Ostern 2019 Sächsische und Böhmische Schweiz
Zittauer Gebirge und Nordböhmen
Gesamtstrecke
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen
Meine Ostertour führt mich in den östlichsten Zipfel Deutschlands und in den nördlichsten der Tschechei. Regional betrachtet knüpft die kleine Reise an meine vorjährige Herbsttour an - und das lässt sich auch vom Wetter sagen: Sonnige Tage! Für den sonst launigen April ist es ungewöhnlich warm und trocken - kein einziges Mal brauche ich die Regenjacke. Der April macht nicht mehr, was er will...
Meine Abendgedanken will ich diesmal allein durch Gedichte von Hermann Hesse beflügeln lassen. Schon oft haben mich Hesses-Dichtungen begleitet - bei meiner Indien-Reise vor 25 Jahren war es die tiefsinnige Erzählung über den Brahmanensohn Siddharta, der auf Wanderschaft ging, um Sinn und Ziel seines Lebens zu bestimmen, zu suchen, zu finden... Doch jetzt will ich allein das Gereimte lesen, im vertrauten Takt des Dichters schwelgen. Der Verlag könnte bei der Miniaturausgabe an Weltreisende gedacht haben - das Taschenbüchlein würde in eine Hemdtasche passen, wäre es nicht 850 Seiten dick! Hesses Dichtung kreist immer wieder um das Thema Fahren - um des Lebens hastige Reise. Halb Europa hatte ich schon unter den Pedalen, und doch wohnt jeder neuen Reise, auch den kleineren Touren, noch immer etwas vom Zauber des Anfangs inne.
1. Etappe *
Laubegast > *Rathen > *Hohnstein
Gründonnerstag. Nicht nur dass mich meine Reise-Ukulele begleiten wird, mein erster Reisetag beginnt diesmal sogar noch mit Unterricht - und so wird er auch enden. Dennoch bin ich auf der ersten kurzen Etappe von Dresden bis zur Burg Hohnstein im Elbsansteingebirge. Am Vormittag bringe ich einem Schüler den abschließenden Teil eines Instrumentalwerkes bei - in den nächsten Tagen geht es für ihn und seine Frau auf eine große Reise, zu den Marquesas-Inseln, mit Station in Hiva Oa, dem letzten Refugium von Paul Gauguin, der dort seine Südseeträume malte, und von Jaques Brel, der daraus ein Chanson machte. Ob die Südseeträume mich eines Tages auch nochmals auf weite Fahrt schicken - über Kontinente und Meere? Zur Zeit denke ich nicht daran.
Erst mittags bin ich reisefertig - ich radle an der Elbe von Laubegast gen Pirna, wo ich über die alte Brücke fahre und schon gespannt bin, ob ich in Posta an der Baustelle durchkomme. Offiziell ist die Strecke gesperrt - seit einem Jahr, doch Anwohner muss man zu ihren Häusern lassen. Als ich die Baustelle erreichen, lassen die Arbeiter andere Passanten durch, indem sie die Absperrung zurseite nehmen - ich rutsche auch mit durch und bedanke mich. Das Gesicht des Wachpostens wird danach allerdings nicht entspannter - vielleicht beneidet er die Fahrenden.
Trotz der Sperrung kommen mir gelegentlich Radler entgegen. Ich fahre durchs beschauliche Wehlen, komme am Imbiss „Zur Habe“ vorbei - jedoch nicht ohne eine Linsensuppe mit Elbblick gelöffelt zu haben. Bei der Weiterfahrt nach Rathen kommt mir eine Radlergruppe entgegen, aus der eine Dame reiferen Jahrgangs mir zuruft: „Wollmer tauschen?“ Die Frage verstehe ich nur zu gut, die Antwort aber kann nur ein aufrichtiges "Nein, danke!" sein.
In Rathen tummeln sich schon die Bastei-Touristen, an den Souvenirbuden staut sich das Menschengewühl. Ich warte geduldig, ich habe Zeit, ich nehme sie mir. Ich bange schon dem steilen Ansteig nach Waltersdorf entgegen - die Straße kenne ich bereits von der anderen Seite, also die Abfahrt. Der Anstieg ist eine andere Sache! Um die elektrischen Muskeln nicht zu überfordern, legen ich an der ersten geeigneten Stelle ein Päuschen ein. Zwei in bunte Ganzkörperkondome gezwängte Radler schieben schnaufend an mir vorbei. Nach fünf Minuten Pause trete ich wieder in die Pedale und hole das tschechisch sprechenden Pärchen ein, das nun seinseits verschnauft - vielleicht würden sie in diesem Moment auch gern mit mir tauschen. Doch auch und gerade im gemütlichen Liegesitz sind Anstieg über 15 % eine Herausforderung.
Mit zwei kleinen Pausen ist der Anstieg geschafft. Ich will steil hinunter ins Polenztal und kann nur hoffen, dass mich der Wanderweg nicht an unüberwindbaren Hindernissen scheitern lässt. Bis zur Waltersdorfer Mühle sieht es gut aus, eine Familie sitzt um einen Tisch im Biergarten. Ein romantisches Frühlingsgedicht von Eduard Möricke, auf eine Pappe gedruckt, lädt zum Verweilen und Sinnieren:
Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, wollen balde kommen. Horch, von fern ein leiser Harfenton! Frühling, ja du bist's! Dich hab' ich vernommen!
Leider hat bisher niemand vom Personal vernommen, dass ich auch da bin. Niemand lässt sich hinterm Tresen sehen, um das eigens über die Tür geschriebene Motto in die Tat umzusetzen: „Es ist besser als sich aufzuregen, ein Stück Arbeit weiter zu bewegen.“
Vermutlich ist man hier noch mit einem weiteren Stück Arbeit bewegt und bemerkt den einzelnen Gast nicht. In den zwei Minuten, die ich warte, wird mir klar, dass es selten Durst oder Hunger sind, die das Wandervolk zur Einkehr locken. Es ist vielleicht das nostalgische Ambiente, das Idyllische - die Sehnsucht nach etwas, das sich nicht stillen lässt. Niemand bemerkt mein Warten, also ist es besser als sich aufzuregen, ein Stück selbst mich weiter zu bewegen...
