Städtchen Colditz“, den der Bikeline-Radführer empfiehlt. Alternativ könne man sich auch „an der ebenso traumhaften Zwickauer Mulde tummeln“. Das liest sich angesichts des Wetters wie blanker Hohn. Mein nächstes Quartier ist an die 80 Kilometer entfernt - ich habe nur einen Wunsch: so zügig wie möglich vorwärts kommen.

Der Radführer von Bikeline preist sich mit dem Wörtchen „wetterfest“ an. Die laminierten Seiten mögen Nässe vertragen, sind allerdings in einer vertikalen Spiralbindung, wodurch es aufgeklappt zu breit für die Befestigung auf der Lenkertasche ist. Etwas, das so an der Praxistauglichkeit vorbeigeht, können nur Verlage produzieren, deren Mitarbeiter vom Radwandern bestenfalls durchs Hörensagen "er-fahren" haben. Und wozu brüstet sich so ein Heft mit dem Versprechen, alles „für ein unbeschwertes Radvergnügen“ zu bieten? Wozu braucht mein Rad Vergnügen? Es hat doch mich, damit muss es zufrieden sein. Auch Hotels preisen ihre „Radfreundlichkeit“ an. Mein Rad ist da anders - das lässt sich von keinem was vormachen, nicht mal von mir.

Das Nieseln, das permanent meine Sonnenbrille benetzt, bringt mich wieder dem Punkt nahe, wo ich mich frage: Was will ich eigentlich hier draußen in der hintersächsischen Pampa! Jeder andere Freizeitbürger sitzt an so einem nassen Karfreitag zuhause im warmen Stübchen, schlürft sein Käffchen, blättert in seinem regionalen Lügenblättchen, bastelt in der Garage, befriedigt seinen Tratschsucht in „sozialen Netzwerken“, lässt sich statt mit nassem Niesel mit Nachrichten Geriesell berieseln – egal was, Hauptsache nicht draußen in Wind und Wetter. Wozu tue ich mir diese Tour an? Diese Tortour!



Endlich ein paar blaue Löcher am Himmel - und auch am Straßenrand taucht ein Farbtupfer auf - ein kleines Haus mit Turm und Zinnen, jedes Fenster ein Individuum, blaue Mosaiken zieren Kanten und Ecken, alles so schön verspielt, wie man es von der Stilistik eines berühmten Architekten kennt. Hundertwasser in Marschwitz an der Mulde? Die größte literarische Bedeutung jener von einer anderen Klitsche eingemeindeten Siedlung resultiert bisher wohl nur aus dem lokalen Busfahrplan. Vergeblich suche ich Informationen im Web. Vielleicht genießt der Besitzer das Mysterium um sein schmuckes Anwesen, zu dem auf der anderen Straßenseite auch eine adäquate Garage gehört. Der einzige Hinweis, den ich im Web finde: Die Hochwasserfluten vom August 2002 sollen vom ursprünglichen Haus nicht viel übrig gelassen haben – und so könnte das zerstörerische „Jahrhundertwasser“ die schöpferische Inspiration für ein Hundertwasser-Plagiat geworden sein...



Die Phalanx aus meterhohen Photovoltaikwänden, die das Muldeufer bei Kössern verschandeln, ist noch im Standby-Modus - kein Sonnenstrahl kitzelt bisher die Solarzellen. Vor allem frage ich mich: Was wird damit bei der nächsten größeren Flut? Die Anlage steht auf einer tiefliegenden Wiese und am strömungsseitigen Ufer einer Flussbiegung! Aber gut, viel Zerstörung schafft dann temporär wieder einige Arbeitsplätze. Ich glaube, nach 25 Jahren Marktwirtschaft verstehe ich endlich, was der Stabü-Lehrer mit dem Grundwiderspruch des Kapitalismus gemeint haben könnte. Aber egal, dann wird einfach wieder in die Hände gespuckt, denn das steigert das Bruttosozialprodukt.



Vor einem Vierteljahrhundert verscherbelte die Treuhand der Deutschen Bahn die Immobilien der Reichsbahn. Und wenn der DB-Vorstand nicht gestorben ist, dann werden diese Altlasten auch in 25 Jahren noch bewundert werden können Nur dürftig sind die Ruinen mit Maschendraht umzäunt. Fetzen schwarzer Dachpappe hängen über betongraue Fassaden und Laderampen hinab. Reste einer Parole aus Ulbricht-Zeiten sind zu erkennen, unter den serifenlosen Zeichen der 1950er kommt der National-Font der 1930er zum Vorschein. Die Fettschriften zweier Diktaturen verwischen und vermengen sich unter dem Zahn der Zeit zum "gegenseitigen" Propaganda-Kauderwelsch. Gestrüpp wuchert aus den Fenstern und durch die offenen Dächer. Im nasskalten Selbstmordwetter des Karfreitag 2015 wird mir eine Zeitreise in graue und grausige Kapitel der deutschen Historie geboten.

Neben den Ruinen der Industrie sind die Flussauen auch durch aufgegebene Kleingartenanlagen verschandelt – Hochwasserleichen aus Holz und Blech und Ziegelsteinen. Nach der zweiten verheerenden Flut innerhalb von 11 Jahren kehrt keine Gärtnerseele in die Überschwemmungsgebiete zurück, die Reste von Laube und Zäunen sind der Selbstzerlegung durch Fluss und Wetter überlassen - mag sich die nächste Flut holen, was übrig blieb vom einstigen Wochenendparadies mit Stromanschluss und Satelitenschüssel.

Eine feudale Villa, auf den Höhen vor Grimma ist sie hochwassersicher, steht leer und kein Schild fragt nach einem Käufer. Ich stelle mir vor, was sich in einem so geräumigen Haus außer Wohnen veranstalten ließe. Die prächtige Veranda, in der jetzt die Spinnweben hängen, bietet einen herrlich Blick über die altehrwürdige Stadt und auf die Mulde, die sich durchs Tal schlängelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis eingeschlagene Scheiben dem Haus die letzte Hoffnung auf neue Bewohner nehmen. Daneben ein unscheinbarer Flachbau, die Mitglieder einer Christengemeinde scheinen gerade ihre Feiertagzusammenkunft zu beenden - als erstes fliehen die Kinder ins Freie hinaus und toben im Garten: Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht.

Ich rolle hinunter ins historische Stadtzentrum der hochwassergeplagten Stadt. Von der Anfang des 18. Jahrhunderts gebauten Mulde-Brücke, die beim Hochwasser 2002 so stark beschädigt wurde, dass sie erst 10 Jahre später, nach aufwändiger Rekonstruktion wieder eröffnet werden konnte, fällt der Blick auf St. Augustin, das altehrwürdige Gymnasium, das seit Mitte des 16. Jahrhunderts am Muldeufer thront wie ein venezianischer Palazzo am Canale Grande. Warum hat man hier schon damals so bedrohlich nah am Wasser gebaut?

Nachmittags erreiche ich Wurzen, das Zentrum der Altstadt liegt auf einem Hügel, Muldefluten können diesen beschaulichen Gemäuern nichts anhaben. Ich halte Ausschau nach einer Imbissstube. Der Italiener öffnet erst um vier. Beim Inder ist wohl auch noch nicht richtig geöffnet - ein Kollege braucht aber den Stromanschluss des Ladens, um in seinem Auto staubsaugen zu können. Gründlich macht er das, keine Ritze lässt er aus – und putzt und wienert sein schwer verdientes Stück mobilen Wohlstand, während mir der Koch einen vegetarischen Döner zubereitet.

In Eilenburg trennt die Mulde die westliche Altstadt vom jüngeren Stadtteil Ost, der sich zur Kiesgrube hin ausbreitet. Meinen Abstecher in den historischen Westen beende ich in einer raschen Wende auf der Hauptstraße. Denn selbst auf den zweiten und dritten Blick bemerke ich nichts, was nach all den erradelten Kleinstadtidyllen, die nun wohl auch wegen der geschlossenen Geschäfte wie ausgestorben wirken, noch meine Aufmerksamkeit wecken kann. Möge mir der Stadtschreiber meine arg verkürzte Stadtvisite auch deshalb vergeben, weil ich nach 60 hinter mir liegenden Kilometern bir zum nächsten Quartier noch immer 20 vor mir habe.

