Ich weiß nicht, was mich in jener Nacht nach dem Neujahrskonzert mit meinen Schülern geritten hatte - ich ließ es mir mit einer Flasche Wein gutgehen und danach traf ich eine folgenschwere Entscheidung, die ich nüchtern nicht getroffen hätte. Inspiriert durch die exotischen Fotos, die mein belgischer Musikfreund auf der kanarischen Insel La Palma während eines Rosenmontagsfestes gemacht hatte, erwachte in mir der ethnologische Feldforscher. Zunächst werfe ich einen Blick in den Kalender, um zu sehen, wie der Rosenmontag in diesem Jahr fallen würde. Bingo! Mitten in die Winterferien! Das wäre die Gelegenheit für einen großen Ausflug.
Ich passiere El Paso und lasse Los Llanos de Aridane, die zweitgrößte Stadt der Insel, links liegen. Zwischen Tijarafe und Tinizara, an einer auf etwa 1000 Meter über dem Meer gelegenen Straße der Westküste, befindet sich ein Restaurant namens Mirador La Muralla. Hier kann man sich Tapas (Teller mit verschiedenen Salamisorten, Schinken, Käse, Oliven) servieren und den Blick aufs Meer hinausschweifen lassen. Mit dem Ferglas erkennt man die Gewächshäuser der Obstplantagen bei den kleinen Küstenorten im Süden.
Luca fragt einen alten Mann nach dem Weg - das in einem Mix aus Spanisch und Italienisch geführte Gespräch hört sich flüssig an, doch Luca gesteht mir hinterher, dass er kaum die Hälfte verstanden habe. Ich selbst verstehe auch nur „ma-o-meno“ - mehr oder weniger da entlang. Dabei geraten wir auf einen völlig abgelegenen Weg, wo nur sehr selten ein Auto zu fahren scheint - Apfelsinenbäume lassen ihre reifen Früchte direkt auf die Straße fallen. Ich muss nur die Autotür öffnen, um von meinem Sitz aus Apfelsinen auflesen zu können. Der Weg endet dann - mas o menos - in einem Feld. Wir müssen umkehren, gelangen in abgelegene Bergdörfer - sprachliche Missverständnisse und sonstige Zufälle sind manchmal auch ein guter Reiseführer. In die urwaldartigen Täler des Lorbeerwaldes von Los Tilos dringt zu dieser Abendstunde kein Sonnenstrahl mehr - für eine kleine Wanderung ist es auch schon zu spät, zu kühl, zu nebelig. An der Ostküste in südlicher Richtung sucht Luca nach einem Platz zum Übernachten im Freien. Doch unterhalb der durch Tunnel führenden Straße ist kein geeigneter Platz zu finden. Ich biete Luca an, mit nach Santa Cruz zu mein Appartemento zu kommen - auf meinem Balkon sei er sicherer aufgehoben als zwischen den rauen Klippen an der nebligen Küste. Luca erwägt die Einladung ein Weilchen, doch dann glaubt er, eine geeignete Stelle gefunden zu haben, so dass er mein Angebot verwirft. Sei es Abenteuersucht, Naturliebe oder ein beschränktes Reisebudget, der junge Mann verpasst dadurch einen großartigen Abend in Santa Cruz. Abends in Santa Cruz de la Palma Mittels Mietwagen erkunde ich zunächst die Umgebung von Santa Cruz, zufällig komme ich an der idyllisch gelegenen Kirche Virgin de la Nieves vorbei - die spätnachmittägliche Sonne lässt sie erglänzen, doch ich habe den Farbfilm vergessen... Bevor ich am Abend in die schöne alte Stadt fahre, halte ich an meinem Appartemento und hole meine Lumix-Kamera und die Sony-Videocam. Schnell taucht die Sonne hinter dem Vulkangebirge ab. In der Stadt wird es duster, aber die meine Lumix schafft noch beachtliche Aufnahmen.