Ein Verkehrsverbotsschild mit einem Fahrrad in der Mitte zeigt an, dass der Weg nicht zum Radeln bestimmt ist. Ein Wegweiser weiter vorne war aber mit einem Fahrrad-Symbol versehen - ein Widerspruch, den ich zu meinen Gunsten auslege. Tatsächlich gibt es einige Radlerhindernisse auf dem Wanderweg - größere Stein und Stufen, wo ich absteigen und meine Sänfte schieben und ziehen muss. Eine kleine Familie mit zwei Kindern picknickt auf einem fünf Meter hohen Felsen an der Polenz. Als ich es mir wieder in meiner Sänfte bequem gemacht habe und den Felsen passiere, grüße und beglückwünsche ich sie zu ihrem herrlichen Aussichtsplatz.
Der weitere Waldweg entlang des Flusses bereitet meiner Sänfte keine Probleme. Vor zwei Jahren, als ich diesen Weg in die andere Richtung wanderte, begegnete ich einer Gruppe betagter Männer, die es sich trotz - oder eher wegen - des Publikums nicht nehmen ließen, ihrer Wanderlust in Adamskostümen zu frönen. Tatsächlich ist der Anblick einer Gruppe Exhibitionisten, die in Socken und Wanderschuhen, den Rucksack auf dem Rücken, eine Plastikflasche in der einen, das Handy in der anderen Hand, durch den Wald spazieren und statt Seelen ihr Gemächt baumeln lassen, ein groteskes Bild - und ich kann durchaus verstehen, dass eine derartige Begegnung verstörend wirken kann. Daher musste der Familienvater seiner empörten Gattin beipflichten. Und ich pflichtete gleichfalls bei - mit der kleinen Einschränkung, gegen nackte junge Frauen sei meinerseits nichts einzuwenden... Der Familienvater schmunzelte unauffällig, verkniff sich aber Kommentare, die seiner Gattin hätten missfallen können...
In der Serpentine, die zur Burg Hohnstein führt, muss ich nochmals tief atmen und in den ersten Gang zurückschalten. Bevor ich mein Qaurtier in der Burg aufsuche mache ich noch einen Abstecher in die Rathausstraße, die eher eine verwinkelte Gasse, aber dafür nicht bescheiden genug ist. Bei meiner einstigen Wanderung kam ich zufällig an dem kleinen Ladencafé namens Holunder vorbei.
Genuss braucht seine Zeit, lautet das Motto im Lädchen. Und die Zeit nehme ich mir. Waffeleis oder Kaffeespezialitäten, ich schwanke hin und her, will die Entscheidung der Betreiberin überlassen, die mich bereits erkannt hat - der mit der Ukulele ist halt auch in Hohnstein weltberühmt. Zwei einheimische Männer, die sich beim Kommentieren der Nachrichten über den Brand von Notre Dame in Paris und das Reisebusunglück auf Madeira an einer Flasche Bier laben, beeinflussen meine Entscheidung. Ich möche auch ein kühles Blondes.
Auf der Burg gibt es einen Pavillon, der heute nur einen Zweck erfüllt: er dient meiner dreirädrigen Sänfte als Garage. Gegen um 7 treffe ich mich mit einer Schülerin, die es hierher nur halb so weit wie bis nach Ukulelestan hat - mein erster Reisetag ist also komplett von Ukulele-Unterricht umrahmt. Wir sitzen auf der Terrasse des Burg-Cafés und üben. Aus der Ferne trifft uns bisweilen ein interessierter Blick, zwei Frauen bedanken sich für die musikalische Einlage. Die untergehende Sonne steht dem aufgehenden Vollmond gegenüber - ein seltener Anblick.
Müde und vom Wein berauscht
Hab ich oft dem bangen Winde
Durch die
Straßen nachgelauscht
Traumbewegt gleich einem Kinde
2. Etappe
Hohnstein > Sebnitz > Khaatal > Jonsdorf
Karfreitag. So schweigsam steht und klein im Gras das Krokusvolk, das Veilchennest, es duftet scheu und weiß nicht was, es duftet Tod und duftet Fest. Baumknospen stehn von Tränen blind, der Himmel hängt so bang und nah, und alle Gärten, Hügel sind Gethsemane und Golgatha.
So ambivalent wie Hesses Gedanken zum Karfreitag ist auch die wechselvolle Geschichte der Burg zu Hohnstein. Die Festung diente Ende des 19. Jahrhuderts als "Männerkorrektionsanstalt", dann als Jugendgefängnis, zu Beginn der Nazi-Diktatur als KZ für politische Gefangene, im Krieg als Kriegsgefangenenlager, danach als Flüchtlinglager, gegen Ende der roten Diktatur gab es Pläne zur Internierung von Gegnern der SED - zwischendurch war die Burg immer wieder Jugendgerberge, mal für Hitlerjugend dann für die FDJ. Mitte der 90er Jahre betrieb ein Verein der "Naturfreunde Internationale" die Herberge - laut Wikipedia ist das eine NGO, die dem "demokratischen Sozialismus" verpflichtet ist. Daher wohl auch das gleiche Handschlag-Symbol, wie man es aus dem SED-Banner kennt? Wie dem auch sei, seit 2018 ist die Herberge insolvent und die Stadt Hohnstein bemüht sich den Betrieb zu erhalten. Das Personal ist freundlich, die Übernachtunng preisgünstig - und das Frühstücksbüffet im großen Rittersaal lässt keine Wünsche offen.
Heute geht es auf und ab, überwiegend jedoch aufwärts - zunächst Richtung Sebnitz, dann immer bergan bis nach Saupsdorf. Das Himmelsblau ist von Kondensstreifen zerschnitten - irgendein Flugzeug ist immer zu sehen. Osterurlaub auf Mallorca? Alle fliegen nach Malle... Die Politiker diskutieren über eine CO2-Steuer, wie sie in der Schweiz bereits seit 20 Jahren erhoben werde, angeblich um das Klima zu retten... Als würde auch nur ein Fliegender auf einen Flug verzichten, weil der dann
zwei Sangrias mehr kosten würde.
Typisch für die Dörfer dieser Gegend ist die Häufung der sogenannten Umgebinde-Häuser.