Zügig hinaus aus der Stadt und übers weite Feld, durch Wälder und Auen – und siehe da: Endlich setzt sich die Sonne durch! Ein Schild macht mich aufmerksam, dass die Fähre beim Dorf Gruna nur bis um sechs in Betrieb ist. Es ist Viertel nach fünf, ich überschlage, wie lange ich für die vier Kilometer brauchen werde. 20 Minuten, schätze ich, wenn die Strecke nicht gar zu holprig ist. Ich trete etwas kräftiger in die Pedale, um nicht zu spät anzukommen. An der Anlegestelle sehe ich schon von weitem einige Spaziergänger versammelt. Ich fahre direkt auf den schmalen Ponton und warte auf den Fährmann. Man müsse beim Haus erst auf einen Klingelknopf drücken, um ihn zu rufen, klärt mich eine Frau auf. Doch der Fährmann hat die Ansammlung schon bemerkt und kommt zur Fähre geradelt, sein Hund folgt ihm auf den Fuß.



Erst betritt der Capt'n sein Boot, dann sein Hund, gefolgt von mir und meinem Rad. Einige Spaziergänger schließen sich an, sie wollen mit ihren Kindern nur mal rüber-und gleich wieder zurückgeschunkelt werden. Der Fährmann löst das Seil, dreht das Ruder: Einsfünfzig mit Rad, sagt er zu mir. Geräuschlos treibt die kleine Gierseilfähre ans andere Ufer. Die Abendsonne wirft lange Schatten hinter die umgestürzten Bäume an beiden Ufern, malerisch bettet sich die wilde Landschaft ringsum. Wie der Fluss in Breit und Länge so manchen lustigen Nachen bewegt, und, bis zum Sinken überladen, übertreibt der Dichter, entfernt sich dieser letzte Kahn...



Auch der nächste Ort, Hohenprießnitz mit seinem kleinen Schloss und einer Pension, scheint ein Kleinod zu sein, das zur Übernachtung geeignet wäre. Doch ich habe am Stadtrand von Bad Düben gebucht, im letzten Sackgassenwinkel einer Siedlung auf Ruhe hoffend. Als ich im Dämmerlicht an der Gartentür des Häuschens ankomme, steht die Gastwirtin schon hinter der Gardine und erwartet mich. Eigentlich wollte sie ihre beiden Gästezimmer längst aufgeben, sagt die alte Frau, aber so habe sie etwas Abwechslung. Und mit den zwei kleinen Zimmern lässt sich die schmale Ost-Rente etwas aufbessern? Es läppert sich, im Sommer ist mehr los. Ich bitte sie um heißes Wasser für meine eigene Teemischung, doch sie bietet mir Pfefferminze aus dem eigenen Garten an - das nehme ich gern an. Wir plaudern nur kurz, denn ich sehne mich nach einer warmen Dusche, nach trockenen Sachen - und dem Bett.



Samstag

Das Frühstück ist für halb acht bestellt, denn ich will zeitig auf die Piste, raus aus der Stadt, aufs freie Land. Ein Blick aus dem Fenster zeigt Tau auf den Dächern, die Nacht war klar und frostig. Minus drei Grad, sagt Irma B., nur ein paar Häuser weiter oben am Hang, wo ihr Sohn gewohnt habe  - als er noch lebte, 1999 - sei es immer noch etwas kälter. Die Fensterscheiben sind beschlagen, Batterien blühender Topfpflanzen davor. Auf dem Sofa davor ein Dutzend Kissen mit selbstgestrickten Bezügen, in der Schrankwand Fotos, Kerzen, Biergläser, alles fein sortiert zu den übrigen Dingen, die ein altes Mütterchen griffbereit haben möchte. Während ich frühstücke, bereitet sie mir noch eine Thermoskanne voll Tee für die Fahrt.

Ich fahre die Straße hinauf, wo ihr Sohn einst wohnte – damals. Tatsächlich sind die Pfützen und Frontscheiben der Autos noch gefroren. Mein „Fahrradcomputer“, so nennen sich heute hochtrabend die armbanduhrkleinen Tachometer fürs Rad, zeigt nur 1 Grad, über Null immerhin. Der Fahrradfachverkäufer vom XL-Radladen pries mir statt der gewünschten Temperaturanzeige eine andere Funktion für bemerkenswert. Das Teil berechnet doch tatsächlich anhand der geradelten Kilometer, wie viele Liter Benzin oder Diesel man verbraucht hätte, wäre man mit dem PKW gefahren - ungeachtet aller Steigungen, denn ein Höhenmesser ist nicht integriert, den gibt’s erst in den höheren Preislagen dieser Geräte. Nur welchen Informationswert soll die Kenntnis der nicht verbrauchten Menge Benzin für einen Radfahrer haben?

Durch meine extraordinäre Grenzerfahrung, die Überwindung der psychologischen Hemmschwelle, mich auf quasi vorzivilisatorische Weise von A nach B zu bewegen, in Verbindung mit den übermenschlichen Kraftanstrengungen, in rotierende Pedale zu treten, spare ich demnach so und so viele Liter Benzin oder Diesel, je nachdem, wie viel das Automobil meiner Träume auf 100 Kilometer im Schnitt verbrauchen würde. Aber den Durchschnittsverbrauch auf 100 km muss man vorher selbst einstellen. Bereits nach 10 Kilometern steht dementsprechend ein Zehntel des eingestellten 100-Kilometerverbrauchs im Display – Wahnsinn! Wird mir der erradelte Nichtverbrauch jetzt an der nächsten Tankstelle ausgezahlt? Oder will der Schöpfer dieser revolutionären innovation nur mein Umweltbewusstsein ins Heroische steigern? Wäre es da nicht noch erhebender, könnte man permanent ablesen, welche Menge Kohlendioxid man dank seines vollbiologischen Zweibeinmotors nicht in die Luft geblasen hat? Aber was mache ich dann mit meinem Ökobonus? Kann ich den mit den Umweltsünden meines Vorlebens verrechnen lassen – und, falls ein positiver Saldo bleibt, damit an der Börse handeln???

Ich nähere mich dem künstlichen Seengebiet um Bitterfeld-Wolfen, der ehemalige Braunkohletagebau hat die Landschaft von Grund auf umgekrempelt, die riesigen Tagebaugruben sind randvoll mit Grundwasser oder von der Mulde und anderen Flüssen geflutet. In der Morgensonne gaukelt besonders die ehemalige Goitzsche-Grube eine heile Seenlandschaft vor -beinahe als sei nie etwas anderes hier gewesen.


 
Wie ein Leuchtturm zieht beim Dorf Pouch der Rote Turm auf einem Hügel das Auge des Radlers an. Den Ziegelbau aus dem Mittelalter ziert eine zuckerhutförmige Spitze  - man kann den Turm erklimmen und den Blick über die renaturierte, zumindest visuell erholt wirkende Landschaft schweifen lassen. Man kann auch unten am Radweg bleiben, auf den sonnigen Bänken im „Schlemmereck von Ritter Hans“ Platz nehmen und einen Pappbecher Kaffe für 80 Cent trinken.


Der anhaltende Sonnenschein hat den morgendlichen Frostgraden schon gut eingeheizt. Als bisher einziger Gast beim „Ritter Hans“ kann ich ungestört über den schreienden Umweltfrevel sinnieren, der hier einst stattfand. So weit das Auge blicken kann, blieb damals kein Stein auf dem anderen, um an die Braunkohle  zu kommen, mit der die Industriebetriebe gefüttert wurden. Verpestete Luft, Dauersmog, vergiftete Flüsse, ein geleeartiger „Silbersee“ und Erde voller tödlicher Schwermetalle aus den stinkenden Chemiefabriken. „Bitterfeld-Syndrom“ ist heute ein globaler Begriff für „anthropogene Degeneration“, für großräumige Kontamination der Erde durch Industrieabfälle, für ungehemmten Raubbau an der Natur.* Und jetzt sitze ich hier im Grünen, wärme mich im unschuldigen Sonnenschein am unschuldig blinkenden Goitzsche-See, schlürfe mittelprächtigen Maschinenkaffee aus einem unschuldigen Pappbecher... Wenigstens hier gibt es Hoffnung auf blühenden Landschaften.

