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1968
Das Ende der Illusionen
Oder: Was man nicht in, aber von und nach der Schule lernen kann.
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Klassenfoto in der einstigen 63. OS (heute: Johann Gottlieb Naumann*-Schule)
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Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg waren Wohnungen in Dresden weiterhin knapp. Unzureichend abgesperrte Ruinen waren unsere gefährlichen Abenteuerspielplätze. Bis Mitte 1968 lebten wir in der Wohnung, die meine Großeltern nach dem Krieg bezogen hatten. Erst in ihrem 30. Lebensjahr wurde meiner Mutter vom Wohnungsamt eine kleine Parterrewohnung zugewiesen - ohne Bad, WC-Kabinen im Treppenhaus. Das gößte Zimmer, ein Balkonzimmer, war von einer Untermieterin belegt, Frau Weber, eine alte Dame - deren Tage seien ja bereits gezählt, argumentierte die Sachbearbeiterin vom Amt.
Im Sommer 1968, am Ende meines zweiten Schuljahres, zogen wir von der Eisenacher Str. 19 in die Augsburger Str. 68. Die neue Adresse befand sich nur einmal diagonal durch den Rhododendren-Park. Doch für mich bedeutete der Umzug das Raus aus der 63. Oberschule, wo ich mich vom ersten Tag an in meine hübsche Banknachbarin Elvira verliebt hatte...
Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, meine Mutter könnte sich um mich Sorgen machen, begleitete ich Elvi auf ihrem Heimweg. Ich war nur noch damit beschäftigt, mir Späße auszudenken, um ihr Lachen sehen zu können - und ihre langen blonden Zöpfe, wenn sie beim Hopsen umherflogen. Ich weiß nicht mehr, ob ich bei einem meiner spontanen Ausflüge irgendwann selbst heimfand - oder aber nach verzweifelter Suche gefunden wurde. Jedenfalls erinnere ich mich an heftige Schimpfe von Mutti - und daran, wie neidisch ich wurde, wenn andere Kinder von der Ohrfeige ihres Vaters sprachen...
Mit meiner alten Schule gab es oft Ausflüge, zum Beispiel in die Dresdner Heide oder zum "Pionierpalast" am Oberloschwitzer Elbhang. Seit den 1990ern heißt das Gebäude wieder Schloss Albrechtsberg - die Sanierung des dazugehörigen, damals als Bad für Kinder genutzten Areals lässt auch 30 Jahre nach der Rückbenennung zu wünschen übrig.
Blick vom Schloss Albrechtsberg ins Elbtal (2021) |
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An dem Springbrunnen, wo sich einst Fürsten und Mätressen amüsierten, konnten wir Kinder damals planschen. Im August 1968 winkten wir den im Tiefflug vorbeifliegenden Hubschrauber-Geschwadern zu... Dass die dem Lauf der Elbe stromauf folgten, um in Prag bei der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings* mitzuwirken, wussten im Tal der Ahnungslosen damals nur wenige - wir Kinder schon gar nicht.
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An einem der Sommertage, die wir auch im Bühlauer Bad verbrachten mussten wir jedoch im Hort bleiben, um am Zaun Spalier zu stehen und, mit UdSSR-Fähnchen gewappnet, auf die Wagenkolonne des russischen Kosmonauten Juri Gagarin warten, der 1961 als erster Weltraumflieger die Erde umkreist hatte. Sein junges Leben endete nur ein halbes Jahr nach seinem Dresden-Besuch, als bei einem Übungsflugs der von ihm geflogene Kampfjet abstürzte.