Auf einer Bergkuppe zwischen Saupsdorf und Hinterhermsdorf ist eine gelbe Baracke zu erkennen. Nach einer Serpentine erreiche ich das Anwesen, das sich unter dem Namen „Kräuterbaude“ als Restaurant und Pension ausgibt. Ich höre nur tschechisch sprechendes Personal, sehe nur tschechische Autokennzeichen, bin aber noch in deutschen Landen. Im Restaurantgarten spannt ein Mann Sonnenschirme auf, ignoriert mich aber. Der abgelegenen, ruhige Ort käme für mich als Übernachtungsmöglichkeit für spätere Fahrten infrage - ich erkundige mich nach Zimmern, erhalte aber nur mürrische Antworten: Es gäbe keine Einzelzimmer. Und was ist mit den Doppelzimmern? t - "Neue Preise"… - Da ich es gern etwas genauer gewusst hätte, begibt sich der Mann übel gelaunt ins Haus und erkundigt sich. Als er zurückkommt, kann ich nur staunen: "60 Euro - oder so". Alles klar - die Zeitreise in die gastronomischen Abgründe der DDR, garniert mit unfreundlichem tschechischen Personal, ist sicher gratis dazu... Nichts wie fort von hier!
Ich radle durch Hinterhermsdorf, wo sich die Parkplätze füllen. Das Wandervolk öffnet die Heckklappen der Autos und tauscht die Stadtschuhe gegen die Wanderschuhe ein. Wanderkarten werden diskutiert, Kinder fechten mit den Nordic-Walk-Stöcken ihrer Eltern, die das nicht gut finden, Hunde bellen - die ganze Hektik der Stadt wird in bunten Rucksäcken mitgeschleppt. Und weil alle mit allen schnattern und sich über die gesamte Straße ausbreiten, muss ich von meiner Klingel Gebrauch machen. Aber selbst die wird kaum wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt liegen die ersten 25 Kilometer hinter mir - der Frühtau zu Berge ist längst verdampft, fallera.
Von Hinterhermsdorf geht es abwärts ins böhmische Khaatal - bisher kenne ich den Weg nur in umgekehrter Richtung. Nach der grünen Grenze steigt der Waldweg entlang der Kirnitzsch gemächlich an. Tschechische Radler und deutsche Wandergruppen kommen mir entgegen. Aus einer der Gruppen ruft jemand meinen Namen - eine ehemalige Schülerin, die vor etwa 10 Jahren regelmäßig zum Unterricht kam. Gleich bemerkt sie, dass mich auch auf meinen Radreisen ein verdächtig nach Ukulele aussehendes Gepäckstück begleitet. Sie will demnächst, sagt sie, auch wieder mehr die Saiten zupfen.
Passend zur Mittagszeit erreiche ich den Biergarten in Kyjov - traditionsgemäß bestelle ich mir mein böhmisches Gedeck: Gulasch mit Knödeln und ein Pilsner Urquell. Die dabei einverleibten Kalorien sollten bis hinauf nach Krasna Lipa (Schönlinde) wieder verdampft sein - das ist wenigstens der fromme Wunsch des Wandervolkes.
Ein paar Tschechen setzen sich zu mir an den Tisch, sie trinken ein grünliches Gebräu, das eher an Waldmeister-Limonade erinnert. "Echte Bier" versichert mir die Tschechin, die meinen skeptischen Blick bemerkt hat.
Auch nach der Querung des Schluckenauer Zipfels (nördlichstes Nordböhmen) gibt es noch einige leichte Anstiege - mein Quartier befindet sich im Zittauer Gebirge, in Jonsdorf. Gleich nach meiner Ankunft erklärt mir die Wirtin den Weg durch ihr Grundstück und durch den Wald hinauf zum Hieronymus-Stein, wo sich zum Karfreitag um 5 traditionell ein Posaunen-Ensemble trifft. Eigentlich wollte sie selbst dorthin, doch jetzt ist es der alten Dame doch zu viel.
Nur Trampelpfade kreuzen sich in diesem Wald - Hänsel und Gretel hätten sich hier verlaufen. Erst vor einem Monat, in der Dresdner Heide, bekam ich eine Ahnung, wie leicht es ist, die Orientierung zu verlieren, sobald es dunkel wird - wenn gefallene Bäume die vertrauten Wege versperren, kann der Wald zum Labyrinth werden. Für alle Fälle fotografiere ich markante Stellen, um mit Hilfe der Bilder den Rückweg finden zu können.
Als ich am Hieronymus-Stein eintreffe, bin ich noch allein, aber gegen 5 füllt sich der kleine Felsen rasch mit Publikum. Ich steige die Treppen auf den etwa 10 Meter hohen Fels hinauf, von wo man ins Jonsdorfer Tal und auf den Oybin blicken kann. Erst höre ich das Pfeifen der historischen Oybin-Bahn, dann finden auch meine Augen den Zug, der gegenüber am Hang entlangfschnauft.
Die Bläser trudeln einer nach dem anderen ein, Dirigentin ist eine junge Frau, die mich mit ihren kurzen Haaren und der souveränen Art ihres Auftritts etwas an eine Politikerin erinnert, um die es nach den letzten Bundestagswahlen ruhiger wurde. Über ein Dutzend Bläser sind schließlich versammelt. Ich weiche von meinem Sitz auf einem Stein, um den Musikern Platz zu machen, doch dann folgen sie auf die andere Seite und ich bin erneut von ihnen umringt. Eine ältere Frau grüßt mich mit Handschlag, denkt vermutlich, dass ich dazugehöre - und andere Musiker folgen ihrem Beispiel. Ich ziehe nochmals um. Als die Dirgentin den Takt vorgibt, wird mir klar, wie unabkömmlich sie ist - immer wieder wartet sie gelassen, bis jeder seine Noten umgeblättert hat, die Klammern an den Notenständer gesteckt hat. Der halbstündige Auftritt hat eher den Charkter einer öffentlichen Probe, vielleicht kommt der erste Applaus deshalb erst nach dem vierten Lied - die musikalischen Themen sind dem Karfreitag gewidmet.
Statt die Trampelpfade zurückzugehen, folge ich einem mit Anleitungen zu gymnastischen Übungen beschilderten Weg. Ich versuche mich an einer der abgebildeten Übungen. Doch als die Besucher des Waldkonzertes nachkommen, breche ich die Übung lieber ab - ich glaube, ich wirke nicht glaubwürdig...
Ich sitze noch ein Weilchen in der Abendsonne, die meinen Schatten an die Wand wirft. Vor langer Zeit muss jemand hier seine Latzjeans mit Blumenerde gefüllt haben - jedenfalls wachsen jetzt Rosen aus der Hose.
Das Grün ist etwas hinterher in diesen Bergen, die Zweige sind noch kahl. Im Tal der Ahnungslosen hat der Wind die Blütenpracht der Magnolie schon vor zwei Wochen hinweggefegt - hier aber, in den Bergen, hat das Blütenfest gerade erst begonnen. Blaues, Rotes, Weißes lugt überall ganz frisch hervor - und jedes Blümlein hält sich für das schönste.