Mein Hang zur frühmorgendlichen Stadtflucht mag etwas übertrieben sein. Mehr Begängnis als im Zentrum jener verschlafenen alten Kleinstädte ist ohnehin draußen auf der grünen Wiese, in welche Aldi und Co ihre schmucklosen Kaufhallen betonieren ließen. In Friedersdorf bei Mühlbeck, auf einer Landbrücke zwischen den beiden großen Tagebauseen der einstigen Industriewüste, findet sich als Ausnahme ein Supermarkt mitten im Dorf. Hier ist des Volkes wahrer Himmel. Zwar fehlt’s an Blumen im Revier, die Natur nimmt dennoch keine geputzten Menschen dafür. Jogginghosengeschwader schieben ihre Einkaufswagen zwischen Parkplatz und Supermarkteingang umher. Und zufrieden jauchzet groß und klein: Hier ist’s billig, hier kaufe ich ein...

Auch ich muss mich jetzt mit dem Nötigsten für drei Tage eindecken. Wasser, Brot, Obst – meine Gepäcktasche verlangt Genügsamkeit. Danach kann ich für heute und die nächsten beiden Tage einen großen Bogen um die Betontempel der öffnungszeitbeschränkten Marktwirtschaft machen. Denn morgen ist Sonntag und übermorgen Ostermontag, da haben im bundesdeutschen Abendland nur Kirchen geöffnet.



Vor Muldenstein schlängelt sich der Radweg durch ein Wäldchen, erst folge ich wildromantischen Wegen, dann treffe ich auf eine mit Maschen- und Stacheldraht umzäunte Lichtung. In die hat ein internationaler Energiekonzern „einen großen renditestarken Solarpark“ pflanzen lassen. „Greenfield Solar Global ist im Stande, Objekte aller Größenordnungen und Schwierigkeitsgrade schnell, professionell und in höchster Qualität anzugehen“, prahlt das Unternehmen auf seiner Website.“ Toll, was die so drauf haben! Die landschaftsgestalterische Integration abrissreifer Altlasten gehört offensichtlich auch dazu...
 
Das Wetter ist kalt, aber die Sonne lächelt – immer mal wieder. So komme ich gut vorwärts. Schon nachmittags bin ich in der wilden Parklandschaft im Süden Dessaus. Auf einer Holzbrücke halte ich inne und betrachte das Spiel von Licht und Schatten. Als ich mir Tee in meine Tasse gieße, prostet mir eine von zwei alten Frauen mit Rädern mit ihrer Trinkflasche zu. Eine kurze Plauderei, ergibt sich. Wie nötig es sei, den verwilderten Park wieder zu pflegen. Mich hätten auf der Fahrt von Freiberg bis hier ganz andere Verwüstungen empört, dagegen sei das hier geradezu romantisch, werfe ich ein. Die beiden kennen hier jede Parkbank und jeden Weg – und erklären mir genau, wie ich weiterfahren soll, um zu meinem Quartier, dem Landhaus am nördlichen Stadtrand von Dessau zu kommen. Meine unkonventionelle Reiseart beeindruckt die rüstigen Seniorinnen, früher sei man auch weiter hinaus geradelt. Ich verabschiede mich. Schön ist das, höre ich die eine zu der anderen sagen, als ich schon ein paar Meter weiter bin.



Wunderbar im Grünen ist das Landhaus gelegen, nur leider weiß man dort nichts von meiner Buchung, die ich via Internet vornahm - anders ging es nicht, da der Betrieb bis Ostern Urlaub hatte. Ein Telefonat mit der Chefin klärt mich auf, dass meine Buchung automatisch zum Elbzollhaus "weitergeleitet" worden sei. Wo ist das? Nur ein Stück Richtung Wörlitz. Das läge ohnehin am Elberadweg, der mich ab morgen wieder heimwärts führen soll. Sie nennt mir einen Pinncode, mittel welchem mir dort ein Automat meinen Zimmerschlüssel "aushändigen" würde. Das Zimmer sei im Turm. Auch sonst wäre ich dort auf mich selbst gestellt. Ein Elfenbeinturm also? Wenn ich am besten noch im Landhaus Abendbrot fassen würde, hätte ich "alles richtig gemacht"...

Auf meiner Faltkarte, in der ich den Elbe-Radweg Richtung Wörlitz aufschlage, werde ich nicht fündig. Deshalb frage ich die Kellnerin, ob sie mir den Weg auf der Karte zeigen könnte. Kann sie nicht. Aber der Koch versucht es, nicht auf meiner Karte, aber auf seinem Smartphon. Seltsam... Das ist eine ganz andere Richtung – geradezu entgegengesetzt! Und die Destination liegt direkt neben der Bundesstraße... Hauptgewinn? Da bin ich aber gespannt, vielleicht sieht es schlimmer aus, als es ist. Aber wieso dann Richtung Wörlitz, wo es doch dorthin nur 13 Kilometer Radweg in östlicher Richtung durchs Grüne ginge? Ach so, wenn man automobilistisch navigiert, ist das anders: nach Wörlitz wäre es dann erstmal westlich bis zur B 184, dann nördlich zur Elbe (wo das Elbzollhaus steht), über die Brücke ans andere Ufer in Rosslau, dann im weiten Bogen ostwärts auf der B 187 über Posemuckel-Rom, dann auf der A5 wieder südwestlich und über die Brücke zurück ans hiesige Ufer, dann wieder östlich die L133 - das sind insgesamt 33 Kliometer, weit mehr als die doppelte Distanz des Radweges... Toll, wenn das kein zivilisatorischer Fortschritt ist! Herbergs- und Gasthausbetreiber bewerben ihre Locations mit schönen Schlagworten wie "am Elbe-Radweg" oder "direkt an der Elbe", haben sich aber wahrscheinlich selbst noch nie weiter ins Grüne gewagt, als das Infrarot ihres PKW-Schlüssels reicht...

Doch zunächst treffe ich mich mit einem, der sich als „Ureinwohner“ eines Ortes an einem weit aus fernerem Fluss bezeichnete... Das allerdings ist eine ganz andere Geschichte, die mag spannender als eine Radtour an der Mulde sein, aber sie würde auch zeitlich viel zu weit ins Vorvorgestern abschweifen. Was uns im Hier und Heute verbindet, ist das Reisen in Minimalbesetzung: Allein mit den eigenen Gedanken, nur mit dem eigenem Gepäck beladen, einfach der eigenen Nase folgen zu können, das ist ein allgemein recht unterschätzter Aspekt des Fahrens, da sind wir uns einig.

Gegen sechs mache ich mich zum mutmaßlichen Elfenbeiturm auf, ein Stück durch den Wald, dann bin ich an der "Deutschen Alleenstraße" Richtung Rosslau. Die "Alleenstraße" ist hier allerdings das Gegenteil einer Allee - kein Baum, kein Strauch soweit das Auge sieht. Die vierspurig ausgebaute B 184 evoziert eher den Charm einer Autobahn und ist für Radler dementsprechend gesperrt - ein mittels getrennter Radweg verläuft parallel. Über sieben Brücken musst du fahren, sagte der "Ureinwohner": Vielleicht sind es auch nur sechs. Da sehe ich schon den Elfenbeinturm leuchten, das einstige Elbzollhaus, das nun zur vollautomatischen Herberge umfunktioniert ist, eingeklemmt zwischen vier Spuren Fernverkehr - und??? Als sei die vierspurige Straße nicht genug, liegt hinter dem Turm noch eine zweigleisige Bahnstrecke! Das geht nun wahrlich nicht, sage ich entschlossen zu mir selbst. Später auch zur Chefin des Herbergsbetriebes, die mir mit einem blauen Kleinwagen entgegenkommt.

