Bei den Didayi (Dia-Show)



Indien

Tropische Stationen


Im Januar 1994 brach ich zu einer Exkursion zu den Ureinwohnern Mittelindiens auf. Wie bei all meinen Reisen konnte ich nicht warten, bis sich ein Reisegefährte oder ein Kommilitone findet - ich studierte damals an der FU Berlin im Hauptfach Ethnologie. Als regionaler Schwerpunkt bot sich mir der indische Subkontinent an. Durch einige Zufälle begann ich mich für die ethnografische Literatur Mittelindiens zu interessieren. Das Ziel meiner Reise wurden daher  die abgelegenen Bergdörfer im indischen Bundesstaat Orissa, der heute offiziell Odisha heißt. Die Bekanntschaft mit Professor Prassanna Nayak, der zu jener Zeit eine Gastprofessor am Berliner Institut für Ethnologie innehatte und sonst die anthropologische Fakultät der Utkal University in Bhubaneshwar leitete, verschaffte mir die Gelegenheit ein paar Wörter der in Orissa gesprochenen Sprache Orya zu lernen. Die Schreibweise und Aussprache variierte allerdings von Dorf zu Dorf - ein Dorf, das am Ortseingang Ununkudilli hieß, konnte am Ortsausgang schon Anankadili heißen...

Mein Zuhause war Anfang der 90er eine winzige Hinterhofwohnung im damals wildesten Kiez Berlins - der Prenzlauer Berg war noch völlig unsaniert, für Neuberliner mit höheren Ansprüchen noch völlig unbewohnbar. Für die Berliner Kneipen- und Partyszene war der Kiez jedoch bereits der angesagteteste Hotspot. Mit seinem damals noch von Berliner "Ureinwohnern", Studenten und allerlei Überlebenskünstlern aus aller Welt geprägten Millieu war der Stadtteil auch für soziologisch Interessierte ein reizvolles Terrain. Jedenfalls besuchten mich einige meiner Dozenten aus dem fernen und ganz anders situierten Dahlem auffällig gern. Natürlich freundet man sich auf diese Weise an und so ergaben sich die nötigen Kontakte und Einladungen ins ferne Indien fast von selbst.

Um in Indien eine Exkursion in Gebiete zu unternehmen, die zum Schutz der Ureinwohner vor Tourismus abgeschirmt werden, braucht man einige Genehmigungen. Falls der Reisende in der Wildnis abhanden kommt, kann die Bürokratie zumindest zum letzten Aufenthaltsort des Gesuchten führen. Entführungen und Geiselnahmen sind nicht an der Tagesordnung, kommen aber vor, um Lösegelder zu erpressn. Man braucht Kontakte. Und um diese pflegen zu können, braucht es auch wiederum immer ein Mitbringsel, das Bakschisch. Als Rucksack-Reisender hatte ich wenig dabei, auf das ich verzichten könnte. Ich musste ein Gespür entwickeln, wofür sich die Augen des Gegenübers interessierten - Taschenmesser, Taschenlampe, Feuerzeug... Am Ende hatte ich alles verschenkt.

Ein bisschen Sehnsucht nach Exotik

Ganz ohne Abenteuerlust geht niemand auf eine solche Reise. Die Lebensweise indigener Völker interessierte mich seit der Lektüre von "Robinson Crusoe" - also von Kindesbeinen an. Irgendwann wollte ich selbst einmal auf eine ferne Insel, zu fernen Völkern.

Während meines Studiums an der FU Berlin lernte ich, worauf es in der Ethnologie ankommt.
Anfangs fand ich es besonders interessant, mich mit unterschiedlichen Konzepten von Zeit zu beschäftigen. Der Kalenderkult der Azteken und Maya hatte mein Interesse an der Altamerikanistik geweckt. Was bedeutet Zeit in anderen Kulturen? Es heißt immer, da oder dort tickten die Uhren langsamer. Aber warum tickt die Zeit woanders langsamer? Oft wurde ich in Indien gefragt, wann ich gern mein Frühstück nehmen würde. Jedesmal bekam ich auf meine Antwort einen Gegenvorschlag: half past 8, half past 9... Warum "halb" und niemals "um"? Ist "um" ein Tabu? Ist "halb" besser, weil es "mittendrin" ist und weil "mittendrin" mehr Spielraum lässt? Wahrscheinlich ist das tatsächlich so, denn viele Zeitangaben bevorzugen diese Zeit "dazwischen". Weder das Frühstück noch der Zug kommen dann jedoch pünktlich "halb", meistens viel später.

Kalkutta - Augen zu und durch



Ich lande zu früher Morgenstunde in Kalkutta. Im Flughafen tausche ich meine Traveller Checks gegen ein dickes Bündel durchlöcherte Rupien-Scheine ein. Am Ausgang stürmen Kinder auf mich ein - ein Junge von geschätzt 14 Jahren fragt mich, ob ich ein Taxi brauche. Zu meiner Überraschung ist er nicht nur als Schlepper unterwegs, sondern selbst der Fahrer des Taxis, das mich dann durch die unheilvoll übervölkerte Metropole bringen soll.

Was ich in den nächsten Stunden zu sehen bekomme, übertrifft meine Vorstellungen von der Not Indiens. Tausende Menschen, viele nur mit einem Lendentuch gekleidet, scheinen am Straßenrand genächtigt zu haben, einige verrichten ihre Notdurft an der Bordsteinkante, andere waschen sich an Hydranten, andere bleiben liegen - genau wie die toten Hunde, die überall herumliegen. Die ersten Eindrücke sind unfassbar, im Taxi fühle ich mich etwas geschützt. Der Fahrer scheint derartige Verwirrung bereits von anderen Ankömmlingen aus dem Abendland zu kennen. Mitten im Verkehrschaos versucht er, den Fahrpreis neu zu verhandeln. Der indische Akzent seines Englischs macht die Sache für mich nicht leichter, aber so viel verstehe ich: Er will jetzt das Doppelte.

Im Stadtteil Howrah wird es noch grausiger. Ich traue meinen Augen nicht. Ein beinloser Mann schiebt sich mittels eines auf Rollen montierten Bretts zu mir, um Almosen zu betteln. Es scheint sich schnell herumzusprechen, dass ich nur große Schein habe. Bald bin ich von Bettlern umgeben, in der Nähe des Bahnhofs hoffen sie auf Spenden von Reisenden. Verstümmelte Arme stupsen mich an, Kinderhände zerren an meinem Hemd. Ich bin völlig unvorbereitet auf dieses Elend: klapperdünne menschliche Gestalten, Blinde, Gelähmte, furchtbar entstellte Gesichter, alte Männer auf noch älteren Krückstöcken, verkrüppelte Kinder, Handstummel. In meiner Verwirrung ziehe ich das Bündel zerknitterter Rupien-Scheine hervor, die ich an der Bank des Flughafens erhalten hatte, wo sie auf einer Stange steckten, so dass sie durchlöchert sind. Ich weiß nicht, wie viel Geld ich gerade verteile, denn ich kann in der Aufregung gar nicht erkennen, was auf den löchrigen, abgegriffenen Scheinen steht. Ichweiß nur, dass es mehr als Wechselgeld ist, was ich hier verteile, denn bisher erhielt ich ja keines.

Das Zücken des Portemonnaies war vielleicht so etwas wie ein natürlicher Impuls. Aber es war naiv zu glauben, ich käme dadurch aus dem Gewühl, und könnte dann weiter gehen... Jeder Schein, den ich verteile, lockt mehr Bettler an. Wie komm ich hier wieder raus? Ich versuche mich zu sammeln, da starre ich plötzlich in das leere, in das Gesicht eines Mannes ohne Augen. Womit sieht er mich? Es streckt mir seine Hand entgegen. Dann entdecke ich etwas Winziges, das wie ein Auge aussieht, neben dem Mundwinkel.

Im gruseligsten Alptraum würde man an dieser Stelle aufwachen. Ich kann mich zwicken und kneifen wie ich will, ich wache nicht auf. Etwas so Schreckliches kann es doch gar nicht geben? Wo bin ich?
Howrah Station. Hinter dem Sackbahnhof, von dem die Züge in den Süden Indiens abfahren, beginnt der größte Slum Indiens. Warum hat mir das niemand gesagt? Warum habe ich nie etwas davon gehört? Drüben, am anderen Ufer des Hugly, das war also Kalkutta. Jetzt aber bin ich in Howrah, am Eingang der Hölle. Dabei war ich doch aufgebrochen, das Paradies zu finden...