Gewissermaßen und beziehungsweise
Ist alles, was wir schwatzen, gleich den Blumen
Sie welken still am Busen unsrer Muhmen
Doch weiter geht des Lebens hastige Reise
Samstag - im Frühtau zu Berge. Ich starte in Jonsdorf südwärts den Berg hinauf, radle ostwärts durch den Wald und talwärts ins Städtchen Oybin. Ich hoffe, hier ein Frühstück bekommen zu können. Doch der Kurort erwacht gerade erst und will sich wohl nochmal auf die andere Seite umdrehen. Ein Imbissstand ist zwar geöffnet, aber niemand kommt zum Tresen - das kommt mir bekannt vor, also lautet das Motto wieder einmal: Nicht aufregen, sondern ein Stück weiter bewegen. Die Hauptstraße von Oybin ist eine Baustelle, doch an diesem Oster-Wochenende stehen alle Räder still, fast alle - die Räder der historischen Schmalspurbahn werden gleich rollen.
Am alten Bahnhof sammeln sich bereits die Fahrgäste, Einheimische wie Touristen. Ich will nur mit den Augen kurz ins Jahrhundert der Dampfmaschine abtauchen, doch an einer Kreuzung vor dem Bahnhof steht mir eine Busladung Rentner im Weg. Einige alte Männer bemerken mich in meinem fahrbaren Liegestuhl, ihre Blicke verraten, dass sie sich auch für dampflose Fahrzeuge wie meine dreirädrige Sänfte begeistern können. Die alten Frauen sind eher in ihre Gespräche vertieft - und ich will sie nicht mit meiner Klingel erschrecken. Aber die Tatsache, dass ich hinter ihnen einfach warte, bis sie mich von selbst bemerken, scheint sie noch mehr zu erschrecken - eine nach der anderen.
Geführte Gruppen haben etwas von einer Herde Kühe, die auf der Weide grast und alle Zeit der Welt in sich einsammelt. Doch wehe, es gibt auch nur die geringste Abweichung vom Trott. Schreckt nur eine Kuh auf und weicht einen Meter zur Seite aus, folgt ihr die ganze Herde - es muss ja einen Grund geben, wird ihnen die Intuition sagen, wenn eine von uns aus der Reihe tanzt. Ähnlich reagieren Fischschwärme. Dass auch Menschen im Verlaufe ihrer Konditonierung diesen Drang zur Wir-Identität entwickeln, ist allseits bekannt. Soziologen nennen das Phänomen diplomatisch Gruppendynamik - für den auslösenden Impuls hat sich das schöne Wörtchen Schwarmintelligenz breitgemacht. Wie dem auch sei, das Resultat ist nicht in jedem Fall eine Durchfahrgasse für mich.
Langsam füllt sich der Ort mit Leben, vor allem aber mit weiteren Reisegruppen. Wegen der gesperrten Straßen und blockierten Kreuzungen ist auch meine Reiseleiterin, Frau Komoot, der Verzweiflung nahe: Die Tour wird neu berechnet, sagt sie wiede rund wieder. Ertsmal raus aus dem Kaff - am südlichen Ortsausgang grüße ich einen jungen Radler, der sich am Straßenrand ausruht. Prompt erwidert er meinen Gruß mit einem Kommentar zu meiner Sänfte - das sähe entspannt aus. Sieht nicht nur so aus, rufe ich zurück.
Kurz vor der 17-prozentigen Steigung der Kammstraße holt mich der Jüngling ein, erzählt mir, dass er sonst selten Gelegenheit zum Radeln habe, da er auf einer Pferde-Ranch arbeite und Pferde sich nicht an Wochenenden und Feiertage hielten. Er stammt aus der Gegend, kennt sich aus, will quer durch den Wald. Das versuche ich auch, aber sein Weg eignet sich nicht für mein dreirädriges Fahrgestell. Auch mein alternativ gewählter Weg wir nach einer Weile ungeeignet, sodass ich umkehren und doch die Kammstraße nehmen muss, die bis an die tschechische Grenze führt und dort inach einer 90-Grad-Kurve ostwärts führt.
An einer Wiese auf dem Gebirgskamm kann der Blick in die böhmischen Berge ausschweifen, hinüber zum höchsten Gipfel, dem Jeschken mit seinem markanten Funk- und Aussichtsturm. Ich tue es den beiden Rentnerpärchen gleich, die auf den benachbarten Bänken sitzen, und genieße die warme Morgensonne beim Blick in die sich weit öffnende Landschaft.
Bei den sieben Zwergen hinterr den sieben Bergen hat sich zwischen Feldern und Wäldern das Dörfchen Lückendorf versteckt, eins der letzten Märchenhäuschen am Wege liegt bereits im Wald - das wäre ganz nach meinem Geschmack: eine behagliche Einsiedelei mit einem kleinen Garten, groß genug für lauschige Sommerabende ferab des Lärms der modernen Welt.
Während der langen Abfahrt bis Eichengraben will ich einmal wissen, wie sich so ein rollender Liegestuhl anfühlt, wenn die Straße mit über 50 Sachen unter dem eigenen Hintern durchsaust. Es ist vielleicht vergleichbar einer Schlittenfahrt am steilen Hang, nur dass man beim Sturz statt auf weichen Schnees auf dem harten Asphalt landen würde - ich riskiere einen letzten Blick aufs Tachometer - bei 58 km/h bremse ich mal lieber ab... Ein Wildschwein könnte die Straße queren - und auch Scheibenbremsen können versagen. Eine kleine Unaufmerksamkeit oder ein Schlagloch könnten mir zum Verhängnis werden.
Ich mache einen Abstecher nach Bertsdorf - und zum Breitenberg, wo es, laut Beschilderung, eine bewirtschaftete Baude geben sollte. Doch der Waldweg wird zu steil und unwegsam - ich versuche das letzte Stück zu ziehen, aber auch das ist zu schwer, also gebe ich auf.