Da die Chefin weiß, dass ich mit dem Rad unterwegs bin, kann sie mich sofort als jenen Gast identifizieren, mit dem sie schon telefonierte, und hält an, mich zu begrüßen. Für den Moment ist sie etwas pikiert über mein Geht-gar-nicht, doch ich bitte sie, eine Alternative zu erwägen - vielleicht wäre ja im Landhaus selbst noch was frei, ich hätte da keinerlei Ansprüche an Komfort, wenn ich doch nur meinen Schlaf der Gerechten schlafen könnte. Sie fingert etwas auf ihrem Smartphon herum, ein paar Klicks in ihrem elektronischen Jackentaschenbüro, dann beruhigt sie mich: „Ich kümmere mich darum, bin um sieben auch drüben.“ Gut, also zurück zum Landhaus, wo sich inzwischen viele Besucher um eine Feuerstelle tummeln - und am Imbissfenser anstellen: Aus dem hohlen finstern Tor dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn... Jedenfalls wollen die herausgeputzen Menschen den Samstagabend am vorbereiteten Osterfeuer ausklingen lassen.

Nur mit dem Anzünden des frischen Holzes ist das so eine Sache. Das männliche Personal scheint sich zu helfen zu wissen - mit Servietten und Lampenöl... Ob das reicht? Viel weißer Rauch ist noch kein Osterfeuer. Von Pusten und Fächeln weiß die Lagerfeuer-App im Smartphone wohl noch nichts. Dann triit der alte Hausmeister als Meister des Feuers in Aktion, er bringt die Sache etwas voran. Lagerfeuerkundige Väter erklären ihren Söhnen, wie und wo man was nachlegen könnte, sollte, müsste, damit es hoffentlich bald richtig lodert. Auch der alte Indianer in mir würde am liebsten nachlegen und eigene Brandbeschleunigungsratschläge erteilen. Doch ich bemühe mich um die höchste Form der Askese, die jemand anstreben kann, der berufsmäßig gewohnt ist, den Oberlehrer raushängen zu lassen: Ich versuche, mich komplett rauszuhalten,

Ich bleibe völlig gelassen, sehe gar nicht hin, verharre in apathischer Regungslosigkeit, unterdrücke jegliches Staunen über die feuerkünstlerisch unterqualifizierte Smartphon-Generation. Meine Selbstbeherrschung ist bewunderungswürdig, aber ich zeige sie nicht. Ich beherrsche sie! Ich bleibe einfach nur stark und behalte meine pyromanischen Fachkenntnisse für mich. Mein bei Millionen von Lagerfeuern praxiserprobtes Schmamanenwissen könnte hilfreich sein, aber nein, ich verharre in Belehrungslosigkeit. Was geht mich fremder Leute Unvermögen an! Ich schweige und trinke ein Glas Chianti. Und beginne Söhnchens Mutti mit meiner stoischen Gelassenheit zu bezirzen. Auch zwei ganz junge Dinger lassen sich kurzzeitig davon abhalten, ihre Smartphones im Minutentakt um Neuigkeiten anzuflehen. Nach dem dritten Glas streue ich noch einige kleine Schmeicheleinheiten unters Weibervolk. Dafür ernte ich das bezauberndste Blondinenlächeln aller Zeiten Das vierte Glas nehme ich mit in meine Destination.


Sonntagmorgen. Frühstück um halb acht? Geht nicht... Um die Zeit trudelt hier erst das Personal ein. Ab acht, ja, kein Problem, da sei dann jemand da. Damit muss ich leben. Denn kein Mensch außer einem Radler, der für seine ganztägige Tour das Tageslicht nutzen will, mag am Ostersonntag schon vor acht Uhr morgens frühstücken. Aber das Frühstück ist bestellt, es will bezahlt und gegessen werden. In der Zeit bis acht könnte ich eine kleine Spazierrunde durch das Birkenwäldchen vor meinem Fenster drehen. Die Morgensonne blinzelt rosa durch die Zweige - und die Vöglein tirillieren: Alle Vöglein sind schon da. Auf den Wiesen glitzert das Morgentau - schön ist das...



Doch leider kann ich nicht hinaus, die Haustür ist verschlossen - und die Tür zum Restaurant, zum Frühstücksraum, ebenso. Das heißt: Ich bin komplett eingeschlossen! Hallo, ist da jemand? Niemand hört mich, niemand antwortet. Ich stehe in einem engen Flur vor zwei verschlossenen Türen, bin eingesperrt nach allen Seiten, gefangen in einer Herberge. Wenn ich nach 30 Jahren mit Stacheldraht und Mauer in meiner zweiten Lebenshälfte irgendwas mit ganzer Abscheu hasse, dann ist das ein Haus, in dem ich eingeschlossen bin. Eingeschlossen durch Zuarbeiter der "freien" Marktwirtschaft. Das ist Freiheitsberaubung! Sicherheitsverwahrung! Beugehaft! Wozu? Woher nehmen sich diesen Systemsklaven die Dreistigkeit, die Befugnis, das Recht, mich einzusperren? Sie machen ihre spießigen Gewohnheiten, ihre Ängste und Geborgenheitsbedürfnisse zur allgemeinen Norm - und benutzen ihren Hausschlüssel, um Gäste einzusperren, als wären es ihre Haustiere! Wo leben wir eigentlich? Ein Vierteljahrhundert nach Honecker und Mielke wird man in einem Hotelbetrieb eingeschlossen wie in einer NVA-Kaserne! Und davon abgesehen: Was wäre bei einem Brand im Haus? Da bliebe mir nur der Weg aus dem Fenster? Aus dem Obergeschoss! Doch selbst einige Fenster haben Schloss und Riegel, sind abgeschlossen!

Okay, Herr, gib mir die Kraft zu ändern, was ich ändern kann, zu dulden, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden... 1) Einsicht: Diese Tür öffnet sich nicht durch meinen Zorn. 2) Also: Adrenalinspiegel runterfahren! 3) Warten, bis jemand kommt und aufschließt. 4) Sublimieren: Die allermeisten Menschen dieser irdischen Gefilde finden sich mit ihren selbstgemachten Gefängnissen ab, sie merken es gar nicht, sind ihren Käfig gewohnt - wie die Löwen und Tiger im Zoo, die ihr Außengehege für die Serengeit halten. Käme da jemand und sagte ihnen "Ihr seid frei, ihr könnt jetzt gehen", sie würden sich ratlos in die Gesichter starren - und fragen: Aber wohin? Wohin sollen wir gehen?

Vorgestern, als der nagelneue mp3-Player noch Saft auf seinem Akku hatte, zog ich mir während des Radelns eine Lesung rein, Seneca: Über die Seelenruhe... Die Theorie könnte glatt von mir sein. Wohlfeile Weisheiten der Antike sind heute leider nur partiell praktikabel. Um in der Gegenwart überleben zu können, muss man sich eine harte Schale zulegen. Als edler Pedalritter durch den lebensfeindlichen, hupenden Menschenrest, zu radeln, da hilft nur: Augen und Ohren zu und durch!




Von Dessau nach Meißen
auf dem Elbe-Radweg

Mal sehn, wie weit ich es heute schaffe. Für die 200 Kilometer heimwärts habe ich wohlweißlich kein Zimmer gebucht. Der quasi steigungslose Elbe-Radweg ermöglicht je nach Beschaffenheit der Piste größere Etappen als eine Fahrt durchs Erzgebirge. Nach wenigen Kilometern bin ich am "Fortshaus Leiner Berg". Der Wirt löscht gerade die Reste seines Osterfeuers ab. Ich frage ihn nach seinen Konditionen. Übernachtungen kosten 30 Euro - mit Frühstück. Das sollte man wissen, fürs nächste Mal...



Kurz vor einer Rechtskurve steht ein Radwegweiser, der entsprechend nach rechts zeigt. Inmitten einer herrlichen Auenlandschaft geht der geschotterte Weg allerdings in einen Trampelpfad auf einer Wiese über und verliert sich dann ganz im grünen Feld. Hier stimmt was nicht, das kann nicht der berühmte Elbe-Radweg sein, der laut ADFC Deutschlands beliebtester Radweg ist. Alles wieder zurück - bis zu dem Wegweiser, sagt der Schäfer, dem ich begegne. Der Wegweiser meint, so wird dort klar, den kleinen Abzweig vor der Kurve. Aber dann müsste das Zeichen auch vor dem Abzweig und nicht dahinter stehen, so wie es allgemein üblich ist und um so mehr wenn es zu Missverständnissen führen kann - hier haben sich gewiss schon viele andere Radler verfahren. Nur 20 Meter weiter steht dann die Bestätigung, ein weiteres Schild, das besagt: Alle Rad- und Wanderwege führen von hier aus geradeaus weiter...