In der Bahnhofshalle finde ich ein verblasstes Schild: TOURIST OFFICE. Hier war früher mal eine Informationsstelle. Nirgends ist ein Fahrkartenschalter zu sehen. Wo kann ich einen Fahrschein nach Bubaneshwar kaufen? Ein Mann hat meine Ratlosigkeit bereits von Weitem erkannt, kommt auf mich zu, spricht mich an, führt mich in ein anderes Gebäude, verhandelt dort für mich mit einer Frau, die in einem vergitterten, finsteren Loch sitzt. Sein Teil des Jobs kostet mich etwa so viel wie das ganze Ticket. Ich habe nur große Scheine, auch er kann nicht wechseln. Nun habe ich also ein Ticket für die "first class" nach Bhubaneshwar.

Zurück in den Bahnhof, wo es erbärmlich stinkt: Putzfrauen schieben mit Reißigbesen die Pfützen aus den Toiletten in die Bahnhofshalle. Der Verkäufer vom Imbissstand schiebt die Pfütze weiter. Nichts wie raus hier! Auf dem Bahnsteig bieten Händler Ketten und Vorhängeschlösser feil - wozu braucht ein Reisender derlei Zeug? Gleich drei Händler auf einmal wollen mir ihre Ketten und Vorhängeschlösser verkaufen. Hier kann ich mich auch nicht aufhalten. Wieder in die Halle, in deren Mitte eine Sitzbank steht. Ein Mann mit seiner Familie wartet dort auf den gleichen Zug wie ich. Der Mann schmeichelt mir wegen meiner Herkunft: Deutschland. Ich gerate von einer bizarren Situation in die nächste.

Eine Stunde vor der Abfahrt geht der Mann mit seiner Familie auf den Bahnsteig, dort sei nun der Zug nach Madrash bereitsgestellt worden, mit dem auch ich fahren muss. Ich sehe nur einen Güterzug, lauter Viehwagons mit ein oder zwei vergitterten Fensterluken. Aus den Luken greifen Arme hinaus, Gesichter sind erkennbar, Kinder, Frauen. Das wirkt auf mich wie KZ-Transporte in Filmen über die Deportationen während des Holocaust. Nur schwer kann ich begreifen, dass dies mein Zug sein soll. Zum Glück habe ich ja ein 1st-Class-Ticket, die besseren Wagons sind vielleicht weiter vorne. Ich laufe bis zur Lokomotive - als der Zug ruckelt, frage ich den Schaffner auf dem Trittbrett. Er prüft mein Ticket und zieht mich hinauf in den anfahrenden Zug.

Man sieht so viel beim Eisenbahn fahrn

Meine Zweifel, auf dem richtigen Bahnsteig am richtigen Zug beim richtigen Wagen zu sein, bleiben bis zu jenem Moment, als mich der Schaffner hinaufzieht - und selbst da bleibt noch Skepsis. Der Zug rollt quietschend aus dem Bahnhof und ich stehe, mein Rucksack auf dem Rücken, auf dem Trittbrett eines Waggons, der angeblich der 1-Klasse-Wagen ist. Im Inneren des Wagens werden noch Gepäckstücke rangiert, deshalb klemme ich in der offenen Tür und komme nicht vorwärts. Direkt neben dem Eingang ist das WC, dem Geruch nach. Ich stehe auf der zweiten Stufe des Trittbretts eines fahrenden Zuges, meine Hände umgreifen die Haltestange - für Inder die normalste Sache der Welt, für mich das reinste Adrenalinbad.

Heute nehme ich es sarkastisch: Wenn man auf dem Trittbrett eines fahrenden Zuges steht, kann es keine Verschlechterung bezüglich der Bequemlichkeit geben, ab da kann es quasi nur noch besser werden - es sei denn, man wird runtergestoßen. Ich weiß nicht mehr, was mir damals tatsächlich alles durch den Kopf gegangen ist, zu viele Eindrücke überfielen mich auf einmal... Die Gleise führen direkt durch die Slums - Hunderte Menschen sitzen auf den Schienen der Nebengleise, sie fecheln dort kleine Feuer an, kochen ihr Frühstück, schlafen im Schotterbett. Möge der Zug nur bitte hier kein rotes Signal erhalten und mitten auf der Strecke anhalten! Ich stehe auf dem Trittbrett und mein Rucksack könnte noch immer die Beute eines Gestrüpps werden - oder einer Diebesbande...

Endlich kann ich nachrücken. Der Wagen hat keine Abteile, alles ist offen, und ich sehe nun auch den Zweck der Ketten und Vorhängeschlösser, die auf dem Bahnsteig verkauft wurden. Jedes Gepäckstück wird angeschlossen. Das Verstauen und Anschließen der Gepäckstücke dürfte ein Grund für den Stau im Wagen sein. Die Plätze sind nummeriert, das ist vermutlich der wesentliche Vorzug der ersten Klasse - ich möchte nicht wissen, wie zusammengepfercht die Fahrgäste der zweiten oder dritten Klasse ausharren müssen, wie all die Menschen in den Viehwaggons, in denen es nur diese eine vergitterte Fensterluke gibt, das aushalten können. In den Reisekatalogen sieht Indien anders aus...

Ich bin über jeden Meter glücklich, der mich aus dem Moloch Kalkuttas und seiner Vorstädte entfernt. Mit einer Geschwindigkeit von wohl unter 30 km/h quietscht der rostige Zug vorwärts. Auf den Bahnhöfen der Vororte unheimliches Gewimmel. Klapperdürre Gestalten mit nichts als einem Tuch um die Hüften, alte Männer mit langen weißen Bärten - sind es Asketen, die sich dem radikalen Verzicht auf allen Besitz aussetzen oder sind sie einfach nur so bettelarm? Ich sitze im Zug, etwas erleichtert, ich werde von den Mitreisenden wie ein Außerirdischer angestarrt - und irgendwie bin ich das in ihren Augen vielleicht auch. Gleich die erste Konversation führt schnell zu der Frage: Are you a rich man?

Wenn es so wäre, welchen Informationswert hätte das? Was würde sich dadurch ändern, wenn ich sagte: Yes, very rich, and you? In einem antiquarischen Brockhaus sah ich einmal Abbildungen an Elephantitis erkrankter Menschen - ich hielt diese Krankheit für historisch, für nicht mehr existent. Jetzt sehe ich die furchtbaren Entstellungen, die diese Krankheit verursacht mit eigenen Augen - mal als riesige Geschwülste an den Beinen, mal im Gesicht. Kein Gruselkabinett in den Filmstudios von Hollywood kann sich so etwas Grausiges zusammenphantasieren. Die Dankbarkeit, das einen zu aller übrigen Not wenigstens diese grauenvolle Entstellung erspart geblieben ist, kann nur religiös kompensiert werden. Die einzige Lebensperspektive, die ein Mensch mit derartigen Entsellungen hat, ist Betteln, auf das gelegentliche Mitleid anderer Menschen zu hoffen.

Kalkutta liegt nun endlich weit hinter mir, die Luft auf dem Land ist etwas klarer, obgleich überall die Rauchschwaden von Feuerstellen aufsteigen - und dieses Currygelb in der Luft verliert sich auch nicht. D
raußen fährt das real existierende Indien vorbei, hier ist es sommerlich warm, zuhause in Berlin mag es schnein oder frostig sein. Der Zug hällt an einem Signal auf freiem Feld - das scheint meistens so zu sein. Innerhalb von wenigen Minuten eilt ein Heer von Teeverkäufern heran, in Papiertrichtern gereichte Reisportionen werden verkauft, Gemüse, Süsigkeiten. Mich ekelt alles, ich nippe nur gelegentlich an meiner von zuhause mitgebrachten Wasserflasche. Bloß nicht zu viel trinken, bloß nicht zu diesem stinkenden Abbort müssen!

Was von dem Zwischenmahl übrig bleibt, lassen die Reisenden zu Boden fallen. Das Linolium klebt nun von Abfällen. Die Reisenden verlassen sich darauf, dass jemand die Abfälle beseitigt? Ein Mädchen von vielleicht 5 oder 6 Jahren wird von draußen zur Zugtür getragen und in den Wagen gesetzt - sie kriecht auf allen Vieren und kehrt mit bloßen Händen die Abfälle zusammen. Danach kommt sie zurückgekrochen, sammelt Spenden ein. Wird diese arme kleine Ding jemals eine Schule besuchen? Wird es in seinem Leben jemals etwas anderes machen als die Abfälle andere Menschen zu kehren? Der Zug fährt wieder an, das Mädchen muss bis zum nächsten Halt mit. Wer wird sie dort in Empfang nehmen? Ich bin erschüttert. Wo bin ich gelandet? Was für ein unvorstellbar armes Land ist dieses Indien? Was für eine grausame Welt ist das, in der ein kleines Mädchen so erbärmlich betteln muss?