Gegen zwei erreiche Großschönau, wo ich am Ufer der Mandau entlangradle. Die zahlreichen Umgebindehäuser geben dem dörflichen Kern der kleinen Stadt einen besonderen Reiz - vor einem halben Jahr, als ich bei meiner Herbstradelei hier entlang fuhr, beschloss ich, diese betonfreie Oase wiederzubesuchen. Und schon bin ich hier. Beim Heimatmuseum gibt es einen Biergarten, wo ich ein spätes Mittagessen bekomme, eigentlich ein Brunch, denn ich hatte heute nur und eine Banane zum Frühstück. Die beiden Kellnerinnen sind nicht die aufmerksamsten ihrer Gilde, sie sprechen mit tschechischen oder polnischen Akzent - mein Magen knurrt mit sächsischen Akzent. Das hören sie wohl und bedienen mich dann abwechselnd.
Zurück in Jonsdorf entdecke ich eine "Kaufhalle" - Ostalgie im östlichsten Osten der Republik? Fakt ist, dass längst alles geschlossen ist - ich vergaß, dass ich auf dem Lande bin. Im 1-km-Umkreis meines Wohnortes in Dresden hätte ich jetzt bis 20 Uhr noch die Auswahl zwischen Aldi, Lidl, Netto, Norma, Edeka, Rewe und Konsum... Doch selbst wenn geöffnet ist, kann manch verwöhnter Stadtbewohner hier noch die Erfindung der Langsamkeit entdecken.*
Im Grunde ist es doch die Ruhe des Landes, die ich bei meinen Radeleien besonders schätze und letztlich auch suche - dazu gehört auch die Langsamkeit, der Genuss der Zeit, das Bemerken und Betrachten der Dinge. Ich werde nie die Antwort eines jugendlichen Schülers vergessen, der eine weite Anreise zu mir hatte und dabei doch, ganz im Gegensatz zum Trend, auf sein digitales Spielzeug verzichtete - er sagte: In der Zeit kann ich nachdenken...
Ich denke auch gern nach, manchmal aber auch etwas voraus - zum Beispiel beschäftigt mich die Frage, wo ich fürs morgige Frühstück wenigstens ein Brötchen bekomme, damit ich am Sonntag nicht mit knurrendem Magen in die Pedalen treten muss. Auf einer Bank sitzt eine junge Frau, die ich nach alternativen zur geschlossenen Kaufhalle frage. Da würde ich wohl, antwortet sie, im Umkreis von 10 Kilometern heute kein Glück mehr haben. Und sie fände es, ehrlich gesagt, auch beschämend, dass in einem Kurort dieser Bedeutung sogar eine Einrichtung wie das Touristenbüro nicht auf den Gedanken komme, Touristen könnten mitunter gerade an Wochenenden und Feiertagen in den Kurorte des Zittauer Gebirges verweilen - alles geschlossen. Als Betreiberin der Gaststätte nebenan könne sie mir aber, falls mir das weiterhelfe, eine Flasche Bier verkaufen.
Klar, ein Bier ist besser als gar nichts zu essen - und zwei sind schon ein kleines Abendbrot. Wir gehen zusammen in das Lokal, sie öffnet das Kühlfach am Tresen und sichert mit zwei Minniflaschen Radeberger mein Überleben. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft entdecke ich aber noch das Café im Kurpark Jonsdorf, ich zu vorgerückter Stunde dinnieren könnte - noch bin ich ja vom späten Brunch satt. Ich setze mich an eine der Biertischgarnituren vor dem Betonklotz, die Kellnerin kommt und bittet mich, an einem der eingedeckten, d.h. mit Speisekarte und Aschenbecher ausgestatteten Tische platzzunehmen. Eigentlich wollte ich etwas Abstand zu den Rauchern und auch zu den Gesprächen anderer Gäste halte. Doch ich füge mich den Anordnungen des jungen Personals - und lasse mich platzieren.
Darf es schon was zu trinken sein? - Ja, darf es. Gegen fünf leert sich der Garten - Stühle und Tische werden aufgeräumt, angeschlossen, Sonnenschirme eingeklappt. Die Bürgersteige werden noch nicht hochgeklappt, aber die "Partylocation" scheint zu schließen - Saturday night in downtow Jonsdorf... Ruhe für ruhebedürftige Senioren - mir soll es recht sein. Na, ganz ruhig ist es nicht, das eine oder andere Motorrad heult noch durchs Tal.
Zurück im Quartier setze ich mich noch etwas mit der Ukulele in den Garten - Pferdesättel und ein Schleifstein dekorieren den „Longhorn Saloon“, der mich zu einem Musikvideo inspiriert... Als die Wirtin von ihrem familiären Ausflug heimkehrt, zeigt sie mir auch das Innere des "Longhorn Saloon": Flügeltüre, Bänke und Tische aus dunklem Holz, ein Foto von Robert Redford. Wer hätte gedacht, dass es im östlichsten Zipfel Deutschlands so wild-westliche Nischen gibt.
Der vor 10 Jahren verstorbene Mann war wohl ein Western-Fan. Als Eisenbahner bei der historischen Oybin-Bahn bekam er ausgediente Bahnschwellen und hat diese im Garten verbaut. Die Arbeit in Haus und Garten allein zu bewältigen, ist schwer, erzählt mir die Witwe, als wir auf der Bank vor dem "Longhorn Saloon" sitzen. Ich singe und pfeife „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün“ - die erste Strophe kann die 75-jährige mitsingen.
Im gemütlichen Gästezimmer liegt ein Bildband über ein kleines Mädchen aus Frankreich, das in Afrika aufwuchs und dort mit Elefanten spielte, als seien die mächtigen Dickhäuter die normalsten Spielgefährten für ein Kind von sieben Jahren. Statt Plüschtieren streichelt die kleine Tippi Tiger- und Löwenbabys. Niedlich. Warum nicht, solange die Löwenmutti keine Einwände hat und sich auch sonst vegan ernährt. Selbst Chamäleons, sogar Schlangen zählen zu den tierischen "Freunden" des Mädchens - beeindruckende Bilder. Die bewusst naiv formulierten Kommentare illustrieren das Nachdenken des Kindes über sein Leben in Afrika - im Kontrast zu seiner französischen Heimat. Bilder sind manchmal einfach zu schön, um wahr zu sein... Zur Urwelt führt kein Weg zurück, heißt es im ersten Vers eines Hesse-Gedichtes.