Wie meine Mutter mir später erzählte, hatte ihr die Klassenlehrerin der 63. OS, Frau Schuhmann, nahegelegt, unseren Umzug gleich mit meinem Wechsel an die nähere 25. Oberschule zu verbinden. Frau Schuhmann hielt Kinder mit der familiären Namensendung "owsky" für Russen oder Polacken*, so dass meine Mutter mir weitere Schikanen ersparen wollte. Dass man als Neuer in einer anderen Klasse auch erstmal einige Bewährungen zu bestehen hat, war die andere Seite der Medaille. An meiner alten Schule wurde die 25. OS von Lehrerinnen und Hortnerinnen gelobt, weil sie gerade erst mit dem "Ehrennamen" Ernst Thälmann* ausgezeichnet worden war. Eine Auszeichnung ist ja was Gutes, glaubte der naive kleine Alexander... Also stieg zunächst meine Erwartungshaltung an die neue Schule. Doch außer dem nur wenig kürzeren Schulweg bemerkte ich an der ausgezeichneten Schule keine Vorzüge. Die Gänge rochen nach Toiletten, die Wände waren mit Thälmann-Bildern und anderen Ikonen der Arbeiter- und Bauernmacht drapiert.
Beim Anblick eines bunten Bonbonpapiers aus dem Westpaket bekam unser Mathe-Lehrer, Herr Wobeda, einen Wutanfall: "Solche perfide Ablenkung will ja der Klassenfeind nur!" In jedem hausgemachten Versorgungsproblem, sei es die defekte Zentralheizung oder die ausgebliebene Kohlenlieferung, sah der 110-prozentige SED-Genosse die Sabotage durch den "Klassenfeind" aus Westdeutschland. Die meisten Klassen wurden heimgeschickt, doch weil Mathe-Lehrer Wobeda für unsere Klasse Durchhalten befohlen hatte, saßen wir in Mänteln im kalten Kalssenzimmer. Am Ende der heizungslosen Woche war unser Klasse durch die Bank weg erkältet und blieb für zwei Wochen krank zuhause.
Aber auch das gemäßigtere Lehrpersonal hatte seinen pädagogischen "Klassenauftrag" zu erfüllen. So wurden wir Kinder angehalten, Flaschen und Altpapier zu sammeln, um den Erlös in der Schule als Vietnam-Spende abzuliefern - vermeintlich für die Kinder des kriegsgeschundenen Landes in Fernost. Verdient hat daran besonders auch der betrügerische Altstoffhändler. Erst fünf Jahrzehnte später, bei einer Radreise entlang des tschechischen Teils der Elbe, erfuhr ich, wofür die Spenden damals unter anderem verwendet worden waren, nämlich für die Produktion eines im heutigen Spolan-Werk bei Melnik zusammengerührten Entlaubungsmittels, das über Zwischenverkäufe in die BRD an die USA exportiert und nach dortiger Weiterverarbeitung großflächig in Vietnam eingesetzt wurde. Unter der Bezeichnung Agent Orange* erlangte das Gift schließlich traurigen Ruhm. Dass die (damals im Block der "für Frieden und Sozialismus" gebundene) Tschechoslowakei sich auf diese Weise Devisen erwirtschafte, stürtzt die Glaubwürdigkeit des politischen Systems noch zusätzlich in tiefste Abgründe.
Bereits in einem Alter, da Kinder eigentlich noch alles glauben, was Erwachsene ihnen eintrichtern, bekam ich meine ersten Zweifel an den Autoritäten der Staatsmacht. Mein Interesse an der Pflichtlektüre des Deutsch-Unterrichts hielt sich daher in Grenzen. Die Abenteuer des schiffbrüchigen "Robinson Crusoe" fand ich ohnehin spannender als die des sowjetischen Musterschülers Pawel Kortschgagin* im damaligen Klassiker "Wie der Stahl gehärtet wurde". Doch die alte Untermieterin unserer kleinen Wohnung, Frau Weber, war eine Lesreatte - sie las in einer schlaflosen Nacht ein ganzes Buch der uns Kindern verordneten Propaganda-Literatur durch - und schrieb mir den Inhalt auf. Ich musste es nur noch in meinen Stil umschreiben und konnte in der Schule so tun, als hätte ich die Umerziehungsromane tatsächlich gelesen.