Am Abend beginnt es zu regnen, dann gießt es aus vollen Kannen. Das Dach des Wagens ist undicht, nach kurzer Zeit spülen Pfützen die Abfälle unter den Bänken hervor, die das Mädchen mit seinen kurzen Armen nicht erreichen konnte und die wohl schon länger dort lagen. Die Dämmerung bricht herein und es wird schnell dunkel. Der zug kommt mit reichlich Verspätung in Bhubaneshwar an. Gedrängel im Zug, Gedrängel auf dem Bahnsteig, spärliches Licht. Und es gießt und gießt! Ich werde jetzt also mitten in Indien aus einem Zug aussteigen, an dessen halbwegs schützendes Dach ich mich eben gewöhnt hatte, um dann einen Bahnhof zu betreten, der hoffentlich nicht gaz so furchtbar ist wie der von Howrah, und dann draußen im strömenden Regen, von Bettlerscharen umringt, bestimmt noch ein Taxi erwischen, das mich zur Utkal Universität bringt...

Die Erleichterung, die ich verspüre, als ich beim Aussteigen ein bekanntes Gesicht erkenne, dürfte nach meinen bisherigen Schilderungen verständlich sein: Professor Prasanna Kumar Nayak! Woher weiß er, dass ich mit diesem Zug komme? Oh, wie froh bin ich, dass er mich abholt. Dass er mich nicht im Regen stehen lässt! Mitten in Indien mitten im Regen mitten in der Nacht... Sein Taxi wartet auf ihn. Wie fahren durch die dunkle Stadt, die Hauptstadt von Orissa, zum Gästehaus der Utkal Universität. Während der Fahrt erzähle ich ihm meine ersten Eindrücke von Indien, von Kalkutta, von Howrah, von dem Mädchen, das im Zug mit seinen Händen die Abfälle zusammenwischte. Prasanna antwortet lapidar: You have a cultur shock!




Ich akklimatisiere mich einige Tage in Bhubaneswar, ich habe ein Zimmer im Gästehaus des Department of Anthroplogy der Utkal University. Alles braucht seine Zeit - das Besorgen einer behördlichen Genehmigung für meine Exkursion benötigt Geduld, gute Kontakte und Bakschisch. Ersteres hat Professor Prasana Nayak, den ich aus Berlin kenne, über zweiteres muss ich mir Gedanken machen - und zwar immer wieder in den kommenden Tagen...



Kulturschock? Ich doch nicht!

Ich war im tiefsten Sibirien, ich war in Istanbul. Was kann mich noch schockieren, dachte ich. Doch was ich heute zu sehen bekommen habe, muss ich erstmal verdauen. Noch in der Nacht beginne ich, meine ersten Eindrücke aufzuschreiben. Nie zuvor hatte ich ein Tagebuch geführt. Professor Georg Pfeffer, der damals die asiatische Abteilung der Ethnologie an der FU Berlin leitete, gab mir neben wichtigen Empfehlungsschreiben den entscheidenden Tipp mit auf die Reise: Führe gleich bei deiner Ankunft in Kalkutta ein Tagebuch, nicht erst im Feld! - Warum das wichtig sein sollte, konnte ich da noch nicht begreifen. Auch im Verlauf der Reise ahnte ich noch nicht, dass scheinbar nebensächliche Erlebnisse die Mosaiksteinchen sind, die nachher ein Bild vom Ganzen ergeben. Im Nachhinein waren es gerade Randnotizen, an denen ich verstand, dass ich einen Kulturschock der besonderen Art erlebt hatte.



Die größte Demokratie der Welt?

Erst mit einigem Abstand vom Erlebten wurde mir klar, dass ich während meiner Reise tatsächlich einen Kulturschock zu verabeiten hatte, im negativen wie im positiven Sinne - zwischen ganz fürchterlich und ganz paradiesisch gab es einige Abstufungen. Während der Zwischenaufenthalte an verschiedenen Orten konnte ich mich akklimatisieren, innehalten, das Erlebte Revue passieren lassen. Wie kommt man damit zurecht, wenn man plötzlich von einer Seminarklasse begrüßt wird, als sei man der Dalai Lama, mit tiefen Verbeugungen? Ich war doch selbst Student - und kein Dozent. Prassanna hatte mich kurzerhand mit akademischen Würden versehen und als Doktor vorgestellt - um den nötigen Respekt für mich einzufordern. Die indischen Bildungsbürger, überwiegend Angehörige der obersten Kasten (Brahmanen, Ksatria), bilden sich üblicherweise viel auf ihren Stand ein und lassen Menschen, die in der Kastenhierarchie niedriger stehen, das spüren. Als Nicht-Hindu stehe ich eigentlich außerhalb des Systems - und damit darunter. Mit akademischen Würden hingegen erhalte ich einen Sonderstatus, etwas, das mich in ihren Augen auf Augenhöhe hebt oder darüber, insofern ich ja die weltlichen Würde bereits trage...

Vielleicht hätte Prassana mir vorher sagen können, dass er zu meinen Gunsten ein wenig schummeln muss. Wäre ich durch das Wissen um die konkrete Bedeutung dieser sozialen Gesetzmäßigkeiten auf irgendeine Situation besser vorbereitet gewesen? Und was hätte sich geändert, wenn ich gewusst hätte, dass der Busschaffner einen armen Mann von seinem Sitzplatz aufscheuchen wird, um Platz für mich zu schaffen? Mein Übersetzer, Angehöriger der brahmanengleichen Ksatrira-Kaste, hätte sich ohne den ihm standesgemäß zustehenden Sitzplatz vielleicht geweigert, mich weiter zu begleiten. Einem Nicht-Hindu "zu Diensten stehen" ist schon ambivalent genug, vor dem Hintergrund des ausbeuterischen Kolonialzeitalters um so mehr.

Ich brauchte immer eine Weile, um überhaupt zu kapieren, was vor sich ging. In den hektischen Momenten geht alles so schnell, man steht dauernd vor und in vollendeten Tatsachen. Erst als ich saß und mich vom gröbsten Gedrängel befreit fühlte, kamen mir moralische Bedenken. Und da ist zu spät. Zu spät, das diskriminierende, in Jahrtausenden perfektionierte Kastensystem abzuschaffen. Buddha hat immerhin den fatalistischen Aspekt dieses System infragegestellt und in Aussicht gestellt, durch Karma aufzusteigen und durch Erleuchtung dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen. Der kosmopolitisch geprägte Mahatma Gandhi versuchte das System der Diskriminierung abzumildern, wenigstens die Situation der Kastenlosen zu erleichtern. Die Globalisierung mag einige soziale Schwerpunkte verschieben, das jahrtausendealte Kastensystem mit seinem fatalistischen Fundament wird das nicht aus den Angeln heben... Andere, deren Namen nicht so berühmt wurden, haben es versucht. Und die Politiker des Westens hofieren Indien als "größte Demokratie der Welt". Ja, Indien ist das Land mit der bevölkerungsreichsten Wählerschaft einer Nation...

Auch für Politiker einer Demokratie ist die Bevölkerung eines Landes in erster Hinsicht die Quelle der Steuern, die sie in Milliarden verschleudern. Ihr "Volk", die Bevölkerung eines landes, ist nichts als Stimmvieh, manipulierbar mit Versprechungen, die allzu schnell vergessen sind...
Zufällig fällt mein Aufenthalt in eine Regionalwahl: Wahlkämpfer rufen ihre Versprechungen mit Megaphonen von Motorrikschahs, Plakate gibt es keine, denn die wenigsten Menschen können lesen. Die Wahlergebnisse sind entsprechend überzeugend: die Partei, die gestern versprach, alles besser zu machen, hat diesmal die 85 %... Zur letzen Wahl war es die andere "große Volkspartei"... In Indien führt das verbale Manipulieren demnach zu einem Hin und Her im Abstand von vier Jahren.

Während ich die Tageszeitung studiere, lesen meine beiden Sitznachbarn andere Schlagzeilen. Ich will umblättern, der Mann links von mir hält die Seite so fest, dass er noch seinen Artikel fertig lesen kann. Der Mann rechts neben mir ist damit schon durch und blättert in meiner Zeitung vorwärts. Ich habediese Zeitung gekauft, es ist meine Zeitung! Ihr könnt gern mitlesen oder das Blatt nachher haben, aber im Moment will ich lesen, was ich will! Soweit mein Anspruch... Ich lasse es geschehen. Erst als der Mann links von mir ermüdet und sein Kopf auf meine Schulter sinkt, mache ich mich bemerkbar - meine Schulter gehört nun wirklich mir allein! Er schreckt hoch und ich spüre wie sich der Kopf des anderen auf meine andere Schulter legt... Es geht hin und her. Egal, ich sollte froh sein, dass ich einen Sitzplatz habe und nicht auf dem Dach umhergewirbelt werde wie einige andere Fahrgäste.