Es ist nicht Baum
Noch Fluss, noch Tier
Dem Herzen zu erreichen
Trost wird im Herzen dir
Allein bei deinesgleichen
4. Etappe
Jonsdorf > Jablonne (Gabel) > Doksy (Hirschberg)
Nach wenigen Kilometern habe ich die Grenze zur Tschechei passiert - auch hier gibt es die typischen Umgebindehäuse, manche sind hier etwas bunter. Nach dem Gebirgskamm rolle ich überiwiegend talwärts. Halb zehn erreiche ich Jablonné v Podještědí (Gabel). Weil die Hauptstraße des Städtchens eine Baustelle ist, dauert es eine Weile, bis ich eine Stelle finde, wo ich sie queren kann.
Die Kuppel der Basilika überragt alle anderen Dächer. Ich schließe ich meine Sänfte an und werfe einen Blick ins Innere der Kirche, die sich gegen 10 Uhr mit Publikum füllt, da gleich der Gottesdienst beginnt. Die ersten Orgelklänge will ich noch hören, dann überlasse ich die Kirche den Gläubigen - als „Basilika minor“ ist die Kirche ein päpstlich geweihter Wallfahrtsort, - in den Sommermonaten zieht der Ort Scharen von Pilgern an.
In einer Gruppe Bäume versteckt sich eine kleine Kapelle. Und auf einem der höchsten Vulkankegel thront Burg Bösig. Da es bis an den Hirschberger See fast nur talwärts ging, bin ich bereits mittags nahe dem Städtchen Doksy, wo ich eine Unterkunft gebucht habe.
Ich beschließe daher, bevor ich mein Hotel in Doksy aufsuche den Machovo Jezero zu umrunden, der nach dem tschechischen Nationaldichter Karel Hynek Mácha benannt ist - sein Name ist mir auf meinen Radeleien durch Nordböhmen schon oft begegnet. Das nördliche Ufer des Sees ist bewaldet. Beim Yachthaven von Thammühl säumen prächtige alte, aber auch moderne Villen das Ufer. Ich radle den Uferweg entlang durch ein Strandbad, das an diesem Ostersonntag bereits gut besucht ist.
Am Strand grabe ich meine Füße in den warmen Sand - es fühlt sich schon hochsommerlich an, dabei ist es erst Mitte April... Das vermutlich größte Problem unserer Zeit sei nicht der Klimawandel, sondern der Lebenswandel der Menschen... Mit diesem Satz wird ein Autor namens Sinan Gönül
auf einer Aphorismen-Webseite zitiert - das hört sich weise an. Aber wer wandelt schon gern seinen Lebenswandel?
Die in den 90ern restaurierte historische Altstadt von Doksy wird von einer großen Marien-Statue bewacht. Nur vereinzelte sind noch Fußgänger anzutreffen, auch die auf den Wiesen des gepflegten Marktplatzes spielenden Kinder werden eins nach dem anderen heimgerufen - das alte Zentrum des Städtchen hat eher dörfliches Flair.
Dass so weit entfernt der deutschen Grenze ein Geschäfte mit den Worten "Bekleidungen und Schuhe" um Kundschaft wirbt, erstaunt mich etwas.Im Tante-Emma-Lädchen nebenan gebe ich der Verkäuferin das Geld für eine Flasche Wein, souverän zieht sie ihr T-Shirt über die rechte Brust und beginnt ihr Baby zu stillen.
Ich stille meinen Durst auf einer der Bänke des Marktplatzes und genieße die Ruhe des Abends.
Zurück im Hotel kann ich der Fernbedienung des Fernsehgerätes nicht widerstehen. Beim Zappen durch die Programme bleibe ich bei einem Italo-Western mit Bud Spencer und Terence Hill hängen - die minutenlangen Schlägereien wiederholen sich nach komischen, nichtsdestoweniger "schlagfertigen" Dialogen. Die berühmt-berüchtigten Kopfnüsse von Bud Spencer, den selbst kein Faustschlag taumeln lässt, sind eigentlich jeder für sich Kandidaten für eine lupenreine Gehirnerschütterung - im Kinofilm stehen die Geschlagenen auf und kloppen sich weiter. Gewalt und Verrohung auf allen Bühnen. Ich versuche etwas Geistreicheres zu finden und zappe durch die Programme. In einer Nachrichtensendung wir über einen islamistischen Terroranschlag in der Hauptstadt von Sri Lanka berichtet - nach bisherigen Zählungen hat es etwa 250 Todesopfer gegeben, viele Kinder darunter. Kirchen und Luxus-Hotels waren das Bombenziel der Selbstmordattentäter. Die Terrormeldungen sind so alltäglich geworden, dass man sich daran gewöhnt. Nur wenn die Einschläge näher kommen, wenn es in den Metropolen des Abendlandes knallt, fragt man sich noch, warum die Welt immer brutaler wird...
In uns innen der Geist allein
Mag unbewegt schauen das Spiel
Ohne Spott, ohne Schmerz.
Ihm sind "vergänglich" und "ewig"
Gleich viel, gleich wenig
Ostermontag. Um die kleine Stadt auf ruhigen Wegen zu verlassen, radle ich wieder ein Stück am Ufer des Macha-See entlang, dann aber dirigiert mich Frau Komoot zehn Kilometer über eine Fernverkehrstraße - zum Glück ist sie nicht, oder noch nicht, zu stark befahren. Vor Böhmisch Leipa geht es wieder querfeldein über Landstraßen - nach einer Steigung komme ich durch das beschauliche Bergdorf Bořetín, dann geht es talwärts am Polzen entlang, einem Flüsschen, das in Tetschen in die Elbe mündet.
In südlicher Richtung prägen die nordböhmischen Vulkankegel die Landschaft.
Alles duftet und blüht - Hermann Hesse sieht in jedem Blühen schon das Welken: Es muss die ganze Blütenlust im nächsten Wind verwehen. Ja, so ist das wohl. Aber jetzt ist die Blütenlust hier vor meine Nase - und mag sie auch für andere Nasen als die meine bestimmt sein, riechen kostet nichts.
Die Hauptstraße im Dörfchen Františkov am Flüsschen Polzen (Ploučnicí) ist teils von verfallenen Fabrikruinen gesäumt, doch auch ein renoviertes Gebäude, dessen Eingang der Schriftzug "Bikerhouse Walhalla" ziert, scheint wieder dem Verfall geweiht zu sein. Die gleichzeitig anglophilen wie deutschtümelnden Bezüge von Möchtegernrittern passen nicht richtig zusammen. Mir solle es recht sein, dass mich hier keine Motorradrudel mit Abgasen einnebeln.