Aber was ist mit dem Verbotsschild? Soll ich das ernst nehmen? Es gibt keine Absperrung und es ist bis zum Horizont nichts in Sicht, was auf ein Hinderniss schließen ließe. Im Dunst am Horizont sind zwei Radler erkennen, die kommen mir entgegen. Zwei Einheimische, und die wissen, dass das Schild schon seit dem letzten Hochwasser hier steht - seit zwei Jahren also...

 
Einen Kilometer weiter informiert eine Tafel über die "Aufwertung und langfristige Sicherstellung im Natura 2000 Gebiet Dessau-Wörlitzer Elbauen." Unter "Projektvorhaben" und "Projektziel" lese ich, dass hier alles wieder dem Lauf der Natur überlassen werden soll. Und genau diesen Eindruck macht hier auch der Radweg. Irgendwie bekomme ich den Eindruck, die Erstellung der Infotafel war in den letzten 15 Jahren der teuerste Einzelposten. Vielleicht sollte ich im nächsten Leben "Projektleiter" werden...

Auch am Ende des Weges durch die "Natura 2000" steht ein Verbotsschild für Radfahrer - ohne jeden erkennbaren Grund. Vielleicht ist der letzte Projektleiter in Rente gegangen, und dann konnte die Projektstelle nicht wieder besetzt werden. Oder die Projektfinanzierung hat sich ausfianziert? Nun können die vergessenen Schilder dort bis in alle Ewigigkeit das Radlervolk verwirren - und lehren, dass im Zweifel auch für Verkehrsschilder die Unschuldsvermutung gilt.



Einsamkeit im Gartenreich Dessau-Wörlitz... In den frühen Morgenstunden ist die Solitude am Sieglitzer Berg ein wahrlich exklusiver Ort. Wie mag das damals gewesen sein, so ganz früher, im 18 Jahrhundert? Vielleicht ließ der Landesfürst einfach seinen für "Natura 1800" zuständigen Projektleiter zu sich kommen - und sagte: Wie lange braucht er, in einem meiner zahllosen Wälder einen bescheidenen kleinen Tempel zu meinem ewigen Ruhme zu errichten? Mag der Projektleiter geantwortet haben: Acht Monate. Sprach der Fürst wohl: Er hat acht Wochen!

Der Name des realen Fürsten, der sich 1777 hier ein den Geschmack der Zeit befriedigendes Gartenhäuschen in die Flur stellen ließ, war Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau, ein Enkel des alten Dessauers. Fürst Franz, ganz untertänigst auch Vater Franz genannt, war ein Kind der Aufklärung. Mit seinem Reformgeist brachte er dem Land wirtschaftlichen Aufschwung, sagt das Geschichtsbuch, mit der Zahlung von Kontributionen (Erpressungsgeld) an Preußen ersparte er seinen Untertanen, gegen die Armee des königlichen Haudegens von Sanssouci anzutreten. Zur Begleichung der Forderungen des alten Fritzen griif Franz angeblich nur in seine private Sparbüchse, offenbar blieb ihm noch etwas Geld für so manches gärtnerische Anwesen - am bekanntesten ist der Wörlitzer Schlosspark. Doch hier, ein paar Meilen vor Wörlitz, an einem Waldweg versteckt, erstrahlt in frischem Weiß die einstige Gartenlaube des Fürsten - mit ihrer güldenen Widmung: Der Besserung.

Der Zahn der Zeit hatte an den Gemäuern genagt - und auch manche Patrone aus Karabinern und Kalaschnikows... Die Kulturbanausen der SED ließen das Anwesen schließlich bis auf die Fundamente schleifen. Seit 2012 kann man sich hier wieder fürstlich einsam fühlen, der Rotary Club Dessau engagierte sich für die Restaurierung, de facto ein Nachbau auf den verbliebenen Grundmauern. Heute lässt sich die Solitude für Geselligkeiten mieten, zum Beispiel "für Familienfeiern", sagte der Direktor der Kulturstiftung Dessau zur Einweihung - die "Rahmenbedingungen" erfahre man auf Anfrage. Man kann das mit Hinblick auf die 800-Jahrfeier von Dessau (2013) vollendete "Geschenk an die Bevölkerung" aber auch kostenlos umkreisen und ganz ohne Rahmenbedingungen davor herumposieren, die wärmenden Finger des Helios auf seiner Nasenspitze kitzeln lassen - oder anderweitig fürstlich einsam tun.



Die Elbauen bieten dem scheuen Graureiher ein gut überschaubares Exerzierfeld. Seinem scharfen Auge entgeht nichts, erst recht kein Radler: Traue keinem, der anhält! lautet das Motto des notorischen Einzelgängers - ich glaube, ich werde ihm immer ähnlicher, seit ich mit dem Rad durchs Land fliege. Hinter einem fernen Gestrüpp versteckt gelingt mir mit ruhiger Hand ein Foto. Dann kann ich sein vorsichtiges Schreiten noch ein Weilchen beobachten, bis ihn irgendwas veranlasst, die Flügel zu schwingen, sich in die Lüfte zu erheben, von dannen zu segeln. Auch das Schwanenparadies in den Auen kurz vor Wörlitz ist eine Augenweide - bestimmt zwei Dutzend Paare genießen hinterm Deich, außer Sichtweite des Radweges, die erhabenste Stille - und beglücken mit ihr jeden wahren Naturfreund. Auf dem Weg nach Wörlitz passiere ich "die reizendste Wildnis, die ich kenne" - mit diesen noch immer gültigen Worten zitierte eine Infotafel den Schriftsteller Charles Joseph de Ligne, dessen Kutsche auf diplomatischen Missionen zwischen den Höfen von Brüssel, Potsdam und St. Petersburg gelegentlich in den Wörlitzer Fluren innehielt.



Nach seiner standesgemäß-obligatorischen Italien-Reise ließ der spendable Fürst Franz am östlichen Ende des Wörlitzer Parks den daheimgebliebenen Untertanen ein Stück süditalienische Idylle nachbauen, samt feuerspeiendem Mini-Vesuv - Vorbild für heutige Erlebnisparks in aller Welt? Nicht ganz, denn der Park ist nach wie vor, trotz aller marktwirtschaftlichen Rahmenbedingen, frei zugänglich. Dennoch ist des Volkes Getümmel kaum zu spüren - noch nicht! Bis Mittag werden auf den Parkplätzen dann wohl die ersten 20 Reisebusse eingetrudelt sein...

Der Betreiber eines Wörlitzer Gartenlokals glaubt, mit dem Angebot "kostenloser Fahrradparkplatz" imponierien zu können... So macht eben heute jeder zugereiste Möchtegernfürst seine "Geschenke an die Bevölkerung"...
 

Ich lasse das klassizistische Schloss - und alle im Umfeld ausgelegten gastronomischen Köder - links liegen. Auch das altehrwürdige Wittenberg, das ich schon früher einmal besuchte, lasse ich links, das heißt rechtselbig, liegen, zumal mir die Lutherstadt, nach genauer Kartenbesichtigung, einen Umweg abfordern würde, den mein vom Kälteschock lädiertes Knie sofort abwählt. Querfeldein fahre ich südlich der Elbe, linkselbig, über die Dörfer, bis ich im Dörfchen Bleddin wieder auf dem Elbe-Radweg treffe, welcher hier an einem alten Flussarm der Elbe entlangführt und nicht beschildert ist. Um mich zu vergewissern, möchte ich Auskunft einholen, doch weit und breit ist niemand auf der Straße. In einem Haus höre ich Kinderstimmen, ich halte an und rufe. Niemand kommt ans Fenster, aber eine Knabenstimme fragt zurück: Elbe-Radweg? - Durch die Gardine erkenne ich einen zweiten Jungen, auch der hat noch nie was vom Elbe-Radweg gehört. Ein Stück weiter begegne ich drei Frauen, die geben mir Gewissheit, dass ich richtig sei und einfach nur geradeaus weiter fahren müsse.