Mir gegenüber sitz eine Adivasi-Frau, sie stillt zwei Babys zugleich. Auch die dösen anschließend ein, sie haben den besten Platz. Wer auch nur irgendwie sitzen kann, kann auch irgendwie abnicken - nur ich finde keine Ruhe. Ich schaue zum Fenter hinaus - in den Abgründen liegen Busse, die irgendwann mal


die Kurve nicht geschafft haben. Der Bussfahrer speit seinen ausgekauten Betel zum Fenster hinaus, der Fahrtwind treibt ihn zum nächsten Fenster hinein - ich kann gerade noch ausweichen... Ich bin in Indien, im ländlichen Indien - langsam gewöhne ich mich an die Sitten und Bräuche des Landes...


 

PUBLIC CARRIER steht auf dem Laster. Besser schlecht gefahren als gut gelaufen? Schneller geht es in jedem Fall... Gemeinsam mit einem Übersetzer, den mir Pr. Nayak vermittelte, begebe ich mich mit öffentlichen Transportmitteln ins Landesinnere - in die Berge im Grenzgebiet zum Bundesstaat Andhra Pradesh.
     
 
In jedem größeren Dorf muss ich eine Amtsstube aufsuchen. Mein vom Gouverneur des Bundeststaates Orissa ausgestelltes Schreiben - ich hielt es für eine Vollmacht, mit der ich überall durchkomme - wird gleich im ersten Dorf meiner mehrtägigen Weiterreise eingezogen. Ich bekomme ein neues Papier - und die Beamten machen sich mittels Blaupapier einige Durchschläge - die werden dann auf sich bis unter die Decke stapelnden Dokumenten abgelegt. Vielleicht liegen sie noch heute da...



Mein Ziel sind die Siedlungen der Ureinwohner (Adivasi) in den Bergen Mittelindiens. In Ununkudilli, dem letzten mit Fahrzeugen erreichbaren Dorf, ist mittwochs Markttag, da kommen die Ureinwohner verschiedenster Stämme zum Handeln mit jenen Agrarprodukten, die sie entbehren können - viel ist das nicht. Sie schleppen alles in Körben auf ihren Köpfen - über Stock und Stein bis in die entferntesten Dörfer.



Die farbenprächtigen Stoffe, aus denen die Adivasi-Frauen ihre Saris schneidern, sind auf den größeren Märkten erhältlich. Ich kaufe mir einen blauen Lungi, eine Art Rock, den sich Männer um die Hüfte wickeln - ein in mehrfacher Hinsicht praktisches Kleidungsstück, unter anderem weil es immer passt, etwa auch dann noch, wenn man abnimmt. Das wiederum ist bei der kargen Kost aus Reis und Dhal garantiert...


Der Angehörigen der Bondo haben sich auf Palmenwein spezialisiert. Nicht alles werden sie verkaufen auf dem markt können, für den Rückweg erleichtern sich die Männer von ihren Lasten - Selbsttrinken macht lustig, teils aber auch aggressiv. Abstand halten ist ein guter Rat. Den Frauen der Bondo kann man durchaus ein Lächlen entlocken - jedenfalls wenn ihre Männer nicht in der Nähe sind...
 



Durch Vermittlung eines lokalen Beamten kann ich mit Angehörigen des Stammes der Didayi die Konditionen für einen mehrwöchigen Aufenthalt aushandeln. Hussein, der Beamte, lebt in einer rostigen Wellblechhütte mit Frau und etlichen Kindern - auch das Zuhause eines Staatsdieners ist äußerst bescheiden - einziges Mobiliar ist eine Sitzbank...

Willkommen im Paradies

Je tiefer es ins Ländliche geht, in die Berge, in kleine Dörfer, desto wohler fühle ich mich. In den Städten türmte sich der Unrat an den Straßenrändern, die Luft war staubig und verdreckt, der Lärm des Verkehrs und das Gedrängel der Menschen ein Stressfaktor sondersgleichen. Hier auf dem Lande wird alles klar und überschaubar. Der wesentlichste Schritt ins Paradies ist jedoch der Schritt in ein Boot, das direkt aus dem Berliner Museum für Völkerkunde stammen könnte - nur dort sah ich bisher einen Einbaum wie jenen, in den ich gleich einsteigen werde.

mehr Bilder aus dem paradies

Erst als dieser Einbaum anlegt und ich und meine Begleiter vom Stamm der Didayi einsteigen, bei denen ich für einige Wochen wohnen werde, wird mir klar, dass ohne Fährmann kein Zurück gibt. Ab hier tauche in eine andere Welt ein, in eine, wo mich kein Anruf erreicht, wo mich niemand heimrufen kann, wo alles vom Wohlwollen völlig fremder Menschen abhängt, denen ich mich nur mittels Gesten mitteilen kann - und mittels der universellen Sprache der Musik...

Meine kleine Gitarre - es war noch das Zeitalter vor der Ukulele - öffnete mir in der Tat viele Türen. Nicht Türen in die Häuser, denn die stehen in diesen abgelegenen Dörfern ohnehin offen. Gab es überhaupt Türen? Nein, die Lehmhütten hatten offene Eingänge. Die Gitarre aber öffnet die Türen in die Herzen. Jeden erfreut der leise Klang behutsam gezupfter Saiten - und in einer Welt ohne Radio und anderer Audiogeräte ist Musik das Höchste, macht ein Lied den größten Zauber des Tages. Wer mein Lied nicht kennt, verstummt und lauscht den Tönen. Zu den für mich berauschendsten Momenten gehörte der Gesang aus einem sich entfernenden Einbaum, der die Besucher eines anderen Dorfes heimfuhr. In der Stille der Bergwelt war nur ihr Lied zu hören, Gesang eines Chrores junger Frauen, lang gezogenen Vokale wie bei den Liedern der Südsee, immer leiser je weiter sich der Einbaum entfernte - immer schöner.

Sicherlich sehe ich das Schöne und Besondere um so schöner und besonderer, weil es so lange zurück liegt, mehr als zwei Jahrzehnte ist es her. Dennoch habe ich die Realität des Lebens dort nicht vergessen. Es gibt Feindseligkeiten mit benachbarten Stämmen - meine Wanderführer, der Sohn des Didayi-Häuptlings, geriet wegen meiner Anwesenheit in einem Bondo-Dorf in Streit, der zu eskalieren drohte, so dass wir uns nicht lange aufhalten konnten. Wieder im Didayi-Dorf zurück, erzählen meine Begleiter von dem Zwischenfall. Der alte Häuptling erläutert mir daraufhin seinen von Kampfnarben übersäten Rücken, wahrscheinlich nicht ohne Stolz - der Mut und die Kraft, einem Feind zu widerstehen, gehört zum Leben draußen in den Bergen. Recht und Gesetz der einstigen Kolonialmacht konnten schon nicht in diese ferne Bergwelt eindringen - auch heute kann nur gelegentlich, alle Wochen oder Monate, mal ein Beamter nach dem Rechten sehen - es gibt keine Straßen, keine Wege, nur Trampelpfade.

In anderen Dörfern erzählen mir die Bewohner von Überfällen und Entführungen, von Geiselnahmen und Erpressung, besonders wenn die Kornkammern voll sind und manches mehr zu holen ist, also nach der  Ernte... Also jetzt. Welches Lösegeld wären meine Gastgeber bereit, für mich zu zahlen, geriete ich in die Hände einer Räuberbande? Wie lange würde man mich zappeln lassen? Wie lange würde man verhandeln? Wochen? Monate? Jahre? Einige dieser Entführungen dringen von Zeit zu Zeit in die Schlangzeilen deutscher Zeitschriften, insofern die lokalen Behörden die nicht erfolgte Rückkehr eines Ethnologen oder eines Touristen bemerkt und weitergemeldet haben... Jetzt verstehe ich langsam die aufwendigen bürokratischen Prozeduren - erst glaubte ich, sie dienen vor allem dem Schutz der Ureinwohner vor der unkontrollierten Neugier einiger Touristen. Jetzt vermute ich, es geht auch darum, das Abbleiben des Reisenden verfolgen zu können. Ich weiß heute um so mehr, es gibt diese Probleme. Ein Reisender aus dem Westen ist eine teure Geisel - solange sich jemand für ihn interessiert. Wenn nicht? Nun, ja... Man kann als vermeintlicher Terrorist ausgeliefert werden, dafür bieten Imparialmächte ja verlockende Prämien! Und landet für Jahre in den Käfigen von Guantanamo - wie Murat Kurnaz...