Das Rad eines Autos als Gedenkstätte am Rand böhmischer Straßen ist keine Seltenheit, die abgebrochene Gitarre hingegen deutet auf ein abrupt beendetes Musikerleben. Ich lese fast immer die Inschriften solcher Unfallstätten: Im Alter von 43 Jahren hat es den einstigen Besitzer des Autoreifens aus dem Leben gerissen, der Eigentümer der Gitarre kam schon mit 31 ums Leben. Ein Moment der Unachtsamkeit, sei es die eigene oder die von anderen, und das Leben ist vorbei...
Bei Tetschen mündet der Polzen in die Elbe, die ich auf der stark befahrenen Brücke im Stadtzentrum quere. Ob es eine gute Idee war, statt bequem an der Elbe entlang heimwärts zu radeln ein Quartier am Deciner Schneeberg einzuplanen, wird sich gleich zeigen.
Gesamtprofil der geplanten Strecke (230 km), die hohe Steigung rechts ist der Deciner Schneeberg
Die eigentlich Herausforderung des Tages und der gesamten Reise ist der Schneeberg, ein Anstieg von 120 auf 600 ü.M. - mit Steigungsabschnitten um die 20 % - liegt vor mir. Ich habe viel Zeit für diese zehn Kilometer eingeplant: zwei, falls nötig drei Stunden. Ich will weder meinem Zweibeinmotor noch den GoSwissDrive überfordern - mit beidem habe ich einige Erfahrung. Eine junge Radlerin zieht während einer meiner Pausen an mir vorbei - mit Minimalgepäck, nur eine Seitentasche - daher nehme ich an, dass sie keine Reiseradlerin, sondern eine Einheimische ist.
Doch ich treffe die Radlerin später als Gast im Garten meiner Unterkunft. Zu ihrer Verblüffung bin ich vor ihr dort angekommen, obgleich ich sie nicht wieder überholt habe... Des Rätsels Lösung: Sie fuhr einen großen Umweg auf der Straße, während mich Frau Komoot auf dem kürzestem Weg durch den Wald schickte. Die Radlerin aus Leipzig nutzt zwar, wie wir später feststellen, die gleiche Navigationsapp wie ich, aber offensichtlich anders - ohne Ansagen von Frau Komoot.
Die Herberge wird von einem Yogi namens Yaroslav geführt, das esoterische Ambiente ist mit Liebe fürs Detail hergerichtet.
Ich unterhalte mich noch ein Weilchen mit Yaroslav. Seine Inspirationen für den fernöstlich gestimmten Lebenswandel habe er bei Reisen in Thailand und Laos bekommen - damals habe es in Laos noch kaum Straßen gegegeben. Dann zeigt mir Yaroslav den Weg zum Gipfel des Sneznik, den ich von hier, vom gleichnamigen Dorf an der südlichen Seite des Berges, noch nicht kenne. Der Weg ist teils sehr steinig, jeder Schritt braucht Achtsamkeit.
Auf dem Plateau des Tafelberges fängt das Grünen erst an, die meisten Bäume, überwiegend Birken, sind noch kahl. Wie oft ich den letzten 20 Jahren am alten Aussichtsturm war und, ein Stück weiter, von der Terrasse des Restaurantes in die weite Berglandschaft blickte, habe ich nicht gezählt, zwei- oder dreimal im Jahr gewiss, zu jeder Jahreszeit. Etwa 600 Meter tiefer im Tal windet sich die Elbe durch Tetschen-Bodenbach - der steile Anstige von da unten wird mir hier oben nochmals deutlich.
Beim Abstieg vom Schneeberg kommt mir die junge Frau aus dem Gästehaus entgegen, ich empfehle ihr fürs Abendbrot meine eigenen Wahl, die Lachsforelle. Dann fällt mir ein, dass sie im Gästehaus erwähnte, nur 200 Kronen als Tagesbudegt zu haben - das wird dann wohl nicht ganz reichen. Zurück im Garten des Gästehaus verbringe ich noch etwas Zeit mit meiner Ukulele im Garten. Doch es wird sehr kühl und deshalb ziehe ich bald die gemütliche Küchenstube vor.
Eine Kalimba, diverse Klangschalen und andere Kleininstrumente liegen auf einem Tischlein, auch eine Mahala-Ukulele - ein Kind versucht sich daran. Deshalb stimme ich ihm die vier Saiten - und stelle gelassen fest, dass man es bei diesem wohlgemeinten Versuch auch belassen kann. 160 Euro habe er dafür bezahlt, sagt Yaroslav. Da hat Sie aber jemand über den Tisch gezogen, muss ich ihm sagen. Ich zeige ihm meine Brüko und zupfe ein paar Saiten, um den Unterschied zu demonstrieren. Doch das unstille Stillleben ist für Jaroslav vor allem Dekoration. Dem Digeridu, das an die Wand gelehnt steht, kann er dennoch ein langes Brummen entlocken.
Kurz vor der Dunkelheit kommt die Radlerin von ihrer Wanderung zurück, bestätigt, dass meine Empfehlung gut war. Wir unterhalten uns noch ein Weilchen, dann geht sie auf ihr Zimmer. Mein „Tea Room“ genanntes Zimmerchen ist hingegen zu klein, um sich darin länger als zum Schlafen aufzuhalten - zwischen Bettmatratze und einem kleinen Kochboard ist nur ein Meter - kein Stuhl, kein Tisch. Ich verweile also in der gemütlichen Küchenstube, stelle die esoterische Dauerberieselung vom mp3-Player aus - und lese ein paar Hesse-Verse.
Nun ist das ganze Land erwacht
Der Frühling ruft
Bleib still, bleib still, mein Herz!
Ob auch im Blute eng und schwer
Die Leidenschaft sich rührt
Und dich die alten Wege führt
Nicht jugendwärts gehn deine Wege mehr
6. Etappe
Schneeberg > Rosenthal > Pirna > Laubegast
Yaroslav hat den langen Tisch in der Küchenstube sehr geschmackvoll gedeckt - gläserne Teekannen mit verschiedenen Sorten Tee, selbstgemacht Kefir. Ich staune, dass es ein Dutzend Frühstücksgäste gibt, da ich doch am Vorabend keine weiteren Gäste bemerkte. Für einen etwa 10-jährigen Jungen, der mit der Mahala "spielt", gebe ich mir dann doch noch einen Ruck, stimme die Uke nach - und zeige ihm den ersten, einfachsten Akkordgriff. Doch ein halbwegs erträglicher Klang beendet das Interesse des Jungen - und es gibt ja noch so viel anderes zu entdecken. Yaroslav führt das Digeridu und den Regenmacher vor, erwähnt, er habe (neben der Jeder-darf-mal-darauf-schrammeln-Klampfe) auch eine gute Gitarre... Da binich aber gespannt.... Die Radlerin packt die Wertengitarre aus, kann aber ohne Tuner nicht stimmen. Ich springe wieder ein, stimme die Stahlsaiten - ja, diese Gitarre kann sich hören lassen. Und Agneta, die Radlerin, zupft einen Klassiker: Dust in the Wind. Sehr schön.