 
Nach Bleddin geht es auf dem Deich entlang, aus lichter Höher ist die Umgebung besser zu erkennen. Bei einem stillen Tümpel hat jemand einen alten Picknick-Stuhl an den Wegesrand gestellt - den funktioniere ich kurzerhand zum Tischlein um und halte in der Mittagssonne Rast. Gelegentlich vorbeiradelnde Einheimische wünschen mir Frohe Ostern.


Nach einem Dörfchen mit dem putzigen Namen Bösewig zweigt links eine Straße ab. Einem Schildchens der Marke Eigenbau verdanken über die Jahre wohl schon Tausende Elbe-Radwegbenutzer unnötige Umwege! Meiner vagen These nach geben sich die Bewohner von Bösewig besonders Mühe, damit aus dem Nomen kein Omen wird...
 

Nach der kleinen Stadt Dommitzsch begebe ich mich auf Quartiersuche, mein oberstes Credo ist Ruhe fern ab von Durchgangsstraßen. Da bietet sich zunächst das Gasthaus an der Gierseilfähre an, aber da stehen drei Autos davor, für mich drei zu viel! Denn das ist ein Hinweis, dass hier bis in die Nacht die Autotüren klacken, trunkene Gäste vor der Tür labern, kichern, streiten - nervt, also weiter. Als nächstes ist auf meiner Karte ein Reiterhof in Polbitz eingetragen.



Die Hochwassermauer an der Einfahrt nach Polbitz
wirkt solide - aus der Ferne wenigstens. Es gibt genügend Gründe, gegen technokratische Allmachtsphantasien kritisch zu bleiben. Aber derzeitig sind die Elbefluten fern, alles eitel Sonnenschein. Relevant ist eher meine Befürchtung, dass sich da über Ostern schon einige pferdenärrische Großfamilien einquartiert haben könnten. Erst mal hinfahren, dann bin ich klüger. Ich klingle am Hoftor, eine Frau öffnet mir. Ich frage, ob ich mein müdes Haupt in ihrem Hause zur Ruhe betten könne. Ja, die ursprünglich angemeldeten Gäste hätte wegen der düsteren Wettervorhersage abgesagt, alles ist frei. Wumbaba!



Ein Bilderbuchdörfchen ganz nach meinem Geschmack. Das Dorf hat nur eine Straße und die ist eine Sackgasse, Verkehrslärm ist das nicht zu befürchten. Auch sonst verspricht das Dorf mit dem alten Straßenpflaster friedliche Abend- und Nachtstunden. Alles ein bissel wie früher - als wäre hier die Zeit stehen geblieben.
Kein Traktor, kein Rasenmäher, noch nicht einmal kein kläffernder Hund stören mein empfindliches Musikergehör.

 


Das mit dem Reiterhof sei schon Jahre vorbei, sagt die Wirtin, die mich durch den Viersaitenhof aus dem 18. Jahrhundert
führt. Wer aber mit dem borstigen "Streichelzoo" vorlieb nehmen kann, findet auch seine Kurzweil. Doch Vorsicht ist geboten! So eine eierlegende Wollmichsau kann beißen wie ein Wildschwein. Der elektrische Draht möge sie von meinen strammen Radlerwaden fernhalten. Letztere hatten gerade eben die kribbelige Bekanntschaft mit dem Draht gemacht - das zeugt davon, dass hier nicht nur Placebo-Strom anliegt.


Bei Elbfluten wie 2002 ist die Dorfidylle hier allerdings vorbei. Hochwasser ergossen sich zu allen Zeiten in die weite Auenlandschaft. Irgendwie arrangierten sich die Menschen früherer Jahrhunderte mit den Eskapaden der Natur. Die Parterrezimmer wurden ausgeräumt, die Möbel auf den Dachboden geschafft, selbst fürs liebe Vieh ging es dann über eine Treppe ins Obergeschoss des Stalls. Nach einer Woche ging es dann ans Saubermachen und man half sich wohl unter Nachbarn. Irgendwie hat das damals funktioniert. Auszeichnungen und Orden für "Fluthelfer", die ihren Subotnik nachweisen konnten, gab es damals nicht...

Seit 2007 soll ein erhöhter Deich ums Dorf dafür sorgen, dass jede Kuh im Dorf trockene Füße behällt. Als im Juni 2013 die erste Bewährungsprobe überstanden war, titelte eine Zeitung: "Ringdeich bestand sein Feuertaufe"... Was der Titel wie der dazu gehörige Artikel verschweigen, ist die Tatsache, dass der Deich zu lecken begann und Schlimmeres wahrscheinlich nur durch die Entlastung infolge eines anderen Dammbruchs vermieden wurde. Das zumindest legen die letzten drei Strophen eines Gedichtes nahe, deren Verfasserin Stefanie Robrecht heißt.

 






Ostermontag

Was für eine herrlich ruhige Nacht das war! Und zum Frühstück habe ich ein ganzes Büffett für mich allein. Der Wirt bittet mich, sein neues Gästebuch einzuweihen: Aber nur Positives! - Klar, mach ich gern. Der Himmel ist heiter, auf zur letzten Etappe. Nach höchstens einer Meile lädt ein einmaliges "Sitzgruppenensemble" zum Verweilen ein - und eine Infotafel zur Schließung bestehender Bildungslücken über Elsnig.

 

Jedes Dorf hat seine ganz große Geschichte, auch Elsnig. Luther und Friedrich der Große seien zu Besuch gewesen, weiß die Infotafel, und sächsische Fürsten und Herzoge. Just vor 200 Sommern, anno 1815, endet die Historie schlagartig: "Elsnig ging an den preußischen Staat über." Dabei spricht einiges dafür, dass hier noch lange nicht aller Tage Abend ist. Denn welcher Ort kann schon mit einem so einmaligen "Sitzgruppenensemble" aufwarten!

Der Radweg immitiert nun bis Torgau die Mäander der Elbe. Um mein lädiertes Knie zu schonen, entschließe ich mich zu einer Abkürzung und nehme ab Elsnig die fast schnurgerade "Fürstenstraße der Wettiner". Erst in Torgau schwenke ich durch den Stadtpark zur Elbstraße hinab. Die Burg und den Bärenzwinger kenn ich schon von einem früheren Besuch der Stadt. In die traurigen Augen der beiden zu lebenslanger Festungshaft verurteilten Braunbären möchte ich nicht noch einmal blicken. Was war ihr Verbrechen? Eigentlich weiter nichts als dass sie große starke Tiere sind. Menschen finden es niedlich, große und starke Tiere in Zwinger zu zwingen und füttern zu können.

Beim sowjetischen Ehrenmal, das anlässlich des Zusammentreffens der Alliierten zum Ende des 2. Weltkrieges nahe der Torgauer Elbquerung errichtet wurde, bin ich erstmalig. Sitzbänke, eine Infotafel und der Blick ans andere Ufer bieten sich auch für eine profane Kaffeepause an. Während ich meine Thermoskanne öffne, trifft ein junger Radler ein - mit einem riesigen Armee-Rucksack beladen. Wir beäugen uns ein Weilchen schweigend, dann kommen wir ins Gespräch. Für ihn ist es die erste große Radtour, von Berlin nach Torgau - an einem Tag! Mein Respekt ist ihm sicher. Unser kleiner Erfahrungsaustausch konzentriert sich auf das Thema Gepäck und wetterfeste Kleidung. Ich empfehle ihm, sein Gepäck künftig besser am Rad zu verteilen, statt alles auf dem Rücken zu packen. Er gibt mir den Tipp, mir als ultimatives Schuhwerk die geländetauglichen Bundeswehrstiefel zu besorgen, aus einem Military-Shop, am besten schon eingelaufene.

Da begegnen sich also Anfang April 2015, nahe am 70. Jahrestag der historischen Begegnung der Weltkriegsalliierten, zwei jungendliche deutsche Radwanderer, einer gut unter 20, der andere gut unter 60, in unmittelbarer Nähe des nicht minder historischen Denkmals - und werden sich einig, dass Stiefel, die für Soldaten in matschigen Schlachtfeldern geschustert wurden, für Radler auf nassen Radtouren nicht weniger geeignet sind.
 