Damals gab es zwar noch nicht den "war against terrorism", aber ich war damals dennoch naiv genug, mir eine Geiselnahme in der "3. Welt" vorstellen zu können. Im nachhinein war ich dafür aufmerksamer, hörte oft von Entführungen, ich muss also sagen: Ich hatte Glück! Ich gehöre nun zu den recht wenigen Besuchern aus der modernen Welt, die für eine Weile am Leben der indischen Ureinwohner teilhaben konnten. Für mich war es - bei allen Beschwerlichkeiten der Anreise - ein Ausflug ins Paradies. Meine Eindrücke kann ich kaum beschreiben. Ich habe einen Hang zum Romantischen, also versuche ich es gar nicht erst mit Worten. Ich möchte mir nicht die Ethnologen zum Feind machen, nicht verklären, nicht verkitschen...


Palmenwein, Reis am Hintern, Spatzenjagd

An folgende Episoden erinnere ich mich besonders gern: Als ich das erste Mal aus einer Kallebasse trinke, kippe ich mir den Inhalt über den Latz. Der Inhalt ist Palmenwein, der wird "erzeugt", in dem man den Saft aus einem Palmenblatt in einer großen Kallebasse tropfen lässt, wo er mit einem Rest des Vortage vor sich hin gärt. Der trübe Saft, der nur eine geringe Drehzahl hat, wird über einem Feuer leicht erwärmt und dann bei vielen Gelegenheit getrunken, manchmal schon morgens. Ich bin zunächst sehr zurückhaltend, doch die gute Verträglichkeit ermutigt mich in den nächsten Tagen, meine Zurückhaltung zurückzuhalten. Nach einigen Kallebassen wird man lustig und kann über jeden Unfug lachen. Und das wollen auch meine Gastgeber. Mein Missgeschick beim ersten Kippversuch erheiterte sie, wie erwartet. Die Kalebasse geht im Kreis herum wie die Friedenspfeife bei den Indianern - man führt den Hals an den Mund, kippt sich den Inhalt hinein, ohne die Kalebasse mit den Lippen zu berühren. Das kann beim ersten Mal nicht klappen - wahrscheinlich haben sich meine Gastgeber schon amüsiert, als mein Vorgänger, Professor Pfeffer, sich seine erste Kallebasse über den Latz kippte. Sich beim Trinken erstmal richtig zu bekleckern ist die Feldweihe des weißen Mannes...

Über sein eigenes Missgeschick lachen zu können, ist das eine. Wenn ein Kleinkind bei seinen ersten Gehversuchen die Balance verliert und mit seinem Hintern im frisch servierten Reis landet, ist das noch nichts Besonderes - der kleine Mann müht sich wieder auf und tapst weiter. Lustig ist jedoch der Anblick eines von weißem Reis geschmückten Hinterteils, was auf der tiefbraunen Haut besonders putzig wirkt. Ich muss schmunzeln, veilleicht erregt mein Schmunzeln fragende Blicke. Ich zeige auf den kleinen Mann mit seinem geschmückten Hinterteil - sofort bricht das fröhlichste Gelächter aus. Hat der letze aufgehört zu lachen, fängt wieder jemand an. Irgendwann überwindet man das Hin und Her des ausgelassenen Lachens durch Zerstreuung mit anderen Ereignissen. Dieses andere Ereignis ist das Servieren des Mittagsmals in ein Kohlblatt, das also als Schale dient und am Ende mit gegessen werden kann. Was gibt es den heute? Nun ja, das Gleiche wie heute Morgen, was das Gleiche wie gestern Abend ist - und Tag für Tag und täglich wieder: Reis mit Dhal, die sehr scharfe Linsensoße. Die kleine Abwechslung heute: In dem Reis saß vorher der kleine Mann mit seinem Hintern - und das scheint außer mir niemand komisch zu finden. Meine Gastgeber glauben, ich amüsierte mich erneut wegen des lustigen Anblicks - und lachen noch eine Runde weiter. Alle lachen und lachen und lachen und beginnen zu essen. Nur ich weiß, dass niemand weiß, weshalb ich lache - und darüber muss ich lachen. Ich muss darüber lachen, dass niemand weiß, worüber ich lache!

Nochmals wollen meine Gastgeber die Ungeschicktheit des weißen Mannes testen... Am Abend sind wir zur Weinpalme auf dem Berg gewandert. Jemand klettert auf den Baum, füllt seine Kallebassen, bemerkt aber, dass das gefäß am Baum nicht so voll wie sonst ist, was zu einer Diskussion darüber führt, wer hier heimlich etwas abgezapft haben könnte. Ein Anderer bereitet ein kleines Feuerchen, über dem das Getränk erwärmt wird. Wenige Minuten später haben wir - der Häuptling und seine Söhne sowie andere Männer - unsere ersten Runden Wein gebechert. Die Verärgerung über den mutmaßlichen Diebstahl weicht der Weinseligkeit. Ein Spatz traut sich herbei - es ist seine letzte Mutprobe. Schnell hat einer meiner Gastgeber den Bogen gespannt, den Pfeil auf der Sehne - und zack, der Spatz ist am Flügel getroffen und kann nur davonhüpfen. Jetz komme ich ins Spiel. Mir werden Pfeil und Bogen überreicht... Wann hatte ich das letzte Mal Pfeil und Bogen in den Händen? Als Kind im Ferienlager. Ich bin auserwählt, armen Vögelchen den Gnadenschuss zu geben. Ich zögere nicht eine Sekunde, spanne die Sehen und lasse den Pfeil sausen. Zur völligen Überraschung meiner Gastgeber - wie meiner selbst - trifft der Pfeil, der Spatz ist tot. Vor weniger als einer Minute war das kleine Geschöpf ein übermütiger Piepmatz, der selbst auf der Suche nach einem Wurm war - jetzt ist er selbst die Beute eines größeren Tiers geworden. Sofort wird sein Federkleid abgesengt, anschließend wird der winzige rest über dem Feuer geröstet. Und wem steht der erste Bissen zu? Dem Gast, der nun - gegen allen Erwarrtungen - ein Jäger ist, der einen Spatz mit dem ersten Pfeil zur Strecke bringt.

Vogelfreunde seien getröstet: Der kleine Spatz musste nur kurz leiden. Niemand ist von diesem winzigen Happen Fleisch in Blutrausch verfallen - eine Gruppe von acht Männern teilt sich diesen Protein-Snack. Ich habe die indischen Ureinwohner, die sich sonst quasi vegan ernähren, nicht über vegetarische Anwandlungen von Europäern zu belehren - und ich bin heilfroh, dass mir nicht die Ehre zuteil wurde, Würmer oder anderes Krabbelgetier serviert zu bekommen. Mein Geschick im Umgang mit Pfeil und Bogen bringt mir allerdings eine gehörige Portion Respekt ein. Bei einem Besuch in anderen Dörfern stehen die Bewohner schon Spalier, doch die Neugier wäre mir auch ohne meinem Ruf als Meister von Pfeil und Bogen vorausgeeilt. Wenn dich ein Dorfoberhaupt in seiner Hütte empfängt und nach dem Austausch kleiner Geschenke sofort die Rede auf deinen gestrigen Treffer kommt, weißt du, dass der Buschfunkt bestens funktioniert und dass der gekonnte Umgang mit Pfeil und Bogen hier großes Ansehen bringt. Überall wurde mir die Ehre des Gastes zuteil, doch jetzt begegnen mir alle auf Augenhöhe, auch die Jäger und Dorfoberhäupter.

In den Tagen danach wurde ein Kind geboren, sie nannten es Aleks - mögen es einmal ein guter Bogenschütze werden... Beim Abschied von den Didayi gebe ich dem Häuptling die Weste, auf die er ein Auge hatte, dem Häuptlingssohn das französische Klappmmesser, auf das es jeder Mann abgesehen hatte. Und er hat noch einen Wunsch - er möchte, dass ich ihm ein Oriya-Englisch-Lehrbuch schicke, dann kann er mit dem nächsten Gast ohne den Umweg über einen Übersetzer reden. Ich staune ohnehin über die fremdsprachlichen Fähigkeiten der Ureinwohner, sie sprechen neben ihrer Stammessprache Didayi das regionale Oriya und weitere Sprachen benachbarter Stämme - und diese indigenen Sprachen sind hier an der Grenze zwischen indogermanischer und australischer Sprachgruppe durchaus ohne Ähnlichkeiten!