Beim Abschied erklärt mir Yaroslav noch den bunten Wedel im Regenschirmständer - ich sah gestern, am Ostermontag, etliche Herren der Schöpfung mit dergleichen Utensilien spazieren gehen. Die peitschähnlichen Wedel sind, dem alten böhmischen Brauche nach, gewiss eher den Junggesellen vorbehalten, die damit Junggesellinnen auf den Allerwertesten wedeln dürfen. Yaroslav demonstriert diese österliche Sympathiebekundung für Gesäße heiratsfähiger Personen andeutungsweise in der Nähe des Allerwertesten von Agneta, der Radlerin. Die kesse Neckerei muss allerdings vor Mitternacht erfolgen, denn wer den Spaß dann noch fortzusetzen beliebt - was gewiss lustig und mithin üblich sein dürfte - muss mit mit einem Kübel Wasser als Revanche rechnen, so will es der Brauch.
Am liebsten würde ich etwas mitwedeln - oder wenigstens demonstrieren, wie ich die Herzen der stolzesten Fraun mit meiner Ukulele brechen könnte. Doch ich bleibe artig und will mich auch aus einem anderen vernünftigen Grund nicht länger aufhalten - die Wetter-App hat nämlich stürmische Stunden angemeldet.
Wieder in heimatlichen Gefilden - die Tafelberge des Elbsandsteingebirges lasse ich hinter mir und rolle nur noch talwärts - ins Tal der Ahnungslosen...
Warum hat der Hase eigentlich Hosen an und macht Männchen. Für wen versteckt er die Eier im Gras? Wieso sind die Eier aus Schokolade? Was bedeutet der mit bunten Plastikeiern verzierte Bogen aus Plastikzweigen? Was hat Ostern gleich noch mit Golgatha zu tun? Egal - man muss nicht alles verstehen.
Um die Bekanntschaft mit abbrechenden Ästen zu vermeiden, ändere ich meine Strecke - statt durch die Wälder im Grenzgebiet radle ich besser die Straße nach Rosenthal. Über Langenhennersdorf und Kuckuckstein gelange ich in ein Tal, durch das die Gottleuba plätschert.
Je näher ich der Stadt Pirna komme, desto mehr Wahlplakate verunstalten die Landschaft. Während meiner österlichen Heimatabwesenheit haben Genossen und Genossinnen die Reklame für diverse Kommunalwahlen begonnen - an jedem Lampenmast kleben die Phrasen der Parteien, lauter leere Versprechungen. Die Linken wollen mal wieder Geld umverteilen, es sei ja genug da... (Man muss es sich nur "holen"?)Die Piraten stilisieren sich zum Beschützer der digitalen Meere - zwar ohne Enterhaken und Machete, aber mit Piratenflagge. Fast alle Parteien haben das wonnige Wörtchen Heimat neuentdeckt... Soll das jetzt suggerieren, dass man sich für regionale Belange und Anliegen der "Schon-länger-hier-wohnenden" engagieren will? Darüber können die traditionellen Heimat-Rufer nur noch müde schmunzeln - Sachsenlad wählt Widerstand, poltert es von einem ihrer Plakate. An Autofahrern ziehen die Plakate im Sekundentakt vorbei, verkehrsbedingt eher ungelesen, das Fuß- und Pedaliervolk hingegen wird von diesen geistlosen Parolen alle paar Meter angebrüllt. Ich muss lernen, daran vorbeizuschauen - so tun, als existierte der Propaganda-Müll gar nicht.
In Prina drehe ich gern eine Runde durch die Altstadt - wer die Pforte zur Sächsischen Schweiz noch aus Zeiten des "Sozialismus ín den Farben der DDR" kennt, also im Grau-in- Grau des Verfalls, kommt heute gern durch die Gassen und zum Marktplatz und mag vielleicht in einem der Straßencafé sitzen und auf die alten Gemäuer und Giebel schauen.
Ich liebäugle mit zwei Kugeln Waffeleis - halte aber inne: 1,30 Euro je Kugel?! Die Verkäuferin plaudert mit einer Oma, die Stammgast zu sein scheint, dann wischt sie ihre Sitzbänke und das Zäunchen ringsherum ab, bemerkt sodann meine Sänfte, mault etwas herum, als stünde ihr was im Wege. Ich erinnere mich, im Vorjahr an gleicher Stelle das gleiche Maulen gehört zu haben. Wäre ihr ein parkender LKW lieber als ein Fahrrad? Nicht aufregen, sondern etwas weiter bewegen... Anstatt für zwei Minuten gefrorenes Wasser mit Farbe und Zucker lecken, entscheide ich mich für eine Tasse Kaffee beim Bäcker gegenüber. Und mein Rad bleibt natürlich vor dem Zaun des Eisladens, bis ich weiterfahre.
Nach drei Jahren Sperrung ist endlich der Radweg zwischen Pirna und Heidenau wieder geöffnet - endlich geht es wieder am Elbufer entlang. Auch hier ist die Landschaft mit Plakaten verschandelt. Die Grünen versuchen ihren Stimmenfang mit einem Wortspiel: Rad fahren? Aber sicher! Von einem anderen Plakate lächelt das Konterfei eines Mannes, der seine Parolen sonst mit weißer Schrift auf schwarzem Grund durch die Stadt trägt und auch applaudiert, wo andere Weltverbesserer Geschäfte plündern oder ganze Stadtteile verwüsten.
Hundert Wahlplakate weiter bin ich wieder zuhause - in Ukulelestan. Heim kommt man nie, schrieb Hesse im Demian: Aber wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.
Zwar schreien mich auch vor meinem Fenster leere Phrasen von Wahlplakaten an, aber in meinen eigenen vier Wänden fällt es mir leicht, mich an das Motto der Waltersdorfer Mühle zu halten: „Es ist besser als sich aufzuregen, ein Stück Arbeit weiter zu bewegen.“