Einige Kilometer nach Torgau kreuzt der Radweg wieder die "Fürstenstraße der Wettiner", in die ich nach links abbiege, um etwas abzukürzen. Bei Weßnig kreuzt von rechts wieder der Radweg, dem ich nun über die Dörfer bis nach Belgern folge. Dort bietet sich erneut die "Fürstenstraße" an, die geradewgs zur Elbbrücke bei Plotha führt. Regenschleier begleiten meine Fahrt. Vorbeugend ziehe ich mein knallrotes Fahrradcape über, denn das könnte gleichzeitig als Segel dienen, da der Wind von hinten schiebt - funktioniert tatsächlich, ich muss kaum treten, kann mein schmerzendes Knie etwas entlasten.

Ich quere den Fluss und drehe ostelbig eine Acht durchs mittelalterlich erhaltene, ausgestorben wirkende Mühlberg. Dem holprigen Straßenpflaster der heute kaum noch 4000 Seelen zählenden Klosterstadt entkomme ich erneut über die "Fürstenstraße". Wenn die Wettiner Fürsten nun schon mal hier im Dreischichtsystem sechs Tage die Woche im Straßenbau geschuftet haben, dann ehre ich das hohe Fürstengeschlecht wohl sicher am besten, indem ich dieser Straße folge, die hier - als sehr verkehrsarme Landstraße - bis Fichtenberg eine vorzügliche Abkürzung darstellt. Ab dort folge ich dem beschilderten Radweg nach Gaitzsch.

Auf anderen Schildern heißt der Ort dann Gaitzschhäuser - und mehr als ein Dutzend Häuser an einer Biegung der Elbe ist das Dörfchen auch nicht. Die gehören bis auf eine kaum mehr als einen Hektar umfassende sächsische Enklave zu Brandenburg. Die historischen Hintergründe, weshalb im südlichsten Zipfel Brandenburgs ein einziges sächsisches Grundstück durch wenige Schritte vom übrigen Sachsen getrennt ist, bleiben mir vorläufig rätselhaft. Geht der Besitzer auf die Dorfstraße, ist er in Brandenburg, bleibt er in seinem Garten, steht er auf sächsischer Erde. Doch diese unscheinbare, an einem großartigen Elbpanorama gelegene Siedlung stellt mir zunächst eine ganz andere Frage: Wo mag hier das Große Wasser von 2002 gestanden haben? Einige Häuser stehen quasi direkt auf dem Deich. Ich frage einen alten Mann, der mit seiner kleinen Enkelin umherspaziert. Ein Stück weiter vorn am Deich sei eine Treppe, auf der fände ich die Hochwassermarken. Die Marke des Jahrhunderthochwassers befindet sich zweieinhalb Stufen unter der Oberkante des Deiches, die Marke von 2013 ein paar Stufen drunter.

Auf der Deichkrone schlürft ein anderer alter Mann, gestützt auf seinem Weidenstock. Ob ihn die Elbe schon mal in seinem Haus besucht habe, frage ich. Nein, nur Grundwasser im Keller. - Was Hochwasser betrifft, da kann ich in Laubegast zu Dresden gut mitreden, erkläre ich ihm mein Interesse. - Da wollte euch die Polizei wohl auch evakuieren, fragt er mich. Ja, wollte sie, aber tagelang mit hundert Leuten in einer Turnhalle kampieren, das sei für mich auch keine Lösung, antworte ich. Er grinst: Da kam hier damals ein Polizist an und meinte, wir müssten weg, es käme eine große Welle!
 


Ich male eine hohe Welle in die Luft - so hat sich der Grünschnabel wahrscheinlich die große Welle vorgestellt. Der alte Mann nickt zustimmend. So eine Welle verlaufe sich, habe er dem Beamten versucht zu erklären. - Wenn ich von hier über die riesigen Auen und Felder da drüben am anderen Ufer sehe, weiß ich sofort, wohin die Welle sich verläuft. Ist der Kirchturm dahinten schon Strehla?



Ja. Und da vorne am hiesigen Ufer, bei Krienitz, da sind damals die Russen und die Amis aufeinander getroffen. Tausende Flüchtlinge, noch kurz zuvor über Pontons ans vermeintlich sichere Westufer gelangt, standen plötzlich zwischen den Fronten, da gab es Beschuss von beiden Seiten. An diesem makaberen Ort wäre ein heroisches sowjetisches Siegesmonument sicher unpassend gewesen. Vielleicht wurde das historische Zusammentreffen der Alliierten allein deshalb am nächsten Tag an der 30 Kilometer entfernten, zerstörten Torgauer Brücke nachgestellt - und mittels des dortigen Denkmals später ins kollektive Gedächtnis graviert. Aber es mag weitere Gründe für das Verschweigen des Originalschauplatzes gegeben haben.

Hier unten, direkt am Ufer, sagt der alte Mann, wurde immer die Tribüne für Honecker und Stoph aufgebaut - und anschließend von Wachposten nicht mehr aus den Augen gelassen. - Tribüne? Tribüne für was? - Für die Manöver. Die Russen haben hier mit ihren Panzern Unterwasserfahrten geübt. Bei einem ist mitten im Fluss die Kette gerissen. - Und? Sind die armen Kerle da lebend rausgekommen? - Sie haben es sicher versucht, aber zwischen Theorie und Praxis der Flutung ist sicher ein Unterschied, kommentiert der Alte lapidar.

Der alte Mann und der Fluss - wahrscheinlich könnte er noch mehr haarsträubende Geschichten erzählen. An diesem heute so idyllisch anmutenden Fleckchen Erde stand er also mehrfach ganz vorn an der blutigen Rampe der Weltgeschichte. Seine lapidaren Kommentare interpretiere ich als eine gewisse Genugtuung, all den Wahnsinn irgendwie überlebt zu haben. Wer kann, wer will es ihm verdenken!

Gern würde ich mich noch weiter mit ihm unterhalten. Doch es ist schon später Nachmittag, ich muss weiter. Kaum ein paar huntert Meter wieder im Sattel  staune ich, dass von all dem tragischen Geschehen nichts ins Bewusstsein dringen kann, wenn man nur ahnungslos vorüber radelt. Die kleine Plauderei mit einem der letzten Zeitzeugen hat mich sehr nachdenklich gemacht. Und heute? Ein Naturlehrpfad führt durchs Gelände, Wald zur Linken, rechts der Fluss - und in einer Lichtung taucht ein betoniertes Stück Ufer auf - dort dürfte einst schweres militärisches Gerät im Einsatz gewesen sein. Eine Infotafel erläutert bildreich die Flora und Fauna des Biotops, erwähnt aber nur beiläufig die hiesige Begegnung der alliierten Panzerarmeen und die späteren Manöver des Warschauer Paktes.

In Riesa führt der Elbe-Radweg über die Brücke ans westliche Ufer. Doch die Betonghettos am anderen Ufer sind so abstoßend, dass ich auf der ostelbigen Seite bleibe und den Schildern nach Diesbar-Seußlitz folge. Der Radweg führt auf dem Deich entlang, der ein kurzes Stück weiter auf Ausbesserung oder Vollendung harrt. Deshalb ist dort der Radweg gesperrt, wohl schon seit längerem. Ein mir entgegenkommender Fußgänger verrät mir, dass man an der verwaisten Baustelle dennoch durchkommt. Nach einer schutzlosen Strecke zwischen Fluss und Feldern, wo mich der Wind als Spielball nimmt, gelange ich in die sehr flussnahe Eigenheimsiedlung von Grödel. Meinem Eindruck nach sind etliche Häuser erst nach den Rekord-Hochwassern des jungen Jahrhunderts gebaut worden. Gegen diese offenherzige Einladung für Elbfluten erscheint mir selbst mein Wohnsitz am Laubegaster Ufer in Dresden als feste Wasserburg! Und ich frage mich: Warum bauen Menschen - aller besseren Erkenntnis zum Trotz - weiterhin ihre Wohnhäuser so nah und so flach in die Strömungsbiegung eines großen Flusses? Weil die Grundstückspreise günstig waren? Ich sehe sie schon voller Enthusiasmus Sandsäcke schleppen - und damit der nächsten naiven Hoffnung aufsitzen...