Musikalischer Höhepunkt ist die Teilnahme eines personalstarken und sangeskräftigen Ensembles, das seine Lieder mit typisch kanarischen Instrumenten begleitet - dazu gehören die mandolinenartige Bandurria und die ukulelenähnliche Timple, aber auch Bongos, Tambourin und eine Trompete sind im Einsatz. Dass ich gelich am zweiten Abend meines Inselurlaubes derartig berauschende Stunden erleben kann, ist äußerst beglückend. Dabei vergesse ich glatt, dass ich nicht mehr rauchen wollte. Aber wie soll das auch gehen - auf einer Insel, wo an jeder Ecke handgedrehte Zigarren angeboten werden und wo eine Schachtel Zigaretten nur 1,50 kostet? |
Einheimische aus allen Winkeln der Insel, aber auch Besucher von benachbarten Inseln und eine Kreuzschiffladung Touristen aus aller Welt treffen sich am Rosenmontag in Santa Cruz, ein Drei- bis Vierfaches der eigentlichen Hauptstadtbevölkerung. Palmerische Zeitungen übertreiben die Zahlen angeblich gern, allein die Kapazität an Übernachtungsmöglichkeiten begrenzt gar zu kühne Schätzungen. Im Gegensatz zu benachbarten Inseln wurde der rigorose Bau von Hotelburgen auf La Palma verhindert, was der Insel und ihrem Fest das besondere Flair bewahrt. |
Der Tag der Indianer |
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Noch hat der Puderverkäufer nicht viel zu tun und verfolgt das weiße Treiben etwas grießgrämig - das wird sich im Tagesverlauf, wenn es die hübchesten der Welt bei ihm Schlange stehen und die Münuen in seiner Kasse klimpern, ändern. Und dann wird auch sein dunkelblauer Pullover nicht mehr ganz so dunkelblau sein...
Die TV-Teams haben ihre Kameras mit Regencapes geschützt - vom exponierten Podest können sie das Treiben auf dem kleinen Marktplatz im historischen Zentrum von Santa Cruz filmen. Dort nimmt das Fest seinen Anfang, aber für die Musiker bleibt es den ganzen Tag über der Mittelpunkt des Geschehens - und in Letzteres stürze auch ich mich mit meiner handlichen Sony-Zeiss-Cam.
Will ich haben! Ich weiß nur noch nicht, woher ich an so was rankomme. Was der schönen Frau südlich ihres Kinns baumelt, nennt sich Timple - und ist einer meiner Reisegründe. Denn das ukulelen-ähnliche Intrument gibt es nur auf den kanarischen Inseln - und selbst hier in der Hauptsatdt von La Palma muss man Insiderwissen und Kontakte haben. Zwar weiß ich schon, wo der Instrumentenbauer seine Werkstatt hat, aber dort war er bisher nie anzutreffen. Das ist auch kein Wunder, denn am Samstag war Party, am Sonntag war Sonntag, und heute ist schon wieder Party. Natürlich ist er selbst unter den Musikern. Ich hatte bereits ein Foto von ihm gesehen und erkenne ihn mitten im Gewühl, spreche ihn an und mache einen Termin für morgen aus.
Meine Feldforschung bei den Indianerinnen und Indianern ist jedenfalls an diesem vierten Tag meiner Reise ganz auf ihre Kosten gekommen. Nicht nur Tonnen von Fotos schöner Frauen sind zu sortieren, auf Video gebannte musikalische Impressionen werden mich nach meiner Heimkehr wochenlang beschäftigen. Wenn ich meine Bilder und Töne von diesem Rosenmontag in Santa Cruz mit denen vergleiche, die der deutsche Fernsehfunk aus Köln oder Mainz sendet, weiß ich, dass die rheinländische Art von Karnevalsfestivitäten vergeudete Lebenszeit ist.
Weil die südwestliche Vulkanflanke vor Jahrmillionen in sich zusammenbrach öffnet sich das Tal des Kraters zur Westküste der Insel - mit dem Fenrglas sind die Dächer von Tazacorte zu erkennen.