Weil es so üblich ist, lege ich noch ein paar Scheine drauf - immerhin erhielt ich zwei Wochen Vollverpflegung... Mit dem Geld können sich die Didayi auf dem wöchentlichen Markt alles kaufen, was sie nicht selbst herstellen können, Blechtöpfe, Werkzeuge, Stoffe für Kleidung und dergleichen. Das Verteilen der Scheine war vielleicht etwas unvorsichtig, denn danach wollte sich jeder Dorfbewohner ganz persönlich von mir verabschieden... Mir wird nach Brauch und Sitte das Haar geölt - von fast jedem... Der Abschied zieht sich hin, beim Aufbruch triefe ich von Öl. Ich glaube, die Leute konnten mich ganz gut leiden. Und ich wünschte mir, ich könnte heute sehen, was aus dem kleinen Aleks geworden ist - der müsste nun ein Mann Mitte 20 sein. Und überhaupt wäre ich gern nochmals bei diesen freundlichen, so herzlichen Menschen - draußen in meinem Paradies.


Damals hatte man nicht dauernd einen Fotoapparat bei sich, es gab nicht diese kleinen elektronischen Alleskönner, mit denen man heute jede Nebensächlichkeit zu dokumentieren müssen glaubt. Ich fotografierte nur gelegentlich mit meiner Kleinbild-Spiegelreflexkamera aus dem Hause Pentacon, eine DDR-Marke aus den 1970ern, heute ein Oldtimer. Ich hatte gerade mal einen einzigen Dia-Positiv-Film dabei: 36 Bilder. Jeden zweiten Tag ein Foto, so kalkulierte ich damals. Alles war von Hand einzustellen, null Automatik, jedes Foto war entweder ein Kunstwerk - oder falsch belichtet. Sämtlich Fotos in der Dia-Show über das kleine Paradies, das ich dort erleben durfte, stammen von nur diesem einen Dia-Positivfilm! Einige Fotos von Kalkutta entstanden dann noch auf einem vor Ort nachgekauften Negativfilm. Der Zahn der Zeit hat sowohl an den Zelluloid-Originalen als auch an den Papierfotos genagt, aber die meisten Unschärfen gehen auf die unqualifizierte Digitalisierung eines heutigen Dienstleisters zurück. Was noch zeigbar ist, mag hinter heutigen Ansprüchen zurückbleiben, doch in meinem Kopf entstehen dank dieser Fotos dennoch die Erlebnisse wieder, als sei alles erst gestern gewesen.

Heimwärts

 
Auf dem Rückweg nach Ununkudilli, dem ersten Dorf, das wieder eine befahrbare Straße hat, ist wieder Markttag. Fotografieren ist erlaubt, aber man sollte fragen - wenn man einen Übersetzer hat. Die extravagante Kleidung und den Schmuck der Bondo-Mädchen muss man gesehen haben.

Was man nicht muss, ist gleich bei seiner ersten Exkursion mit einer neuen ethnologischen Theorie heimkehren - oder so tun, als hätte man sonst richtige Feldforschung treiben können... All die neuen Eindrücke sind viel zu überwältigend - die vielen Gerüche des Orients: mancher Ekel ist zu überwinden, mancher Duft betört, manches Erlebnis braucht den Abstand, um relativiert werden zu können. Mein geografischer Horizont hat sich seit meiner Indien-Exkurion nicht sehr weit erweitert - östlicher und südlicher bin ich nicht gekommen. Der Horizont meiner persönlichen Er-fahr-ungen hingegen schon... 20 Jahre später weiß ich, dass ich nur wenig über die große weite Welt weiß... Heute strebe ich nicht mehr danach, alles wissen zu wollen... Auf jeden Falll wurde auch die Heimreise ein Wechselbad der Gefühle.



Zum Ende meiner Exkursion verbringe ich noch eine Woche in Puri, einem bedeutsamen Pilgerort am Golf von Bengalen. Hier ist das Markttreiben städtisch laut und eng, die dörfliche Welt der Adivasi liegt nun Welten entfernt. Nur das Fischerdorf am Strand hat etwas vom dörflichen Flair. Ein Junge, der Englisch kann, führt mich durch das Gewirr der Hütten, zu einer Art Kantine. Der Koch bietet - was sonst - ein Fischgericht an. Es dauert eine Stunde, ehe er mir den Teller Reis hinstellt. Ich warte noch auf den Fisch - nach einer Weile frage ich dann nach, wo der angepriesene Fisch bleibt. Er puhlt mit dem Finger in dem Reis auf meinem Teller - und siehe: da kommt tatsächlich etwas Geschnetzelte, das Fisch sein wird, zum Vorschein.

Moslemische Händler aus Kaschmir, indische Pilger und Touristen aus aller Herren Länder, überwiegend Australier, trifft man am weiten Sandstrand oder in den einfachen Hotels mit ihren von Rikscha-Fahrern angepriesenen "facilities"... Nach einer Nacht in einem Hotel, vor dessen Fenster morgens um 6  das Markttreiben beginnt und wo das Personal auf den Fußabstreichern der Gästezimmer schläft (!), ziehe ich in ein Hotel am Strand um - so viel besser! Aber am nächsten Tag trifft eine Reisegruppe britischer Teenager ein... Hilfe! Im Rudel sind Reisende unerträglich, egal woher sie kommen, im pubertierenden Alter sind mir aber besonders die Nachfahren der Angeln und Sachsen als Geht-gar-nicht aufgefallen... Angenehme Gesellschaft ist ein alleinreisender Schweizer - der hat mit 50 sein Altersgeld beisammen und ist für den Rest seiner Tage auf Weltreise - schön für ihn.

 
Am Strand hat ein Bettelmönch sein Zuhause errichtet, einen Verschlag aus zwei mal zwei Metern. Ich entrichte ihm täglich meinen Obulus zu seinem bescheidenen Lebensunterhalt. Da ich den herumziehenden Friseur nicht abwimmeln kann, lasse ich mir sogar einmal die Haare schneiden - seine Kämme sind verdreckte, ölgetränkte Läusesiebe - ich bitte ihn, halbwegs gesäuberte zu besorgen. Nur mit der Bananenverkäuferin komme ich immer ins Geschäft - sie verkauft mir täglich zwei kleinen Bananen und hält mir mit ihrer resoluten Vertreibungstaktik den Souvenirverkäufer und andere Bauchläden--Händler auf Abstand...

Auch eine junge Inderin spricht mich am Strand an - Sarita - der übliche Smalltalk glaube ich anfangs. Doch es dauert nicht lange und ein älterer Mann, der vielleicht 20 Meter entfernt sitzt, ruft ihr etwas zu... Sie übersetzt: Are you a rich man? Ich versuche zu relativieren: Ich bin Student... Doch das schmälert das Interesse an mir nicht - in einer Kastengesellschaft ist ein Student nicht jemand, der berechtigt ist, Preisnachlässe in Museen und Verkehrsmitteln zu beanspruchen, sondern jemand, der zu den höchsten Kasten, das sind Brahmanen und Ksatria, gehört. Als mich das Familienoberhaupt für den nächsten Tag zu einem Besuch in sein Quartier einlädt, ist mir noch nicht klar, dass der Vater eine gute Partie für seine Tochter sucht. Sie erscheint mir etwas jung für dieses Anliegen, aber in Indien werden die Mädchen mit 14 verheiratet - oder verlobt, oder versprochen.
 



Allerdings: in Indien - und vielen anderen Ländern - heiratet man niemals eine einzelne Person, sondern immer die ganze Familie... Richtig klar war mir damals weder das Eine noch das Andee - ich dachte wahrscheinlich einfach nur: nette Leute, diese Leute... Auch bei den Ureinwohnern bekam ich indirekte Angebote - immer wieder fragten sie mich nach meinen Familienverhältnissen und staunten, wie ein Mann so lange ohne weibliche Begleitung verreisen könne... Ein Mädchen der Didyi war möglicherweise "vakant", jedenfalls saß das junge Ding ohne erkennbaren Grund abends oft ganz in meiner Nähe - das widersprach völlig den mir bekannten ethnologischen Theorien, nach denen es bei allen Ethnien wie auch im Kastensystem ziemlich geordnete Wer-mit-wem-Regeln gibt.

Eigentlich passt das Pärchen doch ganz gut zusammen, denken wahrscheinlich alle Beteiligten. Die direkte Frage nach der Hand seiner Tochter überlässt der Vater dem Bewerber. Doch ich war mir dieser Rolle nicht bewusst und wäre auch nie auf die Idee gekommen. Zum einen war ich bereits "besetzt" und zum anderen treffe ich manche Entscheidungen nicht ganz so spontan. Sarita und ich, wir schrieben uns noch ein Jahr lang Briefe - die waren wochenlang unterwegs... Emails gab es damals noch nicht. Heute, 22 Jahre später, wird sie bereits ihre eigenen Töchter an den Mann zu bringen haben...
 