Nach der nächsten Flussbiegung verschandeln die Chemiewerke von Nünchritz den Horizont. Das Gewirr aus Rohren, Schornsteinen und Silos ragt in den grauen, regenschweren Himmel. Ein Rabe kontrolliert das Revier. Der "größte Chemiearbeitgeber Sachsens" ist auf 1400 Arbeitsplätze stolz. Und was produzieren die Glücklichen während der ihnen gegebenen Arbeit?

Produkte auf Silicon-Basis, verrät mir die Infotafel, als elastische Kleb- und Dichtstoffe im Baubereich verwendbar, klar, wo sonst. Aber auch als Antischaummittel in Kläranlagen, Lebensmitteln, Waschmitteln... MOMENT mal! Habe ich da eben gelesen: in Lebensmitteln? Hääää??? - Was haben Antischaummittel auf Silicon-Basis in Lebensmitteln zu suchen? Was muss da, verdammt noch mal, entschäumt werden?

 


Wahrscheinlich ist das wie mit Sandsäcken und Globuli - man muss einfach dran glauben, dann hilft es... Der Preis der ungehemmten Industrialisierung ist hoch, zu teuer, finde ich - und geheuchelt. Dem grenzenlosen Altruismus verfallene "Arbeitgeber" bezeichnen es als "beeindruckende Erfolgsgeschichte", wenn sie "mit über 100 Jahren Tradition" die schönsten Landschaften der Welt verschandeln, Rohstoffe ausbeuten und daraus Dinge produzieren lassen, die keiner braucht, außer denen, die es sich einreden lassen, aber viel Luft, Erde und Wasser vergiften. Bildlich taucht vor mir der alte Mann mit seinem Weidenstock auf, wie er da steht und seinen Blick über die Ufer schweifen lässt und in die Weite. Irgendwie beneide ich ihn, der Umweltfrevel scheint ihm nur noch ein müdes, spöttisches Grinsen von den Lippen zu locken. In dem stillen Winkel dieses Landes, wo er schlussendlich fernab allen Getöses seinen Lebensabend genießen kann, lässt sich Frieden mit der Welt machen.



Nur wenige Kilometer nach dem Nünchritzer Chemiekoloss tauche ich in gepflasterte Gassen und Uferwege an steilen, bewaldeten Hängen ein. Eine kleine Treppe ist mit etwas Schwung leicht überwunden. Bei Leckwitz wird der Radweg sehr holprig - er führt über einen alten, denkmalgeschützten Treidelpfad. Wer auf dem groben Großsteinpflaster, auch Wildpflaster genannt, nicht freiwillig vom Rad steigt, dem ergeht es wie den beiden mir entgegenkommenden Radlern, die mich leicht entnervt fragen, wie lang diese Holperstrecke noch sei, während ich mich an der Infotafel in die Geschichte der Bomätscher vertieft hatte. In Trupps von sechs bis zu zehn Männern, so steht es geschrieben, zogen sie die Schiffe stroman, und zwar an dicken, über hundert Meter langen Leinen, woraus dann auch der Begriff Leinpfad resultiert. Obgleich ich nicht zum ersten Mal über den Knochenjob der Treidler lese, fasziniert mich die bildliche Darstellung eines Treideltrecks immer wieder: Wie sie da, allesamt in Lumpen gekleidet und doch streng nach Rängen geordnet, mühsam vorwärts stampfen, Schritt um Schritt, vielleicht im Rythmus eines ihrer Lieder: Sechs Groschen bringt das Trecken ein, das reicht für Brot und Branntewein. Wir können keine Stiefel kaufen und müssen immer barfuß laufen.



Die Abendsonne tunkt den nackten Sandstein eines alten Steinbruchs an der Elbschlaufe bei Diesbar-Seußlitz in ein flammendes Spiel aus Licht und Schatten, die Burgen und Schlösser der Wettiner waren gefräßig. Daneben kommen die ersten Weinberge in Sicht - und die dazugehörigen Besenwirtschaften. Die Schiffe der Sächsischen Dampfschifffahrt haben die seichte Hügellandschaft bei Meißen seit über einem Jahrhundert zum beliebten Ausflugsziel gemacht. Darum bieten zahlreiche Lokale außer Wein auch "gutbürgerliche Küche". Auf halben Weg nach Meißen, bei Zadel, kann man neben Meißner auch ungarischen Wein trinken - und dazu "Puszta-Csarda"-Spezialitäten verspeisen. Dazu gehören neuerlich auch argentinische Rindersteaks. Die rabenschwarzen Fleischlieferanten grasen einstweilen ahnungslos zwischen Küche und Biergarten. Wenn sie nur ihr Schicksal wüssten, würden sie uns wohl nicht mehr so treudoof mit ihrem unschuldigen Blick erfreuen können, wollen...

Bis hier war ich vor Jahren schon bei einer Tagestour aus Dresden geradelt. Daher weiß ich auch ohne Karte, was jetzt noch vor mir liegt, einer der schönsten Abschnitte der Ober-Elbe. Doch bis Laubegast zu Dresden sind es noch um die 40 Kilometer. In einer Stunde, um acht, ist es duster im Tal. Mein schmerzgeschundenes Knie protestiert energisch gegen die lange Strecke, die heute Mogen nördlich von Torgau begann, und hat längst die einstimmige Entscheidung gefasst: Meißen, S-Bahnhof, und keinen Meter weiter! Doch auch bis dahin muss ich erstmal kommen.



Am Ende des Tunnels, nein, am Ende des Horizontes ist Licht. Die Silhouette von Meißen schimmert im tiefen Winkel der letzten Sonnenstrahlen. Die erste Brücke ist schon zu sehen, bald habe ich sie unterquert. Doch an der zweiten scheitere ich, denn der Radweg ist von der Elbe geflutet. Es gibt demnach zwei Optionen, drüber oder drunter. Eine steile Treppe führt zur Brücke hinauf. Ohne Hilfe nicht zu schaffen - trotz der Fahrradschiene: keine Chance. Ein Pärchen mit Kind quält sich langsam die Stufen herunter. Der Vati sieht eher nicht so aus, als hätte er danach noch Lust, mir aufwärts zu helfen - zumal er sich zur Belohnung für den anstrengenden Abstieg gerade eine Zigarette anzündet. Zweite Option: Unter der Brücke durch, also durchs Wasser fahren, und sei's mit nassen Schuhen. - Ein prüfender Blick, doch in der Kurve ist nicht zu erkennen, wie es hinter der Brücke weitergeht. Nachher hab' ich nasse Füße und komme trotzdem nicht weiter? Nee! Muss nicht sein. Ich fahre wieder 500 Meter zurück, schiebe eine leichte Steigung hinauf, radle durch schmale Gassen, erreiche die Brücke von oben her und biege zum Bahnhof ab.

Mit Begeisterung entnehme ich dem Fahrplan, dass ich keine 10 Minuten zu warten habe. Ich packe meinen letzten Proviant aus, trinke meinen letzten Tee - und schon fährt der Zug ein. Ich bin der einzige mit Rad, habe freie Platzwahl. Während der wilde Westen von Radebeul und das reizend besungene Kötzschenbroda an mir vorbeifliegen, bis mir die erleuchtete Kuppel der Frauenkrirche verrät, dass ich mich der Altstadt von Dresden nähere, ziehe ich Gesamtbilanz: Am Beginn der Tour musste ich witterungsbedingt kürzen, am Ende der Tour zeit- und schmerzbedingt - aber was soll's! Vom S-Bahn-Haltepunkt Dobritz bis Laubegast sind es noch ein paar Pedaltritte und schon bin ich daeeme - Destination erreicht, kurz vor der Finsternis, perfektes Timing. Nun wartet nur eine einsame, nach fünf ungeheizten Nächten durchgekühlte Zielprämie auf mich. Und wer von sich behaupten will, ein echter Alexander-Versteher zu sein, der wird keinen Zweifel daran hegen, dass ich die rot schimmernde, bereits vor der Fahrt entkorkte, teils vorgekostete, mittlerweile wohl gründlich durchdekandierte Flasche Medoc nicht mehr gar zu lange warten ließ.



ON THE R(O)AD
Unterwegs mit der Ukulele


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