Doofes Geld Ich kehre wieder auf der Terrasse des Mirador La Muralla ein. Ich bin an diesem herrlichen Aussichtspunkt nicht der einzige deutsche Tourist. Ein Rentnerpaar genießt die Sonne des Südens - und eine Familie mit einem Sohnemännlein, das, nun ja, zum abschreckenden Inbegriff antiautoritärer Erziehungslosigkeit missraten ist: Mama, kann ich Geld haben? Mama, Geheld! Mama! Ich will Spielzeug kaufen. Ich brauche Geld. Geheld! - Als die Nervensäge nach fünf Minuten vom Souvenirladen zurückkommt: Papa… Guck mal, was ich Doofes bekommen habe… Mama, das war doofes Geld… Papa, kann ich anderes Geld? Ich will was anderes kaufen! Schwer vorstellbar, aber der Junge bekommt tatsächlich noch mehr "doofes Geld" - um noch mehr "doofes" Zeug kaufen zu können. Die Eltern des Jungen verschaffen sich damit weitere fünf Minuten Ruhe. Auch ich nutze die Zeit - ich fordere die Rechnung für mein Tapas-Gedeck an. Nichts wie fort von hier, bevor das doofe Kind zurückkommt und weiternervt. Samba Party Als ich am späten Nachmittag nach Los Llanos de Aridane, der zweitgrößten Stadt der Insel, komme, bemerke ich buntes Treiben auf der Hauptstraße - wie es aussieht strömt alles zu einem Straßenumzug... Es ist Dienstag, Faschingsdienstag - Carnaval de Los Llanos. Vor allem wird getanzt - in bunten Kostümen, wie man es von den Bildern aus Rio de Janeiro kennt. Niemand vermisst den Pomp und Kommerz der brasilianischen Metropole - Karneval geht auch ohne die Kollateralschäden des Massentourismus.
Wer hätte gedacht, dass ich nach dem sinnesfrohen Tag der Indianer noch so viel Lustiges zu sehen bekomme - und dass ich auf einer so fernen Insel ein deutsches Kind erlebe, das die vor einer Minute selbst eingekauften Speilsachen für doof hält und deren Doofheit auf doofes Geld zurückführt. Auch ich wollte mir heute ein neues Spielzeug kaufen, eine Timple, wie sie die Musiker auf La Palma und anderen kanarischen Inseln spielen. Doch ich treffe Oscar, den Instrumentenbauer von Santa Cruz, nicht in seiner Werkstatt an. Aschermittwoch
An der Ostküste der Insel staut sich Nebel, auf dem Weg ins nördliche Santa Cruz reißt der Wind gelegentlich eine Lücke in den Nebel und zaubert Regenbogen übers Meer. Ich versuche es erneut mit einem Besuch in Oscars Musikwerkstatt auf. Diesmal ist die Jalousie hochgezogen und ich sehe Licht in der Werkstatt.
Nun bin ich Eigentümer eines dieser kleinen, ukulele-ähnlichen Instrumente, wie sie die Musiker während der Festivitäten spielten. Damit erfüllt sich ein weiterer Zweck meiner Reise. Auf dem Balkon meines Appartements mache ich es mir mit meinem neuen Spielzeug gemütlich und probiere die ersten Akkorde - die Stimmung des 5-saitigen Instrumentes ist wie die einer C-gestimmten Ukulele mit einer zusätzlichen D-Saite (G-C-E-A-D). Man kann also im wesentlichen die gleichen Griffe nutzen, muss aber bei Akkorden, bei denen das D nicht passt, die 5. Saite greifen. Das wird dann ein ganz anderer Griff und erfordert einige Übung. Ein letzter Tag Mein gestriger Sprung in südatlantische Wellen war vielleicht auch etwas leichtsinnig - das Kratzen im Hals kann aber auch die Feinstaub-Nachwirkung des Indianertages sein, als es in Santa Cruz nur noch gepuderte Luft zu atmen gab. Heute nehme ich einen dritten Anlauf zum Unesco-Weltnaturerbe-Gebiet Lorbeerwald von Los Tilos - die beiden vorigen Versuche scheiterten am Regen, der im Nordosten der Insel ein Abo hat. Heute scheint mir das Wetter gewogen zu sein.