Wenn der Knopf aber nun kein Hemd hat


Noch eine Geschichte muss ich erzählen - die Geschichte eines verloren gegangenen Knopfes, der nach meinem Willen wieder an sein Hemd sollte... Eines Morgens kommt der Waschmann ins Hotel, fragt nach Wäsche. Ich lehne ab, er lässt sich nicht abwimmeln. Erkläre mal einem Mann der Wäscher-Kaste, dass du es vorziehst, deine Sachen selbst zu waschen. Ich versuche es mit dem Argument, dass ich die traditionelle Waschmethode - das Klatschen der Kleidung auf einen Stein - eher als Zerstörung denn als Pflege meiner Kleidung betrachte. - No, machine! - Na gut, ich gebe nach, gebe ihm mein weißes Piratenhemd und zeige ihm die kleinen Knöpfe am Ärmel: please keep them on it! - Nach drei Tagen treffe ich den Mann: Wo ist mein Hemd? - Is coming.

Wie ich lernen werde, kann das erste Partizip, das Präsenspartizip, im indischen Englisch eine sehr aufschiebende Bedeutung haben. Erst am nächsten Tag kommt der Mann wieder und bringt mir das Hemd - fein wie ein Quadrat zusammengelegt, aber noch feucht. Aha, gerade erst vor einer Stunde gewaschen, nach vier Tagen. Auf der Rückseite des Hemdes klebt der Abdruck einer schmutzigen Hand, ich zeige sie dem Besitzer, entfalte das Hemd, um nach den Knöpfen am Ärmel zu schauen - Resultat: einer ist zur Hälfte abgebrochen, der andere fehlt ganz. Genau darauf hatte ich den Mann hingewiesen. - No problem! You can go to the tailor... - Die indische Bedeutung der Redewendung "no problem" ist ebenso relativierbar - es gibt eigentlich nie Probleme. Du bist mit irgendwas unzufrieden, nicht einverstanden? No problem... Der Waschmann verlangt fünf Rupien von mir - das ist zwar so gut wie nichts, aber seit wann bezahle ich für ein Hemd, das vor der Wäsche sauberer war als nach der Wäsche und vorher Knöpfe hatte? - No, never! Nicht nur ich darf etwas lernen, auch ein armer indischer Waschmann darf etwas lernen...

Nun wasche ich das Hemd selbst, um den schmutzigen Handabdruck des Waschmannes zu entfernen. Das kleine Zimmer zu ebener Erde hat eine kleine Veranda, da hänge ich das Hemd zum Trocknen über die Mauer. Der warme Wind vom Strand trocknet es. Ich gehe ins Dorf, suche den Schneider, um mir zwei Knöpfe, Nadel und Zwirn zu kaufen. Der Schneider sagt: Bring the shirt. - Okay, der will also auch seinen kleinen Job haben: mir die Knöpfe annähen. Ich laufe die zwei Kilometer zum Hotel zurück, hole das Hemd, will dann gleich warten: zwei Knöpfe annähen dauert ja nur zwei Minuten - wenn ich es machen würde. - Tomorrow, okay? Na ja, der Mann hat halt noch einiges anderes zu tun... Am nächsten Tag suche ich den Schneider wieder auf, seine Schneiderei ist nur ein Bretterverschlag mit einer Nähmaschine aus dem 19. Jahrhundert. Ich frage den Gesellen oder den Sohn des Schneiders nach meinem Hemd. Keine Ahnung, wo das sei. Der Meister komme heute nicht mehr zur Arbeit, denn es ist Shivasta. Aha... Dann gehe ich heute Abend eben auch mal zur Shivasta, einfach so zum Zeitvertreib.

Shivasta

 
Der Shiva-Tempel befindet sich bei einer entfernten Siedlung am Strand, einige Hundert Menschen warten am Eingang geduldig auf Einlass. Ich wate durch den Sand um den Tempel, in den man an einigen Stellen blicken kann. Als ich wieder beim Eingang eintreffe, winkt mir ein Einlasser zu und fragt, ob ich eine Besichtigung möchte. Klar, warum nicht. Ganz ohne Anstehen? Er winkt mich zu sich und geht mit mir durch die schmale Lücke in der Mauer.

Shivasta

Ich bin so überrascht und denke nicht ans geringste No-go, zum Beispiel das Ablegen meiner Sandalen vor dem Eingang. Ich schlendere etwa fünf Minuten an den kleinen Schreinen im Hof des tempels vorbei, da bemerkt ein Aufseher die Besohlung an meinen Füßen - und geleitet mich zum Ausgang. Dort erwartet mich bereits ein Uniformierter und bringt mich in einen Verschlag, der ein temporäres Polizeirevier ist. Ich werde befragt: woher, wohin, warum, wozu. Dann werde ich über mein Vergehen aufgeklärt - der Tabubruch mit dem Schuhwerk ist nur nebensächlich, aber als Nicht-Hindu einen heiligen Ort zu betreten, der selbst Hindus nur zu besonderen Anlässen die Pforten öffnet, geht gar nicht. Nicht einmal Idira Gandhi, legendäre Regierungschefin, habe das nach ihrer Konvertierung zum Christentum gedurft. Da kann also ein dahergelaufener Tourist aus Europa schon gleich gar nicht einfach mal so durch den Shiva-Tempel schlendern. Ich erhalte diese Belehrung und eine Warnung, es nicht noch einmal drauf ankommen zu lassen - dann darf ich gehen.



Das tapfere Schneiderlein


Am nächsten Tage besuche ich Meister Nadelör erneut, der muss sich aber erst vom gestrigen Shiva-Fest erholen... Tomorrow ist auch noch ein Tag. Ich besuche ihn am nächsten Abend. Die Knöpfe sind dran, saubere Arbeit auf den ersten Blick... Nein, nicht sauber auf den zweiten Blick! Auf dem Hemd gibt es mehrere schwarze Ölflecken, vielleicht von der museumsreifen Nähmaschine. Ich zeige ihm die Flecken. - No problem, you can go to the washerman... No, no, no! Das werde ich ganz beszimmt nicht tun, guter Mann, denn wegen dem bin ich überhaupt auf deine Hilfe angewiesen - und jetzt habe ich das nächste "no problem": Flecken an den Ärmeln und am Kragensaum. Könnte man da ein paar Muster drübersticken wie bei den Hemden und Westen, welche die kaschmirischen Händler feilbieten? Das sehe gut aus, man würde die Flecken nicht mehr sehen.

No problem, sagt der Kashmiri in seinem Laden. Ob ich da eine konkrete Vorstellung hätte, mag er wissen. - Just like on the other shirts here, aber ich male ihm trotzdem ein Muster auf ein Stück Papier. Alles klaro. Am nächsten Tag - Wahnsinn, schon am nächsten Tag! - kann ich mir die Arbeit ansehen. Er hat da was auf die Stelle gemalt, mit Filsstift oder so... Vermutlich eine Skizze? Lässt sich das wieder entfernen? - Nein, das hält jede Wäsche ab, versichert mir der Mann. - Wie jetzt? Das soll wohl ein Scherz sein? Das ist nicht gestickt und obendrein sieht es aus, als hätte ein dreijähriges Kind darauf herum gekritzelt! No, no, no... Entweder das lässt sich wieder entfernen oder da muss ein neuer Saum dran! - No problem...

Der kashmiriische Händler bringt mein verunstaltetes Hemd zum Schneider. Der Schneider hat nun also den nächsten, etwas lohnenswerteren Job. Ob er diesmal vorsichtiger ist? Und etwas schneller? Am nächsten Tag ist das Hemd wieder beim Kashmiri... Doch - oh Schreck! - es hat nun hell rosa Armsäume und einen ebensolchen Kragen! Ich habe nun ein weißes Hemd mit Säumen in hellrosa. Na toll! Wie schwul sieht das denn aus, frage ich eine flippige Australierin, die im gleichen Hotel wie ich wohnt und meistens bunt wie ein Hippie gekleidet ist. Alex, who cares! Ihr Deutschen seid einfach zu penibel, findet sie. - Nö, finde ich eigentlich nicht. Ich bin kein Mann der Mode, aber das sieht einfach bescheuert aus. Das war mal ein luftiges weißes Hemd, wie geschaffen für dieses tropische Klima, mit Knöpfen - und ohne Ölflecken! Bis, ja bis ich es dem indischen Waschmeister anvertraut habe und wegen ihm dann dem indischen Schneider, wegen dem dann dem kaschmirischen Händler, der es wieder dem indischen Schneider überließ - und jetzt habe ich diese pinke Etwas!