Ab der 9. Klasse gab es die Fächer "Einführung in die sozialistische Produktion" (ESP) und "Praktische Arbeit" (PA). Während es sich bei ESP um die ideologische Vorbereitung auf die staatliche Planwirtschaft handelte, ging es bei PA alle zwei Wochen einen ganzen Schultag lang in einen Betrieb, so in den VEB Chemiefabrik Helfenberg * am Pillnitzer Elbhang - wir nannten das im Helfenberger Grund gelegene Fabrik damals Wachsbude, weil wir dort Kerzen verpacken mussten. In der 10 Klasse ging es in eine Außenstelle des VEB Pentacon * im Stadtzentrum (unweit des heutigen Strassburger Platzes), wo wir in einem stickigem, fensterlosen Raum unter fließbandähnlichen Bedingungen löten "lernten". Im Wikipedia Artikel erfährt man: "Ein Teil der Fertigung von Pentacon-Kameras erfolgte durch Zwangsarbeit in DDR-Hafteinrichtungen." De facto war auch die stumpfsinnige Beschäftigung in beiden Betrieben nichts anderes als erzwungene Kinderarbeit - und das unter gesundheitlich übelsten Bedingungen wie giftigen Dämpfen. Nachdem mich bei einem der Arbeitseinätze eine Aufseherin mehrfach anschrie, weil ihr irgendwas nicht schnell genug ging, reichte es mir: Ich stand auf und verließ die Fabrik, was selbstverständlich eine Meldung an meine Schule nach sich zog. Ich war am nächsten Tag auf alles gefasst. Doch zu meiner Überraschung fragte unsere allseits beliebte Klassenlehrerin, Selma Wuschik (wir nannten sie Selly), nicht nur mich, was da gestern los gewesen ist, sondern auch die Klasse. Mit dem Ergebnis, dass meine Darstellung - also das schikanöse Benehmen der Auseherin - betätigt wurde. In der Konsequenz erfolgte daher keine Bestrafung meiner rebellischen Arbeitsverweigerung, sondern die Kündigung des Vertrages mit dem VEB Pentacon! Ja, auch das war möglich.
Bei einem Klassentreffen (ca. 30 Jahre später) wollte ich eigentlich nachholen, unserer einstigen Klassenlehrerin meinen Respekt für ihr couragiertes Engagement auszusprechen. Aufgrund ihres hochbetagten Alters hatte sie sich jedoch verabschiedet, bevor sich mir eine paasende Gelegenheit bot. Beim nächsten Klassentreffen lebte sie nicht mehr. So möge diese Schilderung mein ehrender Nachruf für Selly sein. |
Manuskript einer 1975/76 fürs Zeugnis verfassten Beurteilung meiner Charakterzüge und meines noch bearbeitungswürdigen (politischen) "Standpunktes".
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Überraschungen gibt es auch Jahrzehnte später. Bei einem der Klassentreffen, die ich besuchte, las uns eine einstige Mitschülerin die Manuskripte der fürs Zeugnis verfassten Beurteilungen vor und wir sollten dann raten, auf wen die Beschreibung zutrifft. Da ich (um mir derartige Kultureinlagen der Klassentreffen zu ersparen) ohnehin gern etwas später zu kommen pflegte, war nur noch meine Beurteilung übrig geblieben - und so konnte die letztgelesene Beurteilung nur die für mich verfasste sein... Was ich nicht wusste (und wohl auch kaum jemand), ist die Tatsache, dass derartige Beurteilungen nicht von der Klassenlehrerin verfasst, sondern von ihr nur etwas gerade gerückt wurden. Das beigefügte Original zeigt jedenfalls, dass sich die Auffassung der gleichaltrigen Autorin bezüglich meiner Charakterzüge doch sehr vom Eindruck der Klassenleiterin unterschied. Immerhin ist der Unterschied zwischen "lebhafter" und "verschlossener" Schüler - sagen wir: ein Stück weit verschieden.
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Seit dieser aufschlussreichen Einsicht, so muss ich gestehen, hat mein Interesse an Klassentreffen nachgelassen. Ich treffe mich seither lieber allein mit meiner einstigen Banknachbarin Petra. "An Mitgliederversammlungen und FDJ-Zirkeln" oder aufgezwungenen Funktionen würde ich auch heute noch "ohne innere Teilnahme und nicht immer zufriedenstellend" partizipieren, zumal ich auch heute noch sehr an meinem "Standpunkt arbeiten" muss... Fazit: Von und nach der Schule lernen heißt auch heute noch: Fürs Leben lernen.
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