Der vielseitige Künstler, der in Hippyzeiten als Musiker über die kanarischen Inseln tourte und die Liebe zu seiner Heimat mit traditionellen und eigenen Liedern pflegte, sieht den mittlerweile zum Massentourismus verkommenden Rummel inzwischen kritisch: "70.000 Besucher beim Día des Los Indianos sind fatal, das ist alles nur noch Theater in der Straße. Dabei war die Idee einst gut, denn beim Día de Los Indianos parodieren die Palmeros ihre ausgewanderten und reich zurückgekehrten Landsleute. Aber durch die Werbung für diesen Tag über die Insel hinaus kommen nun immer mehr Menschen. Die Politiker machen da einen großen Fehler, denn sie sehen das alles aus wirtschaftlicher Sicht. Aber als Künstler kämpfe ich dagegen an, denn die Indianos verlieren bei diesem Massenauflauf ihre Seele und die Veranstaltung ihre Identität." Das obige Zitat stammt aus einem online veröffentlichten Artikel* vom 11. Dezember 2014, also aus dem Jahr nach meinem Besuch - die (vielleicht etwas übertrieben) geschätzte Besucherzahl liegt da bereits doppelt so hoch wie bei meimem Besuch im Vorjahr. Sowohl an den ständig steigenden Besucherzahlen als auch am Erfolg des Kampfes gegen die weitere Kommerzialisierung des Festes darf gezweifelt werden. Letzeres ist zu bezweifeln, weil Politiker immer nur durch die Brille der Steuereinanhmen gucken können, Ersteres weil die Unterbringungskapazitäten von La Palma begrenzt sind, aber auch weil der Hafen nicht ausreichend Platz bietet, um die Schiffe der Tagesbesucher von benachbarten Inseln aufzunehmen. Mit zwei Kreuzfahrtschiffen dürfte der Hafen von Santa Cruz de la Palma bereits überfüllt sein... Ahnungslos fotografierte ich im Hafen von Santa Cruz ein Kreuzfahrtschiff. Erst einige Tage später lese ich über die Tragödie, die sich bereits am Vorabend des Indianertages ereignete: Fünf Seeleute der Thomson Majesty sind bei einer Routineübung im Hafen ums Leben gekommen, als ein Rettungsboot abstürzte und dabei acht Besatzungsmitglieder mit sich in die Tiefe riss - beim Absturz sind sie wohl aus dem Boot gefallen und dann von selbigem erschlagen worden. Nur drei der acht Männer konnten lebend geborgen werden.
Ich frage mich: Wenn eine Schönwetter-Übung im sicheren Hafen so tragisch endet, wie heikel muss dann erst der Ernstfall auf hoher See sein... Die zivile Seefahrt gilt heute als sicherste Verkehrsart - und zwar genau nach der Statistik (Todesfälle je Kilometer), mit der das die zivilie Luftfahrt von sich behauptet, die aber den Vergleich mit der Seefahrt unterschlägt und dafür den zu ihren Gunsten ausfallenden Straßenverkehr als Bezugsgröße nutzt. Heimflug Ich vertraue mich ein letztes Mal der zivilen Luftfahrt an und lande eine Woche nach meinem Hinflug wieder in Berlin, wo ich eine Nacht bei Freunden verbringe, bevor ich nachhause fahre. Zwar erlebe ich keinen Jetleg, aber einen Kälteschock - ich kehre aus dem ewigen Frühling der Kanaren-Inseln ins frostige Deutschland heim - ich habe Sandalen an und bin auch sonst nicht gerade winterlich gekleidet. Dank des Fluges und der beginnenden Erkältung fällt es mir nun um so leichter, den vor meiner Reise ausgelobten Verzicht aufs Rauchen nachzuholen. Zuhause stelle ich das Gepäck ab und übergebe mich dem Krankenbett. An der Geburtstagsfeier meines Onkels, die nur wenige Häuser weiter in einer Gaststätte stattfindet, kann ich nicht teilnehmen.
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