Ich will weiße Säume an meinem weißen Hemd, einfach nur so wie es bis vor fünf Tagen noch war. Dann müsse ich mit in die Stadt nach Puri hinein und den Stoff selbst auswählen, damit es nachher nicht wieder Beschwerden wegen solcher Nuancen gäbe. No problem, ich habe Zeit... Noch zwei Tage! Wie fahren noch am Nachmittag in die City, die beiden kaschmirischen Händler, der Schneider und ich
- der schmächtige Rikschafahrer pedaliert mit allen Kräften und kommt beim ersten Hügelchen zu stehen. Die Kaschmiri springen kurz ab und nach dem Hügelchen wieder auf. In Puri kaufen wir den weißen Stoff und ich sehe auch einen in Bordeaux, was mich auf eine Idee bringt... Ich frage den Schneider, ob er mir aus dem anderen Stoff eine Kopie schneidern könnte... No Problem.

Nach einigen Tagen, deren Verlauf ein beim Waschen zerstörter Hemdsknopf bestimmte, habe ich wieder ein weißes Piratenhemd, so wie es vor der brutalen Wäsche war - und dazu noch eine Kopie in Bordeaux-Rot. Ersteres geht auf Kosten der Kashmiri, zweiteres auf meine. Für die Kopie dieses Hemdes verlangt der Schneider einen Preis, der umgerechnet etwa 5 D-Mark entspricht - das wären dann in Euro also 2,50... Im Nachhinein müsste ich ein schlechtes Gewissen bekommen, aber ich habe ja weder die Preise gemacht noch im Geringsten gefeilscht oder gehandelt, schon gar nicht habe ich den Knopf abgerissen! Ich wollte mein Hemd selbst waschen und dann auch den Knopf selbst annähen - ich bin mit mir im Reinen! Und!?! Ich habe die beiden Hemden noch heute, 22 Jahre später! Zwar bin ich zwischendurch immer mal wieder ein bisschen "rausgewachsen", aber nach der nächsten Radeltour passen sie wieder... Welcher heutige Konsument kann schon von sich behaupten, Hemden zu tragen, die über 20 Jahre alt sind! Bin ich da - zwinker-zwinker - nicht geradezu ein Vorbild in Sachen Ökobilanz?

 

Ich bin in einem Land der sogenanntgen 3. Welt, viele Menschen sind so furchtbar arm - ich habe so unvorstellbar große Not und großes Elend gesehen. Ich habe aber auch ein Paradies der Glückseligen gesehen - und ich durfte in diese so herzlich lachenden Gesichter blicken. Die wenigen Orte, die ich besuchte, machen nur einen Bruchteil des indischen Subkontinents aus, dennoch kommt es mir schon an dieser Stelle so vor, als hätte ich die Reise meines Lebens gemacht.


Zurück ins Stadtchaos



Wieder in Kalkutta angekommen, gehe ich nicht mehr dem ersten Schlepper auf dem Leim - und ich brauche kein Taxi mehr, um durch die riesige, verdreckte Metropole zu kommen. Während ich bei meiner Anreise überwältigt war, komme ich jetzt sogar mit den verrosteten Straßenbahnen durch die Stadt...
An der Wendeschleife ist vom Gewühl der nächsten Haltestellen noch nichts zu spüren - aber ich habe keine Chance herauszufinden, was wohin fährt. Erstmal einsteigen... Die Haltestangen sind von öltriefenden Händen konserviert - was man anfässt, klebt. Bald ist die Bahn so voll, dass ich - samt Gepäck auf dem Rücken - gut eingeklemmt bin.



 

Der gesamte Verkehr ist immer am Maximum der Kapazitäten... Rikshas quälen sich durch die Abgase von Autos und Lastern aus den '50ern und '60ern... Auf den minimalistischen Baugerüsten an einem verfallenen Haus tritt man nur einmal daneben... Ein wüstes Geflecht von an Hauswänden verlegten Stromkabeln erklärt so manchen der allabendlichen Stromausfälle, Tauchsieder werden an blanken Stellen der Kabel "angeschlossen", Funken sprühen... In einem Basar werden lebende Hühner und anderes Getier feilgeboten. Ein Metzger zerlegt große Fleischteile, wohl eher vom Schwein als von der heiligen Kuh. Den Fliegen ist es egal - die hängen in Scharen an den Kadavern. Räucherstäbchen übertünchen den Gestank ein wenig.



Die riesige Howrah Bridge quert den Hugli, einen kilometerbreiten Nebenarm des Ganges. Sie verbindet die Stadt Howrah mit Kalkutta. An der Howrah Station kommen alle Züge aus dem Süden an, die größten Slums Indiens umgeben den Sackbahnhof - mit Grausen erinnere ich mich an mein Eintreffen bei der Anreise... Auf der Brücke werde ich erneut von unfassbaren Szenen überwältigt. In der Fahrbahn der Brücke fehlt eine riesige Platte - keinerlei Absperrung, ein LKW weicht kurz vor dem Abgrund aus. Ein fast nackter Mann liegt direkt daneben. Schläft er? Ist er tot? Tot wie all die Hunde, die überall herumliegen? Um ihn herum donnert der Verkehr, nur Zentimeter neben ihm das riesige Loch in der Straße. Für Tausende von Passanten, die mir auf der Brücke entgegenströmen, ist der bizarre Anblick offenbar Alltag. Falls ich noch nie Heimweh hatte, hier habe ich es ganz bestimmt. Ich will nur noch nachhause.
 


Über den Wolken...

Meine Bedenken, hoch über den Wolken könnte der Pilot einschlafen, der Motor ausfallen, ein Flügel abbrechen, eine Entführung stattfinden, eine Bombe explodieren, flogen bei mir schon vor 9/11 mit. Ich verkürze mir die Zeit mit einem Besuch im Cockpit - das war damals noc möglich! Sitzt man gleich hinter dem Piloten in der Spitze des Flugzeuges wird das Ganze plötzlich klein wie hinter dem Lenkrad im Auto - das vermittelt das Gefühl, man könnte notfalls selbst fliegen... Ich plaudere mit den Piloten, - die Blackbox dürfte jedes unserer Worte aufgezeichnet haben. Die Stewardess schenkt mir ein Gläschen Cabernet ein...


Zurück in Berlin

Nach der langen Zeit in tropischen Gefilden sehe ich auch etwas indisch aus, die Sonnenbräune ist in jedes Fältchen meiner Stirn gekrochen. Wegen dieser für die Jahreszeit (März) in Berlin auffälligen Bräune werde ich auf dem Weg vom Flughafen in die City nur auf Englisch angesprochen. Ein Kommilitone hastet an mir vorbei die Treppen zur U-Bahn hinunter. Er dreht sich um und erkennt mich dann doch noch. Er fragt mich nach meiner Reise. Ich habe den einen Satz meiner Antwort noch nicht beendet, schon ist er fort - er hat es sehr eilig: er müsse mal schnell zum Yoga... Meine innere Uhr tickt noch indisch.

Ich bringe mein Gepäck heim in meine kleine Hinterhofbude am Prenzlauer Berg. Dort wurde offenbar eingebrochen. Es gab zwar nichts zu holen, aber einiges zu verwüsten. Leider habe ich dabbei wichtige Papiere verloren, die waren wohl zum Fenster hinaus geworfen worden, vermutlich von Bauarbeitern, die sich in meiner Abewesenheit dort aufhielten, denn unter meinem Fenster liegt ein großer Schutthaufen.

Ich fahre an die Uni, zuerst Mittagessen in der Mensa. Es gibt wie immer drei Auswahlessen für unter zwei Mark und eines für 5 Mark. Nach zwei Monaten Reis und Dhal bin ich sehr genügsam, kann über das Meckern der Studenten um mich herum nur staunen. Sie schlingen sich die Nahrung rein, ohne sie überhaupt zu schmecken. Beim Essen schimpfen sie über die geringe Auswahl, lesen Flugblätter, lästern über Dozenten, kritisieren, dass einige Seminare schon morgens um 10 beginnen... Sie wissen gar nicht, wie schmackhaft das einfachste Essen sein kann.

Im ethnologischen Institut angekommen, melde ich mich in der Bibliothek zurück, wo ich eine Hiwi-Stelle habe. In der Cafeterria im Keller geht es exotisch zu - die Studenten sind aus aller Welt. Ein Joint kreist herum und der Professor nimmt auch einen Zug. In wenigen Tagen hat mich zwar der studentische Alltag zurück, aber meine Uhr tickt weiter